Einen Kreis schließen
Ich bin heute in Haifa. Ich bin allein hergekommen, um die Post abzuholen und ein bisschen aufzuräumen. Ich hatte das Gefühl, dass es Zeit wäre, nach Haifa zurückzukehren. Denn ich habe im letzten Jahr zu viele schmerzhafte Gefühle und Erinnerungen mit mir herumgetragen und ich spüre, dass ich meine private Sphäre brauche, um all diese Wunden zu heilen.
Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich bis jetzt keine besseren Nachrichten überbrachte, und dass ich selbst von hier aus keine Macht habe, die Realität zu ändern. 100 Entführte sind immer noch in Gaza, jeder Tag in dieser Hölle schwächt sie noch mehr, und uns ebenso. Denn wir leben in der Gefangenschaft des Trauerns.
Seit dem 7. Oktober ist die erste Push-Nachricht von Haaretz, um etwa 6 Uhr morgens an jedem Tag, die Anzahl der Entführten und die Tage in der Gefangenschaft zu nennen sowie alles, was vom vergangenen Tag zum Thema zu berichten ist. In Ynet, der größten Zeitung Israels, sind seit dem 7. Oktober die Fotos der Entführten, lebend oder tot, abgedruckt, versehen mit einem Zitat der Mutter, des Vaters oder der Geschwister. Jeden Tag, pausenlos.
Nun teilte die Familien der Entführten zuletzt mit, hochrangige Beamte hätten ihnen in privaten Räumen gesagt, dass es kein Abkommen geben wird. Das steht im Gegensatz zu den Botschaften in den Medien, die eine Hoffnung nährten, wonach wir „schon lange nicht mehr so nah an einem Abkommen waren“.
Im allgemeinen dehnen sich die Nachrichten in Israel über das große Desaster vom 7. Oktober aufgrund der laufenden Ermittlungen – jedes Mal wird von einem anderen Geheimdienstoffizier erzählt, der über den Plan von Hamas berichtet hat, von einem Kommandanten, der den ihm vorgelegten Bericht ignorierte oder nicht so ernst genommen hat … – immer weiter aus. Dazu treten Berichte über die Entführten und ihre Familien, bis zur absurden Situation, in der wir uns gerade befinden. Politisch, ökonomisch, oder wie jetzt, wo wir inzwischen im Herzen Syriens kämpfen. Wer hätte gedacht, dass die syrische Regierung so schnell fallen gelassen wird und Israel in wenigen Tagen eine jahrzehntealte Bedrohung aus Richtung Syrien beseitigt und dass sich so schnell eine neue Bedrohung bilden würde?
Die israelischen Comedy-Shows kommentieren die Lage meist sehr zynisch. So wurde beispielsweise erwähnt, dass wir keine Not an Skigebieten [dem syrischen Golan] haben, im Gegensatz zu der Not, die Entführten zurückzubringen. Ich weiß nicht, wer den globalen „Verkehr“ regelt, aber ich habe das Gefühl, dass es genau derjenige ist, der gestern Abend in Magdeburg den Anschlag initiiert hat. Der Terrorist. Ein Angriff durch Überfahren ist einer der schlimmsten, tödlichsten, unvorhersehbarsten und nicht aufzuhaltenden Angriffe, die es gibt. Im vom Terrorismus geplagten Israel wurden vielerorts Eisenpfähle auf den Gehwegen entlang der Straße aufgestellt, um solche Situationen zu verhindern. Aber es hört trotzdem nicht auf, der Terror findet immer wieder seinen Weg in die Dunkelheit. Und es ist nicht das erste Mal, dass es in diesem Zeitraum in Deutschland zu einem solchen Angriff mit einem Auto kommt (2016 kam es in Berlin zu einem Anschlag, bei dem zwölf Menschen ermordet und Dutzende verletzt wurden. Zwei Jahre später kam es unweit des Eiffelturms zu einem Anschlag, und es gab immer wieder solche Versuche, die glücklicherweise vereitelt worden sind).
Es ist nicht nötig, die Liste der Angriffe hier aufzuführen, denn die Liste mit der Zeit wird wachsen: Angriffe gegen Juden und Christen durch Muslime, die in westlichen Ländern leben, die den Juden Verbrechen gegen sie vorwerfen.
Deshalb ist „das Schließen eines Kreises“ eher eine Notwendigkeit als eine Realität. Gerade jetzt, wo immer noch Raketen abgefeuert werden und die Angriffe weitergehen, weiß ich wirklich nicht, wie dieses Jahr enden wird und wie das Leben weitergeht, es wird ein Alltag des Terrors sein, kein Alltag des Friedens und von Normalität geprägt sein.
Ich weiß nicht, ob der 7. Oktober jemals enden wird und die Entführten zurückkehren werden. Ich weiß nicht, ob ich für immer oder nur für eine Weile hierher zurückkehren werde. Und ich hoffe, dass ich IHN nicht wiedersehe, und dass ER sich nie wieder bei mir meldet. Ich möchte glauben, dass es anders sein wird. Ich möchte daran glauben, dass ich mich bald wieder verlieben werde und dann neue Pläne für die Zukunft mache, die Welt bereise, ohne Angst vor Antisemitismus und Hassbekundungen zu haben. Ich möchte voller Optimismus sein, und wieder aus Freude und nicht aus Verzweiflung lachen.
Vor einem Jahr, als noch der Geruch von Blut und Rauch in der Luft dieses kleinen Land lag, begann ich, diesen Blog zu schreiben. Seitdem ist viel geschehen, und Ihr habt mich nicht im Stich gelassen. Und dafür möchte ich mich bei Euch von ganzem Herzen bedanken. Das Einzige, was zählt, sind Sie, die Sie sich die Zeit nehmen, zu lesen, was ich schreibe. Danke Ihnen. Nächste Woche, am 31. Dezember, schreibe ich die letzte Folge für Sie und wir verabschieden uns.