Kategorie: Yulis Tagebuch

  • Yulis Tagebuch, Folge 35

    Die Rückkehr von weiteren 13 Gefangenen

    Am 25. November, dem zweiten Tag eines Austausches von israelischen Geiseln gegen inhaftierte Palästinenser, verzögerte die Hamas die vereinbarte Freilassung von ihrer Geiseln bis kurz vor Mitternacht mit der Begründung, Israel habe gegen getroffene Vereinbarungen verstoßen und Drohnen im südlichen Gazastreifen eingesetzt. Weiter behauptete die Hamas, Israel hätte sich verpflichtet, Gefangene entsprechend der Dauer der Haft freizulassen und habe sich daran nicht gehalten. Israel seinerseits argumentierte, Anstrengungen zu unternehmen, um eine Freilassung entsprechend der Dienstzeit vorzunehmen – verpflichtet wäre die israelische Regierung aber nicht.

    Stopp, stopp …  bitte. Seit wann soll ein souveräner Staat einer Terror-Gruppe verpflichtet sein? Aha, Entschuldigung, es ist erst der Fall, wenn das Land „Israel“ heißt. Also, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass die Hamas offenbar die Psychologie der israelischen Gesellschaft versteht, und das ist nicht nur eine Aussage.

    Yahya Sinwar, der Anführer der Hamas im Gazastreifen, war zu fünf lebenslangen Haftstrafen im israelischen Gefängnis verurteilt worden. Er wurde allerdings im Zuge des Shalit-Deals nach 22 Jahren freigelassen. Diese Zeit hat ihm ausgereicht, um die hebräische Sprache zu lernen, und so auch Israelis kennenzulernen. Schließlich wirkt die Sprache wie ein Tunnel in die Seele, und er hat die Sprache sehr gut gelernt, und seit dem auch viele Tunnel gebaut!

    Im Jahr 2008 unterzog er sich außerdem in Israel einer Operation, bei der ein Gehirntumor entfernt wurde. Ja, wir haben ihm das Leben gerettet, um unseres 15 Jahre später bitter zu machen. Von daher ist er bereits mit der Politik Israels sehr gut vertraut, die in der Welt der Studenten renommierter Universitäten als grausam und tödlich angesehen wird. 

    Es ist 22.00 Uhr und ich saß in schrecklicher Anspannung vor dem Fernseher, ich denke an die Kinder und Mütter, die sich in den Händen maskierter bewaffneter Männer befinden, die zuvor Babys zu ihrem Vergnügen ermordet haben – Kleinkinder, die nicht verstehen konnten, was mit ihnen geschieht. 

    Nach mehreren Stunden Verzögerung und unbeschreiblichem Stress, als nur einige der Namen veröffentlicht wurden, kehrten acht Kinder, fünf Frauen und vier Ausländer nach Israel zurück.

    Eines der Mädchen ist die neun Jahre alte Emily Hand. Emily ist ein großer Fan von Beyoncé, sie selbst tanzt und singt gerne. Emilys Mutter starb vor einigen Jahren an Krebs, seitdem lebte sie mit ihrem Vater und ihrer Halbschwester zusammen. Es wurde wochenlang angenommen, dass die neunjährige Emily bei dem Angriff auf den Kibbuz Bari ermordet worden war. Doch später häuften sich die Anzeichen dafür, dass sie eventuell doch nicht ermordet, sondern nach Gaza entführt worden war. 

    Emily Hand

    Was war geschehen? Am Tag vor dem Hamas-Überfall am Freitagabend, übernachtete Emily bei ihrer Freundin Hila Rotem-Shoshani, am Samstag wurde sie zusammen mit ihr und der Mutter Raya Rotem entführt. Emily’s Vater Thomas versuchte, sofort nach Beginn des Alarms Kontakt mit Raya aufzunehmen, aber es war unmöglich.

    Als anfänglich vermutet wurde, dass Emily am 7. Oktober wohl ermordet worden sei, sagte ihr Vater in einem CNN-Interview, dass er, so schrecklich es auch klinge, erleichtert sei zu hören, dass seine Tochter ermordet worden sei und jetzt nicht von den Terroristen misshandelt werde. Aus israelischer Sicht war es verständlich. Denn es ist klar, dass es besser ist, zu sterben, als von Terroristen gefangen genommen zu werden, die Babys in heiße Öfen stecken und Kinder vergewaltigen. 

    Doch Ende Oktober erfuhr der Vater, dass Emily tatsächlich entführt worden war. Ihre Freilassung an diesem Tag war ein großes und aufregendes Licht für den Witwer, zu dem seine Tochter lebendig und auf zwei Beinen zurückkehrte. Emily kehrte im Rahmen dieses Übereinkommens mit ihrer Freundin Hila Rotem-Shoshani zurück. Hilas Mutter dagegen ist immer noch in Gefangenschaft. 

    Unter den zurückgekehrten Kindern waren auch der 17-jährige Noam Or und seine 13-jährige Schwester Alma, die am 7. Oktober Waisen geworden waren. Ihre Eltern wurden am 7. Oktober in ihrem Haus ermordet. 

    Willkommen Kinder. Und: Seid stark für uns, es ist noch nicht zu Ende.

    13 Freigelassene (Kredit) Kan News
  • Yulis Tagebuch, Folge 34

    Courage

    Ich möchte noch einmal auf den Monat November zurückkommen und auf die Freilassung von Entführten eingehen. Zuvor aber muß ich einer Soldatin einige Minuten widmen, die am 30. Oktober gefunden und gerettet wurde: Ori Megidish. 

    Ori diente als „Spotter“ auf dem Stützpunkt Nahal-Oz. Als die Schießerei am 7. Oktober begann, hat sie – gemeinsam mit 20 weiteren Soldatinnen – im Sicherheitsraum auf dem Stützpunkt Schutz gesucht. Die Terroristen warfen Granaten in diesen Unterschlupf. Von den Soldatinnen haben nur sieben, wenn auch verletzt, diese Attacke überlebt, darunter Noa Marciano, eine gute Freundin von Ori. 

    Ori wurde wie alle Überlebenden gefangen genommen. In Gaza wurde diese kleine Gruppe getrennt und Ori in das Flüchtlingslager Shatti unweit des Schifa-Krankenhauses gebracht. Dort ist sie in einer Wohnung, nicht in einem Tunnel, festgehalten worden. In dieser Wohnung wurde Ori zu einem Objekt bei einem Hamas-Anhänger, der sie einsperrte. Ich möchte auf die Spekulationen, die Gerüchte oder die Fake News, was ihren körperlichen Zustand und das, was sie in seinem Haus durchgemacht hat,  nicht eingehen. 

    Relativ glaubhaft bleibt indes, daß es Ori gelungen sei, mit dem Telefon ihres Bewachers anzurufen, während er schlief, denn so konnte festgestellt werden, wo sie sich befand. Verbürgen für diese Nachricht kann ich mich allerdings nicht, ich weiß es nicht hundertprozentig. Aber allein die Überraschung und die Freude in dieser Woche, dass es einer Soldatin gelungen war, sich selbst zu retten, gaben uns die Hoffnung, dass dies den anderen Entführten auch gelingen könnte. 

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    Ori Megidish: (Kredit) IDF Presseabteilung

    Aber so war es nicht. Nur kurz nach der Rettung Oris wurde bekannt, dass die Leiche von Noa Marciano, Ori’s Freundin, im Schifa-Krankenhaus gefunden wurde. Seither und bis heute ist es der IDF gelungen, lediglich sechs Entführte zu retten. Heute, acht Monate später, gibt es noch immer weitere 120 Entführte, von denen fast 40 bereits tot sein sollen. Aber ob sie tot oder lebendig sind, egal – sie alle sollen nach Hause zurückgebracht werden.

    Ähnlich wie Ori war auch Noa zunächst in einer Wohnung in der Nähe von Schifa eingesperrt worden. Während eines IDF-Angriffs in der Gegend wurde der Hamas-Terrorist, der sie festhielt, getötet. Auch Noa wurde verletzt. Es war aber keine lebensgefährliche Verletzung, wie aus ihren medizinischen Befunden hervorgeht. Doch brachten ihre Entführer sie jetzt in das Schifa-Krankenhaus und dort ist sie am 9. November von einem Arzt ermordet worden. 

    Noahs Leiche sowie die sterblichen Überreste der 65-jährigen Judith Weiss, die ebenfalls in Schifa gefunden wurde, brachte der IDF nach Israel zurück. Judith Weiss hatte drei Monate zuvor erfahren, dass sie Krebs habe und mit der Behandlung jetzt beginnen müsse. 

    Auch der Ehemann von Judith Weiss, Shmulik, wurde auch ermordet. Die Terroristen brannten sein Haus mit ihm nieder. Einen Monat nach der Beerdigung ihres Vaters erfuhren die Kinder, daß ihre Mutter ebenfalls ermordet worden war.

    Diese und viele ähnliche Nachrichten sind unsere täglichen Begleiter, sie prägen die allgemeine Stimmung. Gleichzeitig nehmen überall in der Welt der Hass und die Wut gegenüber Israel immer mehr zu. Scheinbar hat die Welt die Ermordeten des Nova-Festivals bereits vergessen. Und aus Israel ist schnell wieder der Angreifer geworden. 

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    Noam und Alma Or (IDF Presseabteilung)

    Inmitten dieses ganzen Wahnsinns versuchen wir, eine alltägliche Routine aufrechtzuerhalten. Ich bringe meinen Sohn jeden Tag – besorgt zwar, aber ich denke, es ist besser so für ihn – in den Kindergarten, nachmittags planen wir andere Aktivitäten. Währenddessen dröhnen in meinem Kopf Sirenen. Sirenen, die draußen nicht immer zu hören sind, 

    aber ich höre sie jederzeit, vor allem, wenn es zu still wird.

    Und an jedem Abends dieses Dilemma: Soll ich ihn in seinem Bett schlafen lassen oder in meinem Bett? Wie bekomme ich ihn im Alarmfall schnell aus dem Bett? Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir zusammen in einem Zimmer schlafen. Aber er möchte das nicht. Gern will er im Zimmer mit den Spielsachen schlafen, und da habe ich keinen Platz. 

    Also – ich wasche mich, putze die Zähne und lege mich für eine weitere Nacht, in der ich nicht wirklich gut schlafen kann, ins Bett.

  • Yulis Tagebuch, Folge 33

    Urlaub vor dem Sommer (und noch 120 Menschen in der Gefangenschaft!)

    Ich mag die Hitze nicht. Vor allem die israelischen Sommer nicht. Sie sind zu heiß, zu feucht und zu lang. Ich bin im Herbst geboren, am 7. Oktober, und bin zweifellos ein Mensch des Herbstes  und Frühlings. Ich bevorzuge mehr einen Tag Regen und am nächsten Tag Sonne, als pausenlos heiße Tage.

    Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag den Sonnenschein, aber bis zu einer bestimmten Temperatur. Wenn einem beim Sitzen im Garten mit einem kühlen Bier in der Hand, die Haare schweissgetränkt am Nacken kleben, ist das ein Zeichen dafür, dass die Hitze unerträglich ist. 

    Allerdings wäre es schön gewesen, wenn die Hitze das einzige Unerträgliche  wäre – der Krieg, der Antisemitismus, die Gefangenen, die Politik im Ganzen und Netanyahu im Besonderen, aber auch die Lebensmittelpreise,  der Treibstoff, und viel mehr – so vieles ist derzeit schwierig und unerträglich.

    Um den Kopf und Seele zu klären, flogen wir mit einer Freundin und ihrem Sohn nach Eilat, ans Rote Meer. Warum dorthin? Der Norden Israels wird ständig von der Hisbollah bombardiert und steht seit vielen Wochen in Flammen. Bereits 15.000 Dunam (1.000 qkm)!Wald wurden niedergebrannt und die Flammen fressen laufend immer mehr. Bei starker Hitze und Wind ist es noch schwieriger, das Feuer zu löschen. Über den täglichen Beschuss aus dem Libanon hinaus ist der Norden kurz nach dem  7. Oktober gleichfalls menschenleer geworden. Deshalb gibt es gerade keine Möglichkeit, um in den wunderschönen Norden zu reisen, wo  täglich weiterhin gelöscht wird.

    Auf der anderen Seite Israels liegt Eilat. Eilat ist im Grunde eine Wüste und die Temperaturen erreichen im Hochsommer +47 Grad Celsius. Es kommt vor, dass es  Anfang Juni dort schon ungewöhnlich so heiß ist wie im Hochsommer. Das bedeutet, es war draußen um 21 Uhr ebenfalls unerträglich heiß. An einem Tag verbrachten wir ein paar Stunden am Unterwasser-Observatoriumsturm und am ganzen Marine Park und am Samstag waren wir am Delfin-Riff. Dort gibt es einen schönen Strand mit verschiedenen Tieren und ganz viel Bäumen, die Schatten spenden und auch die Luft kühlen.

    Die Kinder gingen mit den Schnorcheln ins Wasser, während ich ihnen auf einem Stuhl im Wasser zusah. Danach gingen wir, um die Delfine zu treffen. Meine Freundin war ungewöhnlich begeistert von den Delfinen und fotografierte pausenlos. Ich, im Gegensatz, schloss hinter der Brille die Augen und dachte an IHN und wie weit wir voneinander sind. Wir haben uns seit so vielen Monaten nicht gesehen und ich habe überhaupt nichts  mehr von IHM gehört. Deshalb war ich auch allgemein froh, dass die Cocktails am Strand sehr günstig waren. 

    „Ich denke, wir werden hier zum Mittagessen noch bleiben und dann ins Hotel zurückkehren“, schlug ich meiner Freundin  vor. Ich war erschöpft von der Hitze, mein Kopf brannte vor Gedanken und ich brauchte die Klimaanlage, um mich herunterzukühlen. Die Kellnerin war trotz der Hitze flink und aufmerksam und ziemlich schnell war alles schon auf dem Tisch. Fünf Minuten später begann plötzlich aus allen Seiten ein Applaus, fröhliche Pfiffe und Leute am Strand begannen zu singen.

    Ich verstand nicht, was passiert war, also habe ich jemanden gefragt: Vier Entführte wurden von der Armee befreit.  Noa Argamani (26) und drei Männer: Almog Meir Jan (22), der auf dem Nova Festival arbeitete, Andrey Kozlov (27), dessen Familie in Russland lebte und Shlomi Ziv (40) Jahre alt. Sie wurden täglich geschlagen und gequält und acht Monate lang ausgehungert, aber endlich noch lebend befreit. Noa Argamani besuchte ihre Mutter, die sich in einem ernsten Zustand im Krankenhaus befindet, und Andrey traf sich mit seiner Familie, die in Russland  lebt. 

    Almogs Vater starb einen Tag vor seiner Freilassung und Noa, deren Freund immer noch in Gefangenschaft ist, traf sich mit seiner Mutter.

    Unter meiner Sonnenbrille flossen jetzt Tränen des Glücks, für die vier, die das Glück hatten, dem Inferno entkommen zu sein. Wie viel Freude hat es uns Israelis bereitet, dass es für vier Menschen wieder eine Chance zum Leben gab. Dieser Schabbat war nicht mehr dasselbe. Der Tag war von einer anderen Energie erfüllt, die ein Gefühl des Glücks vermittelte. Für einen Moment war die Realität erträglich. 

    Gleichzeitig trauerten wir um den, der bei der Rettungsaktion getötet wurde und symbolisch oder nicht, wurden ein paar Tage nachher vier junge Soldaten getötet. Da sich die Informationen über die freigelassenen Entführten immer weiter häufen, verstehen wir noch besser, wie wesentlich und dringend es ist, die 120, die sich noch dort befinden, so schnell wie möglich freizulassen.

    Am letzten Tag hat mich die Grippe erwischt. Anscheinend war der Entspannungsversuch zu stressig für meinen Kopf. Also, zurück zur Routine… 

  • Yulis Tagebuch, Haifa (32)

    Dunkler November

    Zwischen dem jüdischen Neujahr und Chanukka, wahrscheinlich vielen auch als Lichterfest ein Begriff, liegt der Monat November. Er ist normalerweise ein Monat ohne herausragende Tage, denn die Feiertage sind vorbei und der Herbst beginnt. Das typische Sommeroutfit wird durch längere und wärmere Kleidung ersetzt und all das wirkt sich auch irgendwie auf das Bewusstsein aus. Im November kann man sich nicht genug wundern, wie schnell so ein Jahr vergeht, man überlegt sich für das nächste Jahr neue Ziele und hofft, dass möglichst viele Wünsche in Erfüllung gehen.

    Im November 2023 war vieles anders – eine Fortsetzung des vorherigen dunklen Monats. Es gab kaum dieses ruhige Nachdenken – es war einfach nicht die Zeit dafür. Wir sind in Gedanken ständig bei dem sich fortsetzenden Krieg, die Ermordeten sind uns gegenwärtig, wir beten um die Rückkehr der Entführten. Denn die Entführten müssen nach Hause gebracht werden – bringt bitte die Kinder zu ihren Eltern zurück!

    Eltern sitzen zu Hause – ohne ihre Kinder, weil ihre Kinder gefangen genommen wurden. Das ist Wahnsinn! Es kann nicht sein, dass ein Vater täglich vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv sitzt, denn seine Frau und seine Töchter sind in Gefangenschaft. Es kann nicht sein, dass ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern ermordet wurden, allein in Gefangenschaft ist. 

    Und ich halte mich gerade zurück, um nicht über den Holocaust zu sprechen. Aber alles erinnert mich an die Kinder von damals, die in den Konzentrationslagern oder in den Ghettos völlig allein waren, nachdem ihre Eltern und andere Verwandten ermordet wurden. Große Einsamkeit und Schmerzen erlebten die Kinder in der Gefangenschaft. Und die Politiker, die für diese Hölle verantwortlich sind, diskutieren noch immer, ob 10 Entführte für rund Hundert Terroristen freizulassen ein vertretbares Angebot wäre. 

    Es fällt mir schwer zu glauben, dass es in Israel jemanden gibt, der gegen ein solches Abkommen ist. Und doch – es gibt auch solche. Ihnen möchte ich zuschreien: „Wenn es ihre Kinder oder Enkelkinder wären, wären sie doch sofort bereit, jeden Preis für sie zu zahlen.“ Zum Glück stimmte die Mehrheit dafür und dieser teuflische „Deal“ war im Gange.

    Für zehn lebende Geiseln entlässt Israel 150 Terroristen aus dem Gefängnis und Israel erhöht die humanitäre Hilfe für Gaza. Israel erhöht auch die Menge an bereitgestelltem Benzin. Israel stellt sowohl den Kampf als auch das Sammeln von Geheimdienstinformationen ein. Aber der Hamas kann und darf man nicht bis zum letzten Moment trauen. Eine Terrororganisation ist … niemandem verpflichtet, ihr Ziel ist, Angst und Zerstörung zu verbreiten. 

    Davon wird sie genährt und getragen und für ihr in eingängige Slogans gehülltes Handeln gewinnt sie weltweit große Sympathie. Das war leider schon immer so. Egal, ob es sich um extremistische Gruppen von der rechten oder linken Seite handelt.

    Heute aber gilt: Es gibt keinen höheren Preis, als die Kinder aus der Gefangenschaft herauszuholen und zu ihrer Mutter, zum Vater, zu den Großeltern oder zur Tante zurückzubringen. Bringt sie einfach zurück. Lasst die Mörder gehen, aber lasst die Kinder nicht noch weiter in ihren Händen bleiben. Die ersten dreizehn Entführten kehrten nun tatsächlich zurück. Weitere neun ausländische Staatsbürger wurden auch freigelassen – aber nur, weil sie Staatsbürger Russlands, Thailands oder anderer Länder sind. 

    Magie ist das nicht, sondern Politik zwischen den Ländern und Katar und Geld natürlich. Die Familien der Gefangenen wussten im voraus, ob ihre Verwandten freigelassen wurden und warteten bereits im Krankenhaus oder in Kerem-Shalom. 

    Ich saß vor dem Fernseher und war sehr aufgeregt. Ich konnte kaum atmen, ich wollte die Kinder und Frauen schon zu Hause sehen, von den Händen unserer Soldaten gehalten. Von der Hamas über das Rote Kreuz, den Grenzübergang bis hin in unseren Händen. Denn seit der ersten Intifada hat Israel immer nur Leichen oder Leichenteile zurückbekommen. Gilad Shalits Rückkehr nach fünf Jahren war eine außergewöhnliche Geschichte und der „Preis“ galt damals als sehr hoch: Tausend Terroristen für einen Soldaten. Aber worauf kommt es an? Die Zahl der Terroristen verdoppelt sich jederzeit. Jedes Kind in Gaza, das eine Waffe halten kann, bekommt bereits ein Gewehr …

    Aber es gibt nichts Wertvolleres, als zu sehen, wie Menschen aus der Hölle nach Hause kommen und sich erholen. Gilad Shalit, der seinen Bachelor-Abschluss machte und heiratete, kam nun, um die Familien der Entführten zu unterstützen. Welchen Preis hat es? Den meisten Überlebenden des Holocaust gelang es, eine Familie zu gründen und noch aus den Trümmern ein lebenswertes Leben aufzubauen. Aber Erinnerungen an Erlittenes ließen sich nie verdrängen.

    IDF-Sprecherabteilung (3 Fotos)

    Die nun freigelassenen vormaligen Geiseln befinden sich in Israel. Jetzt müssen sie sich psychisch und physisch erholen. Ich warte schon jetzt voller Hoffnung auf diejenigen, die morgen ankommen werden.

  • Yulis Tagebuch, Folge 30

    Routine im Krieg

    Im November kehrten wir in gewisser Weise zur Routine zurück. Ich weiß aber ehrlich nicht, ob man es Routine nennen kann. Es war ein bisschen so, als würde man Verrückte ohne Medikamente auf die Straße schicken.

    Die Huthi schießen aus Jemen Boden-Boden-Raketen ab und drohen mit einem erneuten Angriff. Nasrallah hält gleich seine Terrorrede, während dutzende Raketen aus Libanon täglich abgefeuert werden. Terrorgruppen im Westjordanland drohen ebenso mit Gewalt. Trotz alldem begann die Schule wieder und Menschen müssen wie Menschen eben arbeiten, um zu essen. Routine.

    Ich entschied mich, dass wir, solange der Krieg währte, nicht nach Haifa zurückkehren. Folglich geht mein Sohn ab jetzt zu einem neuen Kindergarten in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Glücklicherweise – oder vielmehr nicht – waren in dieser Zeit ganz viele Evakuierte aus dem ganzem Land im Zentrum und die Kindergärten mussten neue Kinder aufnehmen. 

    Die Kindergärtnerinnen kümmerten sich um die Integrierung der neuen Kinder mit pädagogischen und psychologischen Werkzeugen, aber deren Wirkung war insgesamt unerheblich. 

    Die Integration ist nur ein Problem aus den vielen Schwierigkeiten, mit denen diese Kinder zur Zeit konfrontiert werden. 

    Die meisten von ihnen brauchen intensive Therapie, das kann der Kindergarten nicht bieten. 

    Für Kinder, die zu einem fremden Kindergarten, in eine fremde Stadt gehen müssen, weil Terroristen ihre Verwandten und Nachbarn geschlachtet haben und Raketen auf ihre Häuser ununterbrochen abgefeuert werden, ist nichts normal. 

    Allerdings verhalten wir uns gerade so, als ob es das wäre…

    Nachdem wir der WhatsApp-Gruppe des Kindergartens beitraten, gab es in der Gruppe der Eltern eine Debatte darüber, ob am Kindergarteneingang eine Straßenkamera installiert werden sollte. 

    Der Mangel an Vertrauen bei Menschen war so schlimm, dass eine Mutter behauptete, sie würde ihre Tochter ohne Kameras nicht zum Kindergarten bringen. Ich fand es ein bisschen komisch, dass die hysterischste Mutter in der Gruppe tatsächlich eine Amerikanerin war, oder vielleicht ist es nicht überraschend. Und als wir am Kindergarten morgens ankamen, standen bewaffnete Soldaten und Polizisten am Eingang. So eine Sicht beruhigt wahrscheinlich manche Eltern, aber mich hat es nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. 

    Das zeigt mir, wie schlecht die Situation ist. 

    Zuhause fühlte ich mich noch schlimmer bei der Vorstellung, dass ich während eines Krieges meinen Sohn mit drei Kindergärtnerinnen und nicht weniger als 30 Kindern zurücklasse. Ich fühle es so, als ob ich ihn im Stich lasse. Deswegen war ich zuhause wie eine geladene Waffe, schussbereit bei jedem Fall zum Kindergarten loszurennen. 

    Mein Sohn distanziert sich oft von großen Gruppen. Er spielt lieber mit einem oder zwei Kindern, zu denen er eine gute Bindung aufbauen kann. Er ist ein Kind der Qualitäten, nicht der Quantitäten. Kurz gesagt, ein Kind mit dem Charakter eines Erwachsenen. Deshalb machte ich mir keine Sorgen um seine Integration in der neuen Umgebung. Gott sei Dank, anders als ich, kommt er überall zurecht.

    Das Bildungsministerium organisiert Zoom-Vorlesungen mit Psychologen und anderen Fachleuten für die besorgten Eltern, und zusätzlich richtet es eine Hotline in verschiedenen Bereichen für Studierende und Eltern ein. 

    Die Universitäten bieten auch Gespräche mit Experten, sowohl für die Studenten als auch für die Mitarbeiter an. Jedoch hatte ich nicht das Bedürfnis, über Dinge zu diskutieren. Ich wollte weiterhin putzen, Wäsche waschen, und ungeduldig jeden Tag darauf warten, mein Kind abzuholen.

    Zeitgleich mit den Aktivitäten des Bildungssystems haben auch die Nachmittagsaktivitäten wieder begonnen. Ich meldete mich und meinen Sohn sofort für Krav-Maga an.

    Selbstverteidigung fand ich wichtiger im Moment, als über meine Ängste zu reden. Ich wollte mich aus dieser Hilflosigkeit herausholen. Und wenn es niemanden gibt, der uns beschützt, müssen wir lernen, uns selbst zu schützen. 

    Kredit: Foto von der Facebook Seite von Michael Hans Höntsch
  • Yulis Tagebuch, Folge 29

    Hurricane

    Zwischen dem Song „Hurricane“ und dem Originalsong „October Rain“ gibt es eigentlich keinen großen Unterschied. Im Grunde wurde der Titel „Hurricane“ gegen die Worte „October Rain“ ausgewechselt. Es gibt auch keinen Unterschied in der inneren Bedeutung des Songs. Jedoch, das Wort „Oktober“ war eine Provokation für die Europäische Kommission und sie konnten es einfach nicht annehmen. Das heißt, es kommt nicht auf die Bedeutung an, sondern darauf, wie der  Song interpretiert werden kann. Nicht der Inhalt, sondern die Hülle. Apropos Hülle, Schalen und Früchte: Das niedliche Symbol des Protests in den Farben der palästinensischen Fahne wurde durch das Zeichen einer geliebten Frucht ersetzt. Schmackhafter, süßer, bestens kalt serviert, rot mit grüner Schale und schwarzen Samen. Wisst Ihr schon welche Frucht ? Ich mag auch Wassermelone. Jedes Mal, wenn Ihr eine Wassermelone esst, denkt jetzt an Palästina. „Contemporary“ halt… 

    Im Jahr 2024 vertrat Eden Golan Israel beim Eurovision Song Contest. Sie musste unter der Sicherheit des Shin-Bet in Schweden ankommen. Von tausenden von Polizisten, Scharfschützen auf den Dächern des gesamten Komplexes und verdeckten Polizisten bewacht vom Flugzeug aus einsteigen, im Hotel, bei Proben und in jeder restlichen Sekunde in Malmö. Und das alles, um halt einen Song zu singen. Wenn ich diese Worte schreibe, kommt es mir vor wie das Bild einer jüdischen Frau Ende der dreißiger Jahre in Europa, die den Nazis zu entgehen versucht. Eden Golan ist die „Contemporary“ Marlene Dietrich. (Ich wollte halt „contemporary“ nutzen, damit es ebenso cool anzuhören ist.) Anscheinend sind wir in Europa nach 100 Jahren wieder am Ausgangspunkt angelangt. Um ein Jude in Europa zu sein, muss man sich verstecken, sich entschuldigen, sich bücken oder einfach den Mund halten. Also bleibe ich in Israel, denn wohin könnte ich sicher mit meinem Sohn reisen, der fast ausschließlich Hebräisch spricht? Wie oft kann man einem kleinen Kind sagen, es solle „leise sprechen“, denn es ist gefährlich, Hebräisch in Europa zu sprechen.

    Eden, ein 20-jähriges Mädchen mit phänomenalem Gesangstalent, betrat die Bühne und hat die „Buh‘s” des Publikums gehört. Das war bisher noch nie passiert. Weiterhin hat das israelische Team erzählt, dass die meisten Mitglieder der Delegationen nicht bereit gewesen seien, mit den Israelis Fotos zu machen. Sie forderten Eden sogar auf, sie in Edens Social Accounts nicht zu markieren und Posts mit ihnen zu löschen. Es sollte niemand sehen, daß sie freundlich zu Eden waren und sie mit ihr Fotos gemacht haben… 

    Der Schweizer, Nemo, der dann gewonnen hat, distanzierte sich gleichfalls vom israelischen Team, trotz der Punkte die er vom Hurricane-Komponisten für die Musik erhielt.

    Dann kam die Pressekonferenz, wo ein polnischer Journalist Eden fragte: „Glauben Sie nicht, dass Sie Menschen gefährden, wenn Sie hier sind?“ Als Eden redete, gähnte die  Vertreterin aus Griechenland und der niederländische Vertreter zog  sich  ein Tuch über den Kopf. Klassisches Europa, auf jeden Fall. 

    Die ganze menschliche Hässlichkeit wurde beim Eurovision Song Contest verkörpert. Und die Masken, das Make-up und die Musik waren nicht die schrecklichsten Dinge dabei. Abseits der Bühne passierten weitaus schrecklichere Dinge.

    Überraschenderweise (und ich schließe normalerweise nicht mit einer positiven Note ab, um eine Illusion zu erzeugen. In dem Sinne bin auch kein Fan amerikanischer Filme), erhielt Israel vom Publikum in 14 Ländern Douze Point, am meisten von allen Teilnehmern im Wettbewerb. Sogar aus Belgien, wo es eine Aufschrift am Fernsehen „Wir verurteilen Israels Menschenrechtsverletzungen“ vor Edens Auftritt gab und gleichfalls aus dem spanischen Publikum, dessen Regierung plant, einen palästinensischen Staat einseitig anzuerkennen. Aus Portugal, dessen Vertreterin sich entschieden hat, Wassermelonen auf ihre Nägel zu malen, und auch aus Australien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, San Marino, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.

    Allerdings vergaben die Juroren, eine sehr niedrige Punktzahl mit einem erheblichen Abstand zur Publikumswahl – was normalerweise nicht der Fall ist – und Eden belegte daher den fünften Platz.

    Was die Publikumswahl anging, verließen die Israelis die Eurovision mit einem Siegesgefühl. Gleichzeitig gibt es eine bittere Erinnerung an den Empfang im Wettbewerb und wie die anderen Mitglieder sich der israelischen Delegation gegenüber verhielten. 

    Aber wer seid Ihr, die Ihr für den israelische Song gestimmt habt? Warum drückt Ihr  Eure Stimme nicht lauter aus? Warum werden vernünftige Stimmen in den Medien nicht gehört? Warum ist die Unterstützung für Israel für mich so überraschend geworden? 

    Weil ich vorher dachte, dass es die Welt nicht mehr gibt. Warum muss jedes Mal etwas großes passieren, damit sich etwas ändert und die Menschen ihre Augen öffnen? 

    Vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, die Weltordnung zu verändern, und zwar nicht durch die Hände der Schuldigen, sondern durch eine Macht, größer als die Menschen, eine Katastrophe vom Ausmaß einer Naturkatastrophe, etwas so Tödliches wie einen Hurrikan.

    https://www.youtube.com/watch?v=K60BWlEhtAA

  • Yulis Tagebuch, Folge 28

    Eurovision

    October Rain

    Der Oktober ist vorbei und viele andere Dinge mit ihm.  Ich möchte Euch schon erzählen, was im November passiert ist, aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich statt über den andauernden Krieg über einen Songwettbewerb schreiben würde. Der „Eurovision Song Contest“ von dem ich bezweifle, daß irgendjemand daran interessiert gewesen wäre, wenn nicht das kommerzielle Fernsehen den Eurovision Song Contest zu einem Gesprächsthema gemacht hätte. Es handelte sich auf jeden Fall um eine öffentlich seit Jahren bekannte „Show“, von dem die Zeitungen Monate vorher schon schreiben.

    Ich möchte glauben, dass ich ganz objektiv bin, wenn ich sage, daß der Eurovision Song Contest in den letzten Jahren wie ein Zirkus aussieht und die meisten Songs sind einfach….schlecht. Unter anderem mag ich Rock. Ich bin mit Nirvana, Megadeth, Metallica, Guns and Roses sowie mit Punk und Hip-Hop aufgewachsen und deshalb (eventuell) irritieren mich die seltsamen Masken und Kostüme nicht. Ich bin auf die Musik fokussiert und nicht auf die Kulisse. Aber auch diese sollen mit Geschmack gemacht werden. Hauptsache ist die Musik und die soll auch gut sein. Meistens ist das nicht so. „Contemporary“… sag nicht mehr modern oder post-modern – schon alte und unrelevante Worte – alles ist jetzt „Contemporary“. „Contemporary“ Tanz, Musik… u.a.  bedeutet es, die Verbindung oder Kombination zwischen verschiedenen/andereArten, Styles, Genre usw. in einer Kreation.  

    Dieses Jahr versuchte das Publikum in vielen Ländern, und auf unverhohlene Weise, Israel vom Eurovision Song Contest auszuschließen. Viele der jungen Leute, die sich nicht gut mit Geschichte auskennen, verglichen Israel mit Russland, und behaupten, wenn Russland am Eurovision Song Contest nicht teilnimmt, sollte es Israel ebenso nicht. 

    Abgesehen von der kleinen Tatsache, dass Israel keinen Krieg gegen Gaza begonnen hat und gegen Gewalt fanatischer anti-westlicher Terroristen kämpft. Russland ist im Gegensatz dazu, in ein Land in Europa einmarschiert und droht sogar mit der Invasion anderer europäischer Länder, wenn diese der NATO beitreten. Kleine Unterschiede für Studenten in den besten Universitäten der Welt. Mit dieser Generation geht die Welt nur nach unten.  

    Wenn schon, dies lässt sich vielleicht mit der amerikanischen oder britischen Invasion in Afghanistan vergleichen. Allerdings, damals ist die Teilnahme Großbritanniens am Eurovision Song Contest überhaupt nicht in Frage gestellt worden. Aber solche Kritik ist gerade auf Social-Media nicht aufgekommen. „Contemporary“ Meinungen halt…

    Ursprünglich hieß der israelische Song zum Eurovision Contest  „October Rain“. Der Song wurde abgelehnt, weil er als zu politisch angesehen wurde. Es stimmt, daß der Song unter dem Eindruck der Ereignisse vom letzten Oktober geschrieben wurde, aber ist der Song politisch? Ich denke nicht.

    Lasst mich aus dem abgelehnten Song zitieren

    Writers of the history
    Stand with me
    Look into my eyes and see

    People go away but never say goodbye
    Someone stole the moon tonight

    Took my light

    Everything is black and white

    Who’s the fool who told you boys don’t cry

    Hour and hours and flowers
    Life is no game for the cowards
    Why does time go wild
    Every day I’m losing my mind
    Holding on in this mysterious ride

    Dancing in the storm
    We got nothing to hide
    Take me home
    And leave the world behind
    And I promise you that never again
    I’m still wet from this October rain
    October Rain

    Es ist hauptsächlich politisch, da der Song unmittelbar unseren Schmerz zum Ausdruck bringt. Daher wurde dieser Song disqualifiziert und ebenso ist die israelische Perspektive auf die Ereignisse in den globalen Medien. Unser Schmerz ist in dieser ganzen Geschichte marginal, und wir dürfen darüber nicht singen. Wir haben zu viele Erwartungen an diese Welt gehabt…

  • Yulis Tagebuch, Folge 24

    Holocaust Gedenktag in Israel und den 7. Oktober

    „Nie Wieder“-Folge

    Nie Wieder“

    In dieser Woche haben wir den Holocaustgedenktag in Israel begangen. Schon vorher habe ich die Spannung, die von diesem Datum ausgeht, gespürt. Denn noch immer sind 133 Menschen in der Gefangenschaft der Hamas, darunter ein Baby, Frauen, Väter, Kinder und sogar ein Holocaustüberlebender, der 86 Jahre alt ist. Daneben gilt die erinnerung jenen Holocaustüberlebenden, die am 7. Oktober ermordet wurden. Und natürlich trauern die Holocaust- überlebenden, die ihre Enkelkinder im Krieg verloren haben, oder die beim Überfall auf das Festival ermordet wurden – es ist schwer, ihnen in die Augen zu schauen. 

    Vor dem 7. Oktober hing der Spruch „Nie Wieder“ sehr eng mit diesem Gedenktag zusammen. In dieser Woche ist der Spruch nicht mehr so stark wie früher betont. Ja, ich kenne natürlich den Spruch „Never Again is Now“ („Nie wieder ist jetzt“), aber er enthält meiner Meinung nach eine ganz andere Bedeutung, die viel stärker lokal als universal und viel mehr eine politische als eine kulturmäßige Aussage ist. Insgesamt gibt es freilich einen großen Unterschied zwischen unserer Perspektive und, wie diese Aussage andernorts in der Welt interpretiert wird. Wir fühlen uns hier mehr oder weniger allein, und deshalb war es in diesem Jahr ein besonders trauriger Gedenktag. 

    Ich finde es falsch, zwischen dem Holocaust und dem 7. Oktober zu vergleichen. Das habe ich schon diskutiert. Aber zwischen dem Holocaust und dem 7. Oktober gibt es eine Verbindungslinie, nicht nur durch die Art der Verbrechen, sondern auch durch die Reaktion darauf. Das Geschehen hat die ganze Welt politisch aufgerüttelt, hat Tabus gebrochen wie etwa den Angriff Irans. Auch die für mich seltsame Frage des existentiellen Rechts der Juden in diesem Land ist überall wieder aufgeworfen worden. Mich erinnert die Verleugnung bzw. die Verkleinerung der Verbrechen der

    Hamas über die formellen Medien und bei ihren Unterstützern und Antisemiten über die Sozial-Media an die immer noch verbreitete Verleugnung der Shoah. Und der stumme Mund schreit: „Aber ihr habt doch selbst Verbrechen begangen, wie könnt ihr eure Gräueltaten jetzt verleugnen?“

    aus: Social Media

    Denn bei der Verwendung von Filmmaterial gibt es eigentlich keine Bindung an irgendeine Wahrheit. Und so, wie man ein historisches Filmmaterial aus dem Holocaust nutzen kann, um Erinnerungen hervorzurufen, kann man denselben Film auch dazu nutzen, die Realität zu verzerren oder zu leugnen, wie es nach dem Holocaust und wie es gleichfalls nach dem 7. Oktober geschah. 

    Trotz der Live-Dokumentierung beeilte sich die Hamas zu behaupten, dass die IDF für den Tod der Zivilisten verantwortlich sei, und brachte dies offiziell in einem am 21. Januar herausgegebenen Dokument zum Ausdruck, in dem sie alle ihr zugeschriebenen Verbrechen leugnet. Dieses Pamphlet wurde in den sozialen Medien verbreitet und wie der letztens aufgetauchte Brief von Bin-Laden erfreut es sich bei Pro-Palästinensern und Antisemiten auf der ganzen Welt großer Beliebtheit.

    Tatsächlich haben auch die Nazis ihre Verbrechen dokumentiert, aber im Gegensatz zur Hamas haben sie diese nicht veröffentlicht. Privatpersonen, die an jenen Dokumentationen beteiligt waren, und solch Filmmaterial über Gräueltaten besaßen, achteten darauf, diese nach dem Krieg zu verstecken oder gleich zu vernichten, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. 

    Tatsächlich wurde die einzige verfügbare historische Dokumentation in Bundesarchiv, in der man den Akt des Massenmordes „live“ sieht, mit einer Privatkamera gefilmt und ist weniger als eine Minute lang. Daher beruht die historische Erinnerung an den Holocaust wenig auf fotografischen Beweisen der Vernichtung, sondern auf Zeugenaussagen von Überlebenden, Filmen von Ghettos, Fotos und Filmen der Alliierten von der Befreiung, u.a. Auschwitz, Bergen-Belsen usw. und wenigen Fotos und Filmen, die sich im Besitz von Nazis befanden.

  • Yulis Tagebuch, Haifa (17)

    Dieser Text erschien am 30. März 2024  zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Purim

    Gestern geschah in Russland ein Terroranschlag. Bewaffnete Männer drangen in einen Konzertsaal ein und erschossen unschuldige Zivilisten. Putin wirft dem Westen, vor allem den USA und Großbritannien, vor, dass die Warnungen vor dem Anschlag Russland in Angst und Schrecken versetzen sollten. Er beschuldigt die Ukraine, den IS-Terroristen einen Fluchtweg ermöglicht zu haben. Ja, er gibt der Ukraine die Schuld, dem Land, das er seit zwei Jahren gnadenlos angreift und das inzwischen massiv zerstört ist, ein Land, dessen Hälfte der Bürger als Flüchtlinge leben. Ja, so ist es mit Menschen wie Putin, die sich als Opfer präsentieren und dabei selbst blutige Beute zwischen den Zähnen halten.

    Ähnlich Putin, der terroristische Akte oder terroristische Regierungen (d.h. Diktaturen), die pausenlos die Stabilität des Westens zu untergraben anstreben, unterstützt, hat auch Hamas ein Interesse daran, dass die Kämpfe im Gazastreifen zunehmen werden. Denn mit der Zeit verliert Israel zusehends seine Legitimität, in Gaza zu agieren, und so wird auch sein Bündnis mit dem Westen erneut auf die Probe gestellt.

    Wir erleben eine dramatische Entwicklung: Der Terror, Krebsmetastasen gleichend, kehrt sofort an jene Stellen zurück, die die israelischen Streitkräfte verlassen haben, um sich abermals auszubreiten. Beispielsweise verschanzten sich erst vor wenigen Tagen Tausende Terroristen im Al-Shifa’a-Krankenhaus. Dort kam es abermals zu einem erbitterten Kampf. Und während die Zahl der Opfer in Gaza zunimmt, ist es für die Hamas ein Sieg im Kampf um das Bewusstsein (d.h. was die Publikumsmeinung weltweit betrifft). Denn wenn die Hamas die Entführten freigelassen hätte, hätte es viel weniger Opfer gegeben und die IDF hätte sich aus den meisten Orten im Gazastreifen zurückgezogen. Aber bei Raubtieren ist das nicht der Fall, Blut schreckt sie nicht ab. Ganz im Gegensatz, es erregt sie nur.

    Inzwischen leben viele Migranten/Olim aus der Ukraine in Israel, ihre Zahl nahm nach dem Krieg mit Russland deutlich zu. Viele ihrer Eltern jedoch haben die Ukraine nicht verlassen. Sie erzählten mir von ihren Familien und dem Krieg dort, wie etwa ihre Eltern das Glas aus den Fenstern nehmen müssen, um bei den Raketenangriffen nicht durch Scherben verletzt zu werden. Stattdessen dichten sie die Fenster mit Holzbrettern ab. Wenn sie ihre Kinder in Israel besuchen wollen, wäre es über Moldawien oder über ein anderes Land, je nachdem, welche Grenze in ihrer Nähe liegt, möglich. Aber die Reise nach Israel dauert manchmal zwei Tage lang. Für viele Eltern ist das zu anstrengend. Als am 7. Oktober der Krieg ausbrach, riefen sie die Kinder an und fragten sie, ob sie in die Ukraine kommen wollten, bis sich die Lage hier beruhigte. Ja, die Situation in Israel ist wahrscheinlich schlimmer als die Situation in der Ukraine, zumindest sieht es von der anderen Seite so aus.

    Was der Krieg in Israel mit dem Krieg in der Ukraine gemeinsam hat, ist die Tatsache, dass die Bilder, die die Welt erreichen, immer nur Teile der Realität sind. Und der Kontext ändert sich je nach Deutung. Und diejenigen, die nicht hier sind, haben keine Vorstellung, was wirklich vor Ort geschieht.

    Diese Woche haben wir Purim gefeiert. Während Israel ständig von Norden her gegen die Hisbollah kämpft, wird über diesen Krieg kaum berichtet. Dieser Krieg bringt also nicht so viele Nachrichten hervor. Die Raketen, die die Hisbollah aus dem Libanon auf uns abschießt, bringen in Europa keine Demonstranten auf die Straße, weder für noch gegen Israel. Es interessiert einfach niemanden, da die Toten in diesem Krieg hauptsächlich israelische Zivilisten sind. Wann habt ihr in einem westlichen Land Kinder gesehen, die mit den Händen auf dem Kopf auf dem Boden lagen? Vielleicht in der Ukraine, zu Halloween, ich weiß es nicht. Ich habe es nirgendwo andernorts gesehen, aber in Israel schon…

  • Yulis Tagebuch, Haifa (16)

    Alles, was ich geben kann

    Seit dem 7. Oktober sind fast zwei Wochen vergangen und der Alltag ist irgendwie anders. Dinge sind nicht mehr die gleichen. Hingegen über solche Dinge wird in den Medien nicht berichtet, weder in Israel noch woanders. Beispielweise, die Fenster in den Häusern sind zugeschlossen. Warum ist es bedeutend oder relevant?
    In einem Land, in dem es meist sonnig und warm ist (die Temperaturen entlang der Küste auch im Herbst sind relativ hoch, etwa +20 Grad Celsius) sind die Fenster oder die Jalousien tagsüber meist geöffnet. Seit dem 7. Oktober sieht es von außen so aus, als wären alle nicht zu Hause. Als wären die Einwohner ins Ausland gegangen. Eine Fantasie, in jedem Fall, da alle zu Hause eingesperrt sind. Das Eindringen von Terroristen in die Häuser führte dazu, dass jeder alles verschloss und niemandem vertraute. Sogar Hauslieferungen haben derzeit aufgehört. Niemand möchte einen fremden Mann mit Helm auf dem Kopf vor der Tür sehen. Außerdem gibt es immer noch ganz wenig Menschen – oder Autoverkehr da draußen, und auch ich habe es nicht eilig, oft einzukaufen.

    Ich rufe Lea, meine Nachbarin, an. Ich bitte sie, meine Post zu Hause zu holen und in der Wohnung kurz reinschauen, ob alles in Ordnung ist. Ich bin sehr dankbar und glücklich, dass ich Lea habe. Sie ist ein Engel von Himmel. Und obwohl sie im Alter meiner Mutter ist, ist sie eine meiner besten Freundinnen. Ein
    Gespräch bei Mittag- oder Abendessen bei einer Flasche Wein mit ihr, ist die beste Unterhaltung. Sie kam ursprünglich aus Deutschland und hat vier Kinder, die in Israel und in Deutschland leben, und außerdem ist sie die glücklichste Witwe, die ich je gekannt habe. Im Grunde könnte sie in diesen Zeiten bei ihrer
    Tochter bleiben, aber sie will in Haifa bleiben, „aus Prinzip!“ beantwortet sie eine Frage.
    Ich beschließe morgen das Gemeindezentrum zu besuchen und für die evakuierte Familien aus dem Süden und Norden benötigte Dinge zu spenden. Bei meinen Eltern gibt es viele Sachen, die wir abgeben können. Da ich aus verschiedenen Gründen nach der Geburt meines Sohnes bei meinen Eltern gewohnt habe, haben wir zum Glück hier alles, was wir brauchen. In gewisser Weise fühle ich mich in einer ähnlichen Situation, in der mein Körper traumatisiert ist, und trotzdem versuche ich mich ganz normal zu verhalten.
    Ich suche auf WhatsApp, die Nachricht von Natalie um die Liste mir noch einmal durchzuschauen. Mein Sohn ruft „Mama, wo bist du?“, „Ich bin hier mein Lieber, im Schrankzimmer. Komm her, hilf mir dein Spielzeug auszusortieren. Nachher gehen wir auch deine alte Kleidung durch, die für dich schon zu klein ist.“
    Nachdem er ins Bett gegangen ist, kann ich auch in Ruhe meine eigenen Sachen aussortieren. Es wäre eine gute Gelegenheit, mich selbst von Erinnerungen und allen möglichen unnötigen Dingen zu befreien. Er hat zwar seine Spielzeuge den Kindern mit Freude geschenkt, seinen alten Teddy… ach, das gelang erst nach
    einer langen Diskussion (und keine Sorge, er hat noch paar Teddys, die wir behalten). Auf jeden Fall war ich stolz auf ihn. Die Kleidung ließ er mich allein sortieren, – da war er schon müde und sein Interesse an Kleidern ist jedenfalls fast Null.

    Lebensmittel stehen aber auch auf der Liste. Gerade mangelt es auch den Soldaten im Feld an Ausrüstung und Verpflegung. Es gibt nicht genug Essen. Darum kümmere ich mich ebenfalls, aber nicht heute, heute bin ich schon durch. Frag mich ja bitte nicht, wo die Regierung in dieser Situation ist, und was die macht. Da ich nichts von der israelischen Regierung erwarte – wie die meisten in
    der Bevölkerung – kümmern wir uns ohne zu fragen umeinander. Netanyahu, meiner Meinung, ist gerade mehr von seinem politischen Absturz verstört als von der Tatsache, dass ganze Städte in Israel mittellos evakuiert werden, und die Bevölkerung erlebt gerade eine seriöse existenzielle Angst.

    Am nächsten Tag kam ich mit fünf vollen Kisten im Gemeindezentrum an, und war echt erstaunt, wie viele Menschen mittlerweile sich engagiert haben. Der Ort war voll mit Menschen und Kisten, und es scheint so lebendig und positiv. Das fand ich wunderbar!

    Foto Kredit: Channel 12 New Expo TLV, Operation Raum von „Ahim La’neshek“ Org.

    Auf dem Rückweg hallte ein Gefühl der Freude in mir wider. Plötzlich war ich voller Kraft. Ich fühlte mich wieder so energiegeladen. Letztendlich gibt es nichts, was uns von innen so erfüllt, wie der Akt des Gebens.