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  • Yulis Tagebuch, Folge 57

    Oktober 11, 2024

    Der 7. Oktober und das Jahr XXXX

    Der 7. Oktober hat das nationale Trauma von Jom Kippur an den Rand gedrängt. Da der Krieg in all seiner Stärke weitergeht und sich sogar ausweitet, handelt es sich in jeder Hinsicht und Verständnis um ein Ereignis, das in der Praxis noch nicht vorüber ist. Wir sind immer noch jeden Tag dort: beim anhaltenden Krieg, mit den unaufhörlichen Anschlägen, mit den Verletzten  und Ermordeten. Heute posten viele Frauen in den Social-Medien Bilder von sich mit ihrem Baby in Tragehilfen zum Gedenken an Inbar, die bei dem Terroranschlag in der Straßenbahn am 1. Oktober 2024, während sie ihr Baby in der Tragehilfe beschützte, von einem Terroristen ermordet wurde. 

    Als Metapher stelle ich mir Israel sowohl als die Mutter als auch das Baby vor. Das Land ist selbst ist genauso das Opfer wie alle, die hier weiterleben. Diejenigen, die vergehen vor Schmerzen, aber am Leben festhalten. Und der Weg geht weiter, mit den Lebenden und mit den Toten. 

    Inzwischen ist das Loch im Zaun zum Gazastreifen, durch das die Terroristen nach Israel eindrangen und Kinder, Frauen und alte Männer in ihren Betten abschlachteten, optisch tatsächlich nicht mehr zu erkennen. Aber auch wenn dieses Loch, durch das die Terroristen unsere Zivilisten nach Gaza entführten, heute nicht mehr sichtbar vorhanden ist, es befindet sich dennoch unverändert inmitten von uns. Diese Gefühle des Misstrauens und der Vernachlässigung lassen uns nicht los und es gibt noch immer

    101 Entführte nach einem Jahr …

    Weltweit finden 80 Zeremonien mit den Familien der Entführten und Ermordeten statt. Selbst bei den Vereinten Nationen findet dieses Gedenken, wenngleich ohne den Generalsekretär, statt. Aber in Israel, ja, in Israel gibt es zwei separate Zeremonien: Eine Veranstaltung, von der Staatsmacht organisiert, fand im vorab in der Stadt Ofakim statt und wurde ohne Publikum gefilmt. Sie wird am Montag um 21:15 Uhr auf den verschiedenen Medienkanälen ausgestrahlt werden. Die meisten Künstler in Israel weigerten sich, hier aufzutreten. Sogar die Moderatorin der Veranstaltung, deren Schwester beim Nova-Festival ermordet wurde, wurde verleumdet, weil sie quasi mit den Schuldträgern mitmache.

    Eine andere öffentliche Zeremonie wird am selben Tag um 19:10 Uhr stattfinden, gedacht und initiiert für die Familien der Entführten und Ermordeten. Ort dieser Veranstaltung ist der Park Ha’Yarkon in Tel-Aviv. Die Zeremonie beginnt mit einer Schweigeminute und einem Yizkor-Gebet und wird ebenfalls im Fernsehen zu sehen sein. Hier sind jedoch keine Politiker eingeladen, dafür ist die breite Öffentlichkeit herzlich willkommen. Es wird erwartet, dass 40.000 Menschen anwesend sein werden. Die Familien der Entführten, der Opfer, der Nova-Überlebenden und die Familien derer, die nicht überlebt haben, alle zusammen und von der Regierung getrennt. 

    In den Kibbuzim haben die Zeremonien zum Gedenken an die Opfer und Entführten bereits begonnen. Am Vorabend wurden die Namen der Opfer verlesen, ihre Geschichten erzählt. Auch das Gedenken für die 410 Opfer des Nova-Festivals beginnt am Abend zuvor und wird am 7. Oktober um 6:29 Uhr morgens fortgesetzt, der Zeitpunkt, als die Attacke begann. Die Schulen im ganzen Land bereiteten von sich aus kurze Zeremonien für die jungen Schüler vor, forderten alle Kinder auf, in weißen Hemden zu erscheinen. Bei nationalen Zeremonien, wie etwa zu Yom Kippur und oder an verschiedenen Feiertagen, ist es eine Tradition in Israel, weiß gekleidet zu sein. Ich denke, in Japan ist es in gewisser Weise ähnlich. Unterhaltungslokale schließen heute wahrscheinlich etwa früher, so ist das hier Sitte an Gedenktagen. 

    Das Gefühl der Verlassenheit und Trennung hält die ganze Zeit an. Aber wir wollen uns auch an das erinnern, was nicht vergessen werden kann, und wir wollen alles für eine Minute festhalten, was vor einem Jahr aufgehört hat. Ohne Tränen zu weinen, denn sie können den Schmerz nicht mehr wegwaschen. Heute ist der 7. Oktober, und auch mein Geburtstag. 

    Ein Jahr ist vergangen, und ich bin immer noch so traurig und erschrocken.

    Marun ar-Ras, eine historische Stelle im Libanon an der Grenze zu Israel. Hier sind auch UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) stationiert. Hier fanden Kämpfe gegen die Hizbollah statt. (Quelle: Comunidades plus)

  • Yulis Tagebuch, Folge 56

    Oktober 9, 2024

    6. Oktober 2023

    Jemand nannte ihn den letzten Tag unseres alten Lebens

    Vor einem Jahr war der 6. Oktober ein ganz normaler Tag, ein Freitag, außerdem der Vorabend eines Feiertags und der Tag vor meinem Geburtstag. 

    Am jenem Nachmittag ging ich mit meinem Sohn zum Konzert von Mergui im „Barbie-Club“ in Tel Aviv. Seit langem haben wir es geschafft, wieder bei seinem Konzert dabei zu sein. Wie viele Künstler in dieser Zeit trat er freiwillig für die Evakuierten aus dem Norden und Süden in der Stadt auf. Und es gibt kaum Schöneres, als seinen Lieblingssänger zum ersten Mal in einem Konzert auf der Bühne zu sehen. Nach dem „Barbie“ gingen wir mit meiner Schwester und ihrem Sohn zum Abendessen in ein japanisches Restaurant.

    Schon in jungen Jahren haben unsere Kinder Sushi gegessen, und ich glaube, es gibt nichts, was ihnen bis heute besser schmeckt, nicht einmal Hamburger oder Pizza, nicht einmal Eis. Um ehrlich zu sein, den Geldbeutel schont es nicht gerade, denn der Preis für eine Mahlzeit in einem Restaurant für zwei Personen hierzulande beträgt nicht weniger als 50 Euro. Das ist eigentlich eher das Minimum. 

    Und auch im Großen und Ganzen war es keine einfache Zeit, weder wirtschaftlich noch politisch. Es gibt viele Probleme innerhalb Israels, die uns damals und jetzt noch beschäftigten, denn gleichzeitig wurden die Preise für Wohnungen, für die Mieten, die Lebensmittel und die Kleidung teurer, so daß uns die Frage beschäftigte, wie wir das schaffen. Was wird noch werden? Diese alltäglichen Überlegungen hielten uns jeden Tag auf Trab.

    Wenn wir auch nicht darüber sprachen oder aufhörten, vieles von dem zu tun, das wir gewohnt waren, wir haben alles etwas reduziert. Wir gingen abends weniger aus, bestellten nicht die teuersten Gerichte in Restaurants, flogen Low-Cost und verzichteten auf extra Gepäck. Wir machten kürzere Ferien und kauften kleinere Geschenke füreinander. Im Supermarkt kauften wir größtenteils das, was wir brauchten. Wir reduzierten Aktivitäten für Kinder am Wochenende, die teuer waren und gingen, wenn möglich, einfach an den Strand. Es ist kostenlos, nah bei uns und heilt die Seele von Jung und Alt.

    Obwohl der Terrorismus nicht aufhörte – Raketen wurden unverändert aus dem Norden oder dem Süden fast täglich auf uns abgefeuert – bestand doch keine Aussicht auf eine größere Bedrohung aus Gaza und auch nicht von unserer Seite, etwa eine militärische Operation dort. Zu den Drohungen von außen trat ein Streit zwischen rechts und links in Israel – sichtbar in wöchentlichen Demonstrationen in Tel-Aviv und auch andernorts im ganzen Land und es herrschte vielfach ein Gefühl, daß uns der Kapitän am Steuerrad direkt auf einen Eisberg zusteuert.

    Zwei Wochen zuvor befassten sich die Medien mit dem Jubiläum des Yom-Kippur-Krieges von 1973. Ich wurde zu einer akademischen Konferenz eingeladen, die sich mit ihm befasste. Ein Krieg, über den selten gesprochen wird. Es sind das Scheitern, das Misstrauen, die Verlassenheit und der Krieg, der so viele Opfer forderte, die ihn zu einem nationalen Trauma machten. Am 22. September 2023 wurden die Fernseh-Nachrichtenmagazine mit dem Titel „Die Versäumnisse von 1973“ eröffnet, während die Zahl „73“ sich mit der Zahl 23 abwechselt. 

    „Der Jom-Kippur-Krieg bekommt in diesem Jahr eine besondere Bedeutung, es ist das Jubiläumsjahr dieses schrecklichen Krieges. Das Ausmaß des Scheiterns, die falsche Konzeption, die dazu führte, daß die Führung alle Warnungen und roten Ampeln ignorierte und mit offenen Augen in den Abgrund ging – glauben Sie, daß ein solches Versäumnis auch heute noch passieren kann? 54 Prozent des Publikums glauben das. Sieht die Öffentlichkeit etwas, was die Führung nicht sieht?“. So eröffnete Danny Kushmaro das Freitagabend-Magazin am 22. September 2023, genau zwei Wochen vor dem 7. Oktober. 

    Heute Morgen haben die Medien diese Sendung erneut im Fernsehen ausgestrahlt, als wäre es eine Prophezeiung, die wahr geworden wäre.

    Gedenkstunde am 7. Oktober 2024, 20 Uhr vor dem Rathaus von Palma de Mallorca,
    (Foto:  Ibáñez Gutiérrez 

  • 1 Jahr nach dem 7. Oktober!

    Oktober 7, 2024

    nach dem Unfassbaren, dem NIE WIEDER!

    Klagemauer
    Klagemauer in Jerusalem (Foto: privat)

    Mit den jüngsten Entwicklungen im Nahostkonflikt ist ein Ende dieser bewaffneten Auseinandersetzungen in noch weitere Entfernungen gerückt als je zuvor. Im Versuch, die Absichten und Möglichkeiten der beteiligten Seiten zu erkennen und zu wägen, komme ich zum Ergebnis, dass wir eine noch lange währende Konfrontation erleben werden, die derzeit durch keinerlei diplomatische Aktivität – zu dem, was auf dieser Ebene derzeit geschieht, ist mein Urteil noch skeptischer als früher – zu entschärfen möglich ist. Nun sind wir allerdings auch keine Ratgeber und wir sind erst recht nicht parteiisch im Sinne der kritiklosen Parteinahme für eine der kriegführenden Seiten.

    Allerdings erheben wir eine Stimme insoweit, als wir mit der Dokumentation eines ganz individuellen Erlebens von unermeßlichem Leid an eine jedwede aktuelle Politik überwölbende Forderung erinnern, die eigentlich allerorten geteilt werden sollte: Das gegenseitige Töten von Menschen wird nie dazu führen, dass Konflikte – tatsächliche wie vermeintliche – zu einem

    wirklichen Frieden und noch weniger zu einer besseren Welt führen werden. Zu lernen ist aus der Geschichte, das man solche Konflikte nur lösen kann, wenn manvöllig neu darüber nachdenkt, wie wir eigentlich leben wollen, alle damit verbundenen Tatsachen und Konstellationen rückhaltlos, aber zivilisiert erörtert, und so nach neuen Wegen sucht, dem friedlichen Zusammenleben einen Weg zu bahnen.

    Im Nahen Osten stehen im Moment die Chancen dafür schlechter als jemals zuvor – aber gerade deshalb soll und muß die Stimme hierfür erhoben werden.

    G.D.

  • Yulis Tagebuch, Haifa (47)

    August 27, 2024

    „Im Nin’alu„

    Während ich auf die angekündigte Reaktion neuerlicher Angriffe an allen Fronten – oder vielleicht doch alternativ die Freilassung der Entführten? – warte, sehe ich im Fernsehen Filme von den zurückliegenden Gefangenen-Austauschen im November und Dezember des Vorjahres. Sie lösen die zwiespältigsten Gefühle aus – wir sind so macht- und hilflos,  abhängig von all dem, was in Doha entschieden wird … 

    Unter den damals Zurückgekehrten waren Maya und Itay Regev. Besonders an Maya wird man sich erinnern, die, auf Krücken gestützt, die ganze Hilflosigkeit verkörperte. Ihre Geschichte wurde erst Monate nach der
    Heimkehr, in der Rehabilitation erzählt. Maya und Itay Regev waren erst
    am 6. Oktober von einem Familienurlaub in Mexiko kommend in Israel
    angekommen. Die Geschwister fuhren direkt von Flughafen zum Musikfestival und trafen nur Stunden vor dem Überfall dort ein. Beiden
    wurde in die Beine geschossen, so daß ein Entkommen unmöglich war. Zusammen mit ihrem Freund Omer wurden sie in ein Auto gezwungen, das
    sie nach Gaza brachte. Dort brach Maya vor Schmerzen zusammen, bekam ein Medikament, was nicht half  und verlor immer mehr Blut. Schließlich ohnmächtig, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Beim Aufwachen spürte sie, dass ihr Knöchel merkwürdig verbunden war – aber, sie lebte … 
    Heute, nach Monaten der Rehabilitation in Israel, kann Maya noch immer
    nicht auf ihren Füßen stehen. Dennoch ungeachtet dessen, kämpft sie mit aller Kraft für diejenigen, die noch immer in der Hand der Terroristen
    sind und tut, was in ihren Kräften steht, um die Entscheidungsfinder zu beeinflussen. Am 2. April sprach Maya in der Knesseth, um dort den Schrei all jener Mädchen und Jungen, die in der Gefangenschaft gequält werden, hörbar zu machen. 

    Im Film erzählt Maya von den Methoden der Terroristen, ihr Schmerzen
    zuzufügen: „Manchmal nahmen sie Chlor, Alkohol oder Apfelessig und pressten diese Flüssigkeiten in die Schußwunden“. Um sie ruhigzustellen, gab man ihr intravenös Ketamin oder Pethidin. Schon bald bildete sich im Bein Osteomyelitis. Die Rehabilitation hier ist anstrengend, hart und schon manchmal hat Maya Amputationen erwogen, weil sie die Behandlungen ungeheuer anstrengen und erschöpfen. Vielleicht, so der Gedanke, geht es mit einer Prothese leichter …
    In einer späteren Aktion wurde Mayas achtzehnjähriger Bruder Itai
    endlich freigelassen, gemeinsam mit fünf Kindern und sieben Frauen. Und für zwei Entführte russischer Herkunft, wohl eine Konzession an Wladimir Putin, ging die Zeit als Geiseln zu Ende. In jenem Moment kehrten auch
    Menschen zurück, die in der Gefangenschaft von ihren Angehörigen getrennt worden waren. Etwa Raya Rotem (54), die lange zusammen mit
    ihrer Tochter festgehalten wurde. Zwei Tage vor der Freilassung ihrer Tochter Hila verlor sie die Verbindung zu ihr. Nun kehrte auch die Mutter nachhause zurück.

    Raz Ben-Ami (47) war nachts, im Pyjama, gemeinsam mit ihrem Mann entführt worden. Sie leidet an Krebs, befindet sich in einem schwierigen
    geistigen und körperlichen Zustand. Ihre Rettung aus den Händen der Terroristen ist umso wichtiger, da sie in dieser Zeit weder die notwendige medizinische Behandlungen noch Linderung aller damit verbundenen Schmerzen erfahren hat. Yarden Roman-Gat aus Be’eri (36) war gemeinsam mit ihrem Mann und dem
    Baby entführt worden. Kurz vor Gaza gelang dem Vater mit dem Kind auf dem Arm die Flucht. Jetzt kehrte auch Yarden zurück. Liat Beinin- Atzili
    (49), eine gebürtige Amerikanerin und heute Leiterin in Yad Vashem, lebt im Kibbutz Nir-Oz. Ihr Mann ist am 7. Oktober ermordet worden. 

    Ariel Bibas verbrachte seinen 5. Geburtstag in den Händen der Hamas (Quelle: Comunideades Plus)

    Von einem ähnlichen Schicksal wie jenem von Maya und Itay Regev ist hier
    zu berichten: Auch Moran Stella Yanai (40) befand sich noch am 6. Oktober 2023 im Urlaub in Thailand. Sie fuhr am 7. Oktober zum Festival und wurde verschleppt, genau wie Liam Or (18), der im Kibbuz Re’im lebt. 

    Er ist der Cousin von Alma und Noam Or, die gleichfalls entführt waren
    und inzwischen zurückgekehrt sind. Der 17 Jahre alte Ofir Engel, dessen Heimat der Kibbuz Ramat Rachel ist, wurde aus Be’eri verschleppt, wo er
    gemeinsam mit seiner Freundin Yuval die Feiertage verbrachte. Auch Yuvals Vater befindet sich noch heute in den Händen der Terroristen, ebenso wie Amit Shani (16) und Gali Tarshansky (13) aus Be’eri. Gali hatte sich zu Hause mit ihrem Bruder im Sicherheitsraum versteckt. 

    Während Terroristen versuchten, dessen Tür aufzubrechen, flüchteten
    beide durch das Fenster und trennten sich auf der Flucht. Lior wurde ermordet, Gali nach Gaza entführt. 

    Besonders erwähnenswert in diesen Tagen ist: Erneut sind zwei Frauen,
    die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, in die Freiheit entlassen worden: Irina Tetti (73) und ihre Tochter Yelena Trufanova (50). Die gesamte Familie war im Kibbuz Nir-Oz zu Hause. Irenas Mann Vitali war
    noch am 7. Oktober ermordet worden, der Sohn Sasha ist unverändert in den Händen der Terroristen. 

    Nicht alle, die die schreckliche Zeit in Gaza überlebt haben und zurückkehren durften, möchten über das Erlebte sprechen, manche von ihnen sind auch gebrochen und nicht mehr wirklich auskunftsfähig. Es
    bestätigt sich erneut, das manchen Menschen das Erzählen über die zurückliegenden Geschehnisse deren Bewältigung erleichtert oder auch nur
    zu ermöglichen beginnt, aber andere dies nicht vermögen, insbesondere jene, deren Verwandte oder Freunde getötet wurden, sich in Gefangenschaft befinden, die ihr niedergebranntes Haus sehen müssen oder den verwüsteten Kibbuz.

    Solch Trauma nach einer Zeit in der Gewalt von Terroristen bringt ihre
    gesamte Welt zum Einsturz und sie bedürfen dringend der Hilfe. Aber viele Familien in Israel klagen, daß diese Hilfe und Unterstützung
    unzureichend ist und dringend der Intensivierung bedarf. In solcher Situation geht das israelische Parlament für drei Monate – drei Monate –
    in die Ferien. Das macht mich sprachlos. 

    Am 28. November 2023, kurz vor dem sechsten Mal der Rückkehr von einigen
    Geiseln, veröffentlichte der israelische DJ Skazi einen emotional aufwühlenden Film auf seinem Facebook-Konto. Er war nach Re’im gefahren, jenem Ort, an dem das Nova-Festival stattgefunden hatte. Auf dem Feld um ihn herum waren viele Bilder von Ermordeten des Terrors gruppiert, und er ging still zum Pult und legte für sie auf.
    Der Gesang von Ofra Haza  Im Nin’alu  geht zu Herzen, es heißt hier: 

    „Wenn es keine Gnade mehr auf der Welt gibt, die Türen des Himmels werden niemals verschlossen sein. Der Schöpfer herrscht über alles und ist höher als die Engel, alle werden in seinem Geist auferstehen!“ 

    Glaubt mir, Ihr müsst dieses Video sehen!

  • „Du bist gemeint! Nicht der neben Dir. Komm!“

    Juli 24, 2024

    Der 7. Oktober 2023 wird als Datum in die Geschichtsbücher eingehen.

    Der Überfall der HAMAS-Terroristen mit seinen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Greueltaten gegen offensichtlich wahllos aufgegriffene Opfer auf dem Boden Israels, der von Anfang an weit davon entfernt war, ein Krieg im herkömmlichen Verständnis zu sein, sollte offensichtlich einen Flächenbrand auslösen. Und scheinbar geht dieses Kalkül insoweit auf, als die Welt den Atem anhält, und ebenso gebannt wie untätig wartet…

    Die zunächst allerorten dominierende uneingeschränkte Welle der Empörung und der bedingungslosen Solidarität mit Israel ist seither, wozu Israel mit seiner Reaktion gewiss auch plausible Gründe liefert, abgeebbt – statt dessen mischt sich  zunehmende Kritik in die Stellungnahmen und ein Ende der Katastrophe scheint ferner denn je.

    Was freilich unverändert bestürzt und nicht zu akzeptieren ist, sind die propalästinensischen Demonstrationen, die die barbarischen Akte der Terroristen noch immer feiern und skandieren, dass der Staat Israel zu vernichten ist. 

    Die Forderung des Tages heute kann nur lauten: Beendet, und dies richtet sich ausdrücklich an alle in diesen Kampf verstrickte Seiten, den Kampf, findet angesichts der sich mittlerweile türmenden Berge von Leichen, von unzähligen sich gegenseitig zugefügten Wunden und von körperlichen und seelischen Schmerzen, die Kraft, jene Bitte zu erfüllen, die seit Monaten zur vielleicht bekanntesten Losung dieser Auseindersetzung geworden ist: „Bringt sie heim!“

    Das gilt als Forderung des Tages für die unverändert festgehaltenen Geiseln der HAMAS ebenso wie für alle aus ihren Wohnungen vertriebene Menschen, in Gaza, in Israel und andernorts.

    Selbst im schlimmsten Fall, wenn es nur noch ein Leichnam ist, verdient er, nach Hause zu kommen. In den fürchterlichsten zwölf Jahren der deutschen Geschichte, und auch schon zuvor während des Ersten Weltkrieges, starben unzählige Menschen nicht in ihrem Bett. Sie wurden nicht selten grausam getötet, irgendwohin beiseite geschafft, unkenntlich gemacht, zerstückelt, als Asche in den Massengräbern der Schlachtfeldern Europas verscharrt. Es waren einmal Menschen, die vergast, verbrannt, zu Mehl zermahlen, zu Seife verkocht worden sind. Sie kamen nicht zurück, viele sind gänzlich spurlos von dieser Welt verschwunden und dadurch wurden noch größere Wunden geschlagen als durch einen gewissen Tod.

    In der 1948 in Stuttgart herausgegebenen Schrift Euch mahnen die Toten wird berichtet, wie ein zum Tode Verurteilter kurz vor seiner Hinrichtung in Berlin-Plötzensee im letzten Brief schreibt, dass er „diesen letzten Gang mit einem freudigen Lachen“ gehen wird, da er eine Zukunft voraussieht „frei von Haß und voll von Liebe …, in der die Sonne ohne Unterlaß scheint“… „Er sterbe in der Gewißheit, sein Kampf und der vieler anderer sei nicht umsonst gewesen! „

    Es war der Glaube, dass diese Welt nun genug Elend gesehen und erlebt habe, um daraus die Kraft zu schöpfen, sich von der Geisel des Krieges, der Gewalt, des Hasses zu befreien.

    Wenn wir heute solche letzten Gedanken lesen – und derer gibt es genug –, müssten wir uns da nicht täglich, stündlich beschämt fragen: „Was ist aus den Hoffnungen dieser Toten geworden? Sind sie denn alle (schon wieder) vergessen? Wie kann es geschehen, dass man heute in Deutschland Losungen auf den Straßen und während offiziell genehmigter Zusammenkünfte skandieren darf, die Juden eingestehen ließen, dass sie sich in diesem Land nicht mehr sicher fühlen? Sind wir denn von allen guten Geistern verlassen?“

    Wir müssten doch zu Hunderttausenden aus den Häusern drängen, unsere Arbeit liegen lassen und uns zusammen gegen diesen Dreck wehren, ihm Einhalt gebieten, ja, mit Wasser  und Besen gegen ihn zu Felde ziehen. Denn auch hier, gerade hier, gilt doch noch immer, vielleicht mehr als je zuvor, der Aufruf des namhaften Intellektuellen, den er zugleich zum Titel seiner Streitschrift bestimmte: „Empört Euch!“

    Aber was geschieht …? Kleine Grüppchen von mutigen Menschen wagen es,  friedlich gegen all die Ungeheuerlichkeiten zu demonstrieren! Da sieht man keine eskortierende Polizei, auch keine mediale Begleitung. Sie wirken verunsichert und warten auf etwas … und dieses etwas wäre , dass „wir wie das Meer, dass seine Dämme bricht“ zu Ihnen eilen würden und die Wälle würden brechen!

    Demonstration in Innsbruck am 07. Juli 2024 (Foto privat)

    Auf Dich, auf uns kommt es an!!! Jetzt gilt, dem gegenseitigen Hinschlachten Einhalt zu gebieten, Leben zu retten und den Ruf nach Frieden unüberhörbar zu skandieren – und damit auch die vielen Toten, die für uns und für eine hellere Welt gestorben sind, nicht zu verraten!

    aus: Social Media. Ein israelischer Vater in Washington, dessen Sohn im Krieg getötet wurde…

  • Es zogen einst…

    Juni 28, 2024

    Es zogen einst,  wie es im Lied heißt, nicht fünf ……sondern  Millionen junger Männer ganz Europas  in zwei Weltkriege, Millionen dieser jungen Menschen „fielen“ auf beiden Seiten für die Vaterländer. Sie fielen nicht um, sie verreckten, erfroren, verhungerten, wurden zerfetzt von Bomben und Granaten, kamen in Gefangenschaften oder wurden körperlich zum Krüppel und seelisch schwerst traumatisierte Menschen. Familien wurden zerstört, Kinder ohne Väter wuchsen heran, Frauen ohne Männer…

    Wollen wir das wirklich alles noch einmal erleben?

    Der Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. besteht seit 1916 und ist der größte Bund weltweit. Er stand kurz vor der Auflösung wegen „Nachwuchsmangels“…! Nun wird er wieder tätig sein müssen, um unserem törichten Europa mit seinen aus großem Leid erworbenen Erfahrungen zu helfen. Mit dem Bau jedes Panzers sollte der Bau einer Reha-Einrichtung einhergehen. Davon hört man nichts bei Debatten in den Parlamenten …

    Mit Erlaubnis der Redaktion und des Vorstandes finden Sie hier einige Beiträge aus den finsteren Zeiten, denen der Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. seine Entstehung verdankt….

     

    Ein Schwerverwundeter wird mit sogenanntem Tandem zum Feldlazarett transportiert (aus BDK) 1916-1991)
    Hugo Brenner, Kriegsblinder Ohnhänder, es gelang ihm, sich selbst mit Wasser und Seife dank der Krukenberg-Hand zu waschen (aus: BDK 1916-1991)

    Die Krukenberg-Plastik, auch bekannt als Krukenberg-Operation, ist eine Operationstechnik, bei welcher der Unterarmstumpf in eine Art Schere aufgeteilt wird. Diese Technik wurde im Jahr 1917 erstmals vom Chirurgen Hermann Krukenberg beschrieben und im Ersten Weltkrieg angewendet. Heutzutage wird sie nur in wenigen Fällen praktiziert und von manchen Chirurgen abgelehnt. Im Jahr 1981, dem Jahr der Behinderten Menschen, wurde sie mit zwei Briefmarken in Bangladesch geehrt. (aus: Wikipedia)

    Von der armseligen staatlichen Unterstützung konnten die Verwundeten des Zweiten Weltkrieges 1946 nicht leben, auf dem Stachus in München bettelten sie um Almosen (aus: BDK 1916-1991)
    Maximilian Reicher *1917 verwundet an der französischen Atlantikküste, seit 1944 blind und Ohnhänder wird von seinem Enkel Dominik geführt

    NIE WIEDER ANTISEMITISMUS und NIE WIEDER KRIEG VON DEUTSCHEM BODEN AUSGEHEND!

    me

  • „Krieg, Krieg …wisst Ihr denn was Ihr tut?“

    Juni 12, 2024

    aus Egmont, von Johann Wolfgang von Goethe


    „Es ist Nacht, die Ehepaare legen sich in die Betten. Die jungen Frauen werden Waisen gebären!“ (B.Brecht)

    Ich bin ein solches Waisenkind, mein Vater wurde seit einem Panzerangriff, der in Richtung Wolga zielte, vermisst. Ein unauslöschliches Bild meiner Kindertage begleitet mich bis heute: die Ankunft von Transporten von verwundeten und verstümmelten Kriegsgefangenen auf allen erreichbaren Bahnhöfen zu erwarten, immer auf der Suche dann durch die Reihen der verstümmelten Männer zu gehen, das unaussprechliche Elend aus nächster Nähe zu erfahren und immer wieder allein nach Hause zurückzukehren.

    In meiner Mädchenklasse, die 36 Schülerinnen umfaßte, hatte ein einziges Kind einen Vater. Wir fragten es immer wieder neugierig aus, wie das denn so sei und schlichen ihm nach.

    Faktisch alle Männer, die ich kannte, waren durch die Kriegshölle gegangen. Vaters Eltern wurden achtmal ausgebombt, sein Bruder fand im Januar 1942 in Russland den Tod. Meine Mutter rettete das nackte Leben aus dem brennenden Hannover. Auf eine Güterzuglokomotive gebunden und unter Beschuss im Winter 1941 nach Leipzig gebracht, kam ich dort zehn Tage zu spät zur Welt. 1944 als zweijähriges Kind war ich drei Tage verschüttet, der Mutter gelang zusammen mit einem zehnjährigen Jungen, mich auszugraben, 15 Menschen waren tot neben uns. Im Februar 1945 wurde ich Augenzeuge des verheerenden Bombenangriffs auf Dresden. Wir waren evakuiert worden, befanden uns etwa zehn Kilometer südlich des Stadt und sahen den Feuerzauber voller Angst, dass er auch uns treffen könnte. Ich lernte in dieser Nacht meinen Namen auswendig – zu viele verwaiste Kinder irrten bereits namenlos herum.

    Dann Tag der Befreiung – die kleine Stadt wurde zur Plünderung und Vergewaltigung freigegeben … es war eines der ersten Worte, die ich lernte, die 60jährige Tante hatte es getroffen. Dazu Hunger, Schwarzmarkt, langsames Einrichten in der neuen Wirklichkeit. Die Familie war in alle Winde zerstoben, und noch nicht volljährig, verlor ich die Mutter.

    Ich fand Freunde, heiratete zweimal, aber jeder dieser Männer schleppte ein Kriegstrauma mit sich herum. Sie schrieen manchmal nachts oder sprachen viel, im Alter fast ausschließlich davon. Ich hörte zu, um so auch etwas über den schmerzhaft fehlenden Vater zu erfahren. Später, nach dem Medizinstudium in Hamburg, ging ich in den Schwarzwald, dort übernahm ich für fast 16 Jahre die Leitung einer Kurklinik für Kriegsblinde. Es waren entstellte, an Gliedern amputierte und schwer psychisch traumatisierte Menschen darunter. Taub- Blinde, Männer zuweilen selbst ohne Hände, keiner von ihnen hat später jemals seine Frau, seine Kinder, seine Freunde sehen können. Aber es waren wunderbare Menschen darunter – engagiert, überzeugt, dass ihr Schicksal als Schlussstrich aller Kriege stehen würde. Sie haben studiert, gearbeitet und waren stolz darauf. Vor etwa fünf Jahren wurde das letzte Haus der Kriegsblindenversorgung geschlossen

    Den Balkankrieg erlebte ich wieder näher durch Kontakte zu jugoslawischen Freunden und konnte oft helfen. Der Krieg Russlands mit der Ukraine ist für mich emotional besonders schwierig zu verkraften. Deutschland hat die Sowjetunion im Juni 1941 überfallen – was haben wir dort zu suchen gehabt ? Millionen russischer Menschen sind dadurch gestorben – mein schöner junger Vater in seinem deutschen Panzer an der Wolga … verschollen! Jahrzehntelange Albträume, immer wieder enttäuschte Hoffnung auf eine Rückkehr.

    Und nun Israel!! Vom Fluss ins Meer, wie skandiert wird und das deutsche NIE WIEDER hört sich nur noch kläglich an. Meine Kultur ist christlich-jüdisch, alles was wir seit dem Mittelalter und besonders seit der Aufklärung an deutscher Kultur haben, ist wie eine Doppelhelix aus diesen beiden Strängen Judentum und Christentum gewachsen, hat sich befruchtet und in der Konkurrenz immer schöner entfaltet. Können Sie sich ein Leben ohne Heinrich Heines Lyrik vorstellen? Sein „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ ist wieder hochaktuell, und wird von links und rechts benutzt. Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, die Familie Thomas Mann, Franz Werfel, Gustav Mahler, Felix Mendelssohn Bartholdy – er spielte Goethe als Kind in Weimar vor. Wir hatten mit jüdischen Menschen zusammen gelebt und haben geduldet, dass man sie ohne Verteidigung aus ihren Wohnungen holte und irgendwohin schickte …, es war das Gas. Es gab Schiffe, mit denen sie fliehen wollten, aber kein Land der Erde hat sie an Land gehen lassen.

    Jetzt, nach diesem grauenvollen Anschlag der HAMAS sitzen wir eingeschüchtert da und meinen: „Ja, aber man muss doch auch die andere Seite verstehen …?“ Da ist sie wieder, diese törichte Meinung, wenn die Juden aus Palästina weg sind, wird es dort Frieden geben. Ja, vielleicht sind sie dann tot oder in einem neuen Theresienstadt angesiedelt…

    Krieg ist das Schrecklichste, was es gibt, es wirkt durch Generationen und verroht die Menschen, verstümmelt die Körper und die Seelen für immer. Wie soll die Welt denn damit besser, grüner, schöner werden? Jeder Kampf gegen CO2 ist doch lächerlich, wenn nebenan dieses Entsetzliche geschieht!

    Logo des Bundes der Kriegsblinden Deutschland e.V.aus Wikipedia

    Yuli aus Haifa lässt uns, so oft sie es schafft, in Tagebuchform an ihrem jetzigen Leben teilhaben. Sie ist Kulturwissenschaftlerin, hat in Deutschland promoviert, publiziert hierzulande und hat einen fünfjährigen Sohn. Wie lebt es sich da, unter der Bedrohung und voller Angst…? Sie können es auf unserer Seite lesen. Bitte leiten Sie den Link weiter, denn wir wollen, ganz so, wie es Victor Klemperer tat, Zeugnis ablegen!

    Andere europäische Länder können vielleicht ein anderes Verhältnis zu Israel haben und dafür Argumente in’s Feld führen, für uns Deutsche gilt das nicht. Wir stehen angesichts unserer Geschichte im 20. Jahrhundert in einer ethischen und moralischen Verpflichtung zu Israel, in unserer Kultur der Erinnerung wird das immer so sein. Nachkommende Generationen trifft keine indivduelle und auch keine kollektive Schuld mehr, aber zur Verbindung von Vernunft und einer angemessenen ethischen Haltung sind wir unauflöslich verpflichtet.

    A.C.M.

  • Yulis Tagebuch, Folge 30

    Juni 2, 2024

    Routine im Krieg

    Im November kehrten wir in gewisser Weise zur Routine zurück. Ich weiß aber ehrlich nicht, ob man es Routine nennen kann. Es war ein bisschen so, als würde man Verrückte ohne Medikamente auf die Straße schicken.

    Die Huthi schießen aus Jemen Boden-Boden-Raketen ab und drohen mit einem erneuten Angriff. Nasrallah hält gleich seine Terrorrede, während dutzende Raketen aus Libanon täglich abgefeuert werden. Terrorgruppen im Westjordanland drohen ebenso mit Gewalt. Trotz alldem begann die Schule wieder und Menschen müssen wie Menschen eben arbeiten, um zu essen. Routine.

    Ich entschied mich, dass wir, solange der Krieg währte, nicht nach Haifa zurückkehren. Folglich geht mein Sohn ab jetzt zu einem neuen Kindergarten in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Glücklicherweise – oder vielmehr nicht – waren in dieser Zeit ganz viele Evakuierte aus dem ganzem Land im Zentrum und die Kindergärten mussten neue Kinder aufnehmen. 

    Die Kindergärtnerinnen kümmerten sich um die Integrierung der neuen Kinder mit pädagogischen und psychologischen Werkzeugen, aber deren Wirkung war insgesamt unerheblich. 

    Die Integration ist nur ein Problem aus den vielen Schwierigkeiten, mit denen diese Kinder zur Zeit konfrontiert werden. 

    Die meisten von ihnen brauchen intensive Therapie, das kann der Kindergarten nicht bieten. 

    Für Kinder, die zu einem fremden Kindergarten, in eine fremde Stadt gehen müssen, weil Terroristen ihre Verwandten und Nachbarn geschlachtet haben und Raketen auf ihre Häuser ununterbrochen abgefeuert werden, ist nichts normal. 

    Allerdings verhalten wir uns gerade so, als ob es das wäre…

    Nachdem wir der WhatsApp-Gruppe des Kindergartens beitraten, gab es in der Gruppe der Eltern eine Debatte darüber, ob am Kindergarteneingang eine Straßenkamera installiert werden sollte. 

    Der Mangel an Vertrauen bei Menschen war so schlimm, dass eine Mutter behauptete, sie würde ihre Tochter ohne Kameras nicht zum Kindergarten bringen. Ich fand es ein bisschen komisch, dass die hysterischste Mutter in der Gruppe tatsächlich eine Amerikanerin war, oder vielleicht ist es nicht überraschend. Und als wir am Kindergarten morgens ankamen, standen bewaffnete Soldaten und Polizisten am Eingang. So eine Sicht beruhigt wahrscheinlich manche Eltern, aber mich hat es nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. 

    Das zeigt mir, wie schlecht die Situation ist. 

    Zuhause fühlte ich mich noch schlimmer bei der Vorstellung, dass ich während eines Krieges meinen Sohn mit drei Kindergärtnerinnen und nicht weniger als 30 Kindern zurücklasse. Ich fühle es so, als ob ich ihn im Stich lasse. Deswegen war ich zuhause wie eine geladene Waffe, schussbereit bei jedem Fall zum Kindergarten loszurennen. 

    Mein Sohn distanziert sich oft von großen Gruppen. Er spielt lieber mit einem oder zwei Kindern, zu denen er eine gute Bindung aufbauen kann. Er ist ein Kind der Qualitäten, nicht der Quantitäten. Kurz gesagt, ein Kind mit dem Charakter eines Erwachsenen. Deshalb machte ich mir keine Sorgen um seine Integration in der neuen Umgebung. Gott sei Dank, anders als ich, kommt er überall zurecht.

    Das Bildungsministerium organisiert Zoom-Vorlesungen mit Psychologen und anderen Fachleuten für die besorgten Eltern, und zusätzlich richtet es eine Hotline in verschiedenen Bereichen für Studierende und Eltern ein. 

    Die Universitäten bieten auch Gespräche mit Experten, sowohl für die Studenten als auch für die Mitarbeiter an. Jedoch hatte ich nicht das Bedürfnis, über Dinge zu diskutieren. Ich wollte weiterhin putzen, Wäsche waschen, und ungeduldig jeden Tag darauf warten, mein Kind abzuholen.

    Zeitgleich mit den Aktivitäten des Bildungssystems haben auch die Nachmittagsaktivitäten wieder begonnen. Ich meldete mich und meinen Sohn sofort für Krav-Maga an.

    Selbstverteidigung fand ich wichtiger im Moment, als über meine Ängste zu reden. Ich wollte mich aus dieser Hilflosigkeit herausholen. Und wenn es niemanden gibt, der uns beschützt, müssen wir lernen, uns selbst zu schützen. 

    Kredit: Foto von der Facebook Seite von Michael Hans Höntsch
  • Yulis Tagebuch, Folge 29

    Mai 26, 2024

    Hurricane

    Zwischen dem Song „Hurricane“ und dem Originalsong „October Rain“ gibt es eigentlich keinen großen Unterschied. Im Grunde wurde der Titel „Hurricane“ gegen die Worte „October Rain“ ausgewechselt. Es gibt auch keinen Unterschied in der inneren Bedeutung des Songs. Jedoch, das Wort „Oktober“ war eine Provokation für die Europäische Kommission und sie konnten es einfach nicht annehmen. Das heißt, es kommt nicht auf die Bedeutung an, sondern darauf, wie der  Song interpretiert werden kann. Nicht der Inhalt, sondern die Hülle. Apropos Hülle, Schalen und Früchte: Das niedliche Symbol des Protests in den Farben der palästinensischen Fahne wurde durch das Zeichen einer geliebten Frucht ersetzt. Schmackhafter, süßer, bestens kalt serviert, rot mit grüner Schale und schwarzen Samen. Wisst Ihr schon welche Frucht ? Ich mag auch Wassermelone. Jedes Mal, wenn Ihr eine Wassermelone esst, denkt jetzt an Palästina. „Contemporary“ halt… 

    Im Jahr 2024 vertrat Eden Golan Israel beim Eurovision Song Contest. Sie musste unter der Sicherheit des Shin-Bet in Schweden ankommen. Von tausenden von Polizisten, Scharfschützen auf den Dächern des gesamten Komplexes und verdeckten Polizisten bewacht vom Flugzeug aus einsteigen, im Hotel, bei Proben und in jeder restlichen Sekunde in Malmö. Und das alles, um halt einen Song zu singen. Wenn ich diese Worte schreibe, kommt es mir vor wie das Bild einer jüdischen Frau Ende der dreißiger Jahre in Europa, die den Nazis zu entgehen versucht. Eden Golan ist die „Contemporary“ Marlene Dietrich. (Ich wollte halt „contemporary“ nutzen, damit es ebenso cool anzuhören ist.) Anscheinend sind wir in Europa nach 100 Jahren wieder am Ausgangspunkt angelangt. Um ein Jude in Europa zu sein, muss man sich verstecken, sich entschuldigen, sich bücken oder einfach den Mund halten. Also bleibe ich in Israel, denn wohin könnte ich sicher mit meinem Sohn reisen, der fast ausschließlich Hebräisch spricht? Wie oft kann man einem kleinen Kind sagen, es solle „leise sprechen“, denn es ist gefährlich, Hebräisch in Europa zu sprechen.

    Eden, ein 20-jähriges Mädchen mit phänomenalem Gesangstalent, betrat die Bühne und hat die „Buh‘s” des Publikums gehört. Das war bisher noch nie passiert. Weiterhin hat das israelische Team erzählt, dass die meisten Mitglieder der Delegationen nicht bereit gewesen seien, mit den Israelis Fotos zu machen. Sie forderten Eden sogar auf, sie in Edens Social Accounts nicht zu markieren und Posts mit ihnen zu löschen. Es sollte niemand sehen, daß sie freundlich zu Eden waren und sie mit ihr Fotos gemacht haben… 

    Der Schweizer, Nemo, der dann gewonnen hat, distanzierte sich gleichfalls vom israelischen Team, trotz der Punkte die er vom Hurricane-Komponisten für die Musik erhielt.

    Dann kam die Pressekonferenz, wo ein polnischer Journalist Eden fragte: „Glauben Sie nicht, dass Sie Menschen gefährden, wenn Sie hier sind?“ Als Eden redete, gähnte die  Vertreterin aus Griechenland und der niederländische Vertreter zog  sich  ein Tuch über den Kopf. Klassisches Europa, auf jeden Fall. 

    Die ganze menschliche Hässlichkeit wurde beim Eurovision Song Contest verkörpert. Und die Masken, das Make-up und die Musik waren nicht die schrecklichsten Dinge dabei. Abseits der Bühne passierten weitaus schrecklichere Dinge.

    Überraschenderweise (und ich schließe normalerweise nicht mit einer positiven Note ab, um eine Illusion zu erzeugen. In dem Sinne bin auch kein Fan amerikanischer Filme), erhielt Israel vom Publikum in 14 Ländern Douze Point, am meisten von allen Teilnehmern im Wettbewerb. Sogar aus Belgien, wo es eine Aufschrift am Fernsehen „Wir verurteilen Israels Menschenrechtsverletzungen“ vor Edens Auftritt gab und gleichfalls aus dem spanischen Publikum, dessen Regierung plant, einen palästinensischen Staat einseitig anzuerkennen. Aus Portugal, dessen Vertreterin sich entschieden hat, Wassermelonen auf ihre Nägel zu malen, und auch aus Australien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, San Marino, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.

    Allerdings vergaben die Juroren, eine sehr niedrige Punktzahl mit einem erheblichen Abstand zur Publikumswahl – was normalerweise nicht der Fall ist – und Eden belegte daher den fünften Platz.

    Was die Publikumswahl anging, verließen die Israelis die Eurovision mit einem Siegesgefühl. Gleichzeitig gibt es eine bittere Erinnerung an den Empfang im Wettbewerb und wie die anderen Mitglieder sich der israelischen Delegation gegenüber verhielten. 

    Aber wer seid Ihr, die Ihr für den israelische Song gestimmt habt? Warum drückt Ihr  Eure Stimme nicht lauter aus? Warum werden vernünftige Stimmen in den Medien nicht gehört? Warum ist die Unterstützung für Israel für mich so überraschend geworden? 

    Weil ich vorher dachte, dass es die Welt nicht mehr gibt. Warum muss jedes Mal etwas großes passieren, damit sich etwas ändert und die Menschen ihre Augen öffnen? 

    Vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, die Weltordnung zu verändern, und zwar nicht durch die Hände der Schuldigen, sondern durch eine Macht, größer als die Menschen, eine Katastrophe vom Ausmaß einer Naturkatastrophe, etwas so Tödliches wie einen Hurrikan.

    https://www.youtube.com/watch?v=K60BWlEhtAA. 

  • Yulis Tagebuch, Folge 28

    Mai 25, 2024

    Eurovision

    October Rain

    Der Oktober ist vorbei und viele andere Dinge mit ihm.  Ich möchte Euch schon erzählen, was im November passiert ist, aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich statt über den andauernden Krieg über einen Songwettbewerb schreiben würde. Der „Eurovision Song Contest“ von dem ich bezweifle, daß irgendjemand daran interessiert gewesen wäre, wenn nicht das kommerzielle Fernsehen den Eurovision Song Contest zu einem Gesprächsthema gemacht hätte. Es handelte sich auf jeden Fall um eine öffentlich seit Jahren bekannte „Show“, von dem die Zeitungen Monate vorher schon schreiben.

    Ich möchte glauben, dass ich ganz objektiv bin, wenn ich sage, daß der Eurovision Song Contest in den letzten Jahren wie ein Zirkus aussieht und die meisten Songs sind einfach….schlecht. Unter anderem mag ich Rock. Ich bin mit Nirvana, Megadeth, Metallica, Guns and Roses sowie mit Punk und Hip-Hop aufgewachsen und deshalb (eventuell) irritieren mich die seltsamen Masken und Kostüme nicht. Ich bin auf die Musik fokussiert und nicht auf die Kulisse. Aber auch diese sollen mit Geschmack gemacht werden. Hauptsache ist die Musik und die soll auch gut sein. Meistens ist das nicht so. „Contemporary“… sag nicht mehr modern oder post-modern – schon alte und unrelevante Worte – alles ist jetzt „Contemporary“. „Contemporary“ Tanz, Musik… u.a.  bedeutet es, die Verbindung oder Kombination zwischen verschiedenen/andereArten, Styles, Genre usw. in einer Kreation.  

    Dieses Jahr versuchte das Publikum in vielen Ländern, und auf unverhohlene Weise, Israel vom Eurovision Song Contest auszuschließen. Viele der jungen Leute, die sich nicht gut mit Geschichte auskennen, verglichen Israel mit Russland, und behaupten, wenn Russland am Eurovision Song Contest nicht teilnimmt, sollte es Israel ebenso nicht. 

    Abgesehen von der kleinen Tatsache, dass Israel keinen Krieg gegen Gaza begonnen hat und gegen Gewalt fanatischer anti-westlicher Terroristen kämpft. Russland ist im Gegensatz dazu, in ein Land in Europa einmarschiert und droht sogar mit der Invasion anderer europäischer Länder, wenn diese der NATO beitreten. Kleine Unterschiede für Studenten in den besten Universitäten der Welt. Mit dieser Generation geht die Welt nur nach unten.  

    Wenn schon, dies lässt sich vielleicht mit der amerikanischen oder britischen Invasion in Afghanistan vergleichen. Allerdings, damals ist die Teilnahme Großbritanniens am Eurovision Song Contest überhaupt nicht in Frage gestellt worden. Aber solche Kritik ist gerade auf Social-Media nicht aufgekommen. „Contemporary“ Meinungen halt…

    Ursprünglich hieß der israelische Song zum Eurovision Contest  „October Rain“. Der Song wurde abgelehnt, weil er als zu politisch angesehen wurde. Es stimmt, daß der Song unter dem Eindruck der Ereignisse vom letzten Oktober geschrieben wurde, aber ist der Song politisch? Ich denke nicht.

    Lasst mich aus dem abgelehnten Song zitieren

    Writers of the history
    Stand with me
    Look into my eyes and see

    People go away but never say goodbye
    Someone stole the moon tonight

    Took my light

    Everything is black and white

    Who’s the fool who told you boys don’t cry

    Hour and hours and flowers
    Life is no game for the cowards
    Why does time go wild
    Every day I’m losing my mind
    Holding on in this mysterious ride

    Dancing in the storm
    We got nothing to hide
    Take me home
    And leave the world behind
    And I promise you that never again
    I’m still wet from this October rain
    October Rain

    Es ist hauptsächlich politisch, da der Song unmittelbar unseren Schmerz zum Ausdruck bringt. Daher wurde dieser Song disqualifiziert und ebenso ist die israelische Perspektive auf die Ereignisse in den globalen Medien. Unser Schmerz ist in dieser ganzen Geschichte marginal, und wir dürfen darüber nicht singen. Wir haben zu viele Erwartungen an diese Welt gehabt…

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