Kategorie: Yulis Tagebuch, Haifa

  • Yulis Tagebuch, Folge 13

    Jüdischer Weltkongress
    Ein Graffiti in Dortmund vergleicht Juden mit Nazis

    Therapie

    Die IDF (Israel Defense Forces) bereitet sich auf die Invasion der Infantry in den Gazastreifen vor und der Krieg im Norden beginnt sich parallel auszuweiten. Von Syrien aus wurden täglich Raketen auf Galiläa und die Golanhöhen abgefeuert. Als Reaktion dagegen hat die IDF die Stellungen von Hisbollah sowohl in Syrien als auch im Libanon angegriffen. Inzwischen droht der Iran mit einer Attacke und die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, Russland habe dem UN-Sicherheitsrat einen Vorschlag vorgelegt, in dem es einen humanitären Waffenstillstand in Gaza fordert.

    Der Vorschlag fordert auch die Freilassung der Entführten, die Bereitstellung von Zugang zu humanitärer Hilfe und die sichere Evakuierung von Zivilisten. Russland wie auch Iran, die ihre eigenen Bürger terrorisieren, sind besorgt um die Gazaner, die unter der Terrorherrschaft leben und diese Organisation sehr stark unterstützen. Jetzt wollen die Länder für Gaza aufstehen. Insgesamt macht dieses böse Dreieck für sich Sinn.

    Das erste Wochenende nach dem 7. Oktober war hart. Es brachte uns auf psychologischer Ebene zum Samstag, dem 7. Oktober zurück. Die Gebete in den Synagogen hörten sich anders an. Das Abendessen ist ohne großen Appetit gegessen worden und „Entspannen“ fühlte sich ziemlich unbequem an.

    Wie könnte man den Shabbat genießen und sich mitten im Krieg ausruhen, wenn es nicht weit von zuhause Entführte und Tote gibt?

    Sobald das Wochenende begonnen hat, haben die Menschen darauf gewartet, dass es zu Ende geht.

    Nachdem das Gesundheitsministerium alles mögliche Personal mobilisiert hatte, um den Zehntausenden von Evakuierten, den Familien der Entführten, den Familien der Toten, Verwundeten usw. zu helfen, wird im Fernsehen am Freitag gemeldet, dass das psychische Gesundheitssystem in Israel durch die Überlastung zusammenbricht.

    Die psychischen Verletzungen sind eine wichtige Front im Krieg. Sie schwächen die Zivilbevölkerung an der Heimatfront und ziehen benötigte Ressourcen ab. Schließlich zielt der Terror genau darauf ab, nämlich auf die Angst, Panik und die Unsicherheit, die er verbreitet. Und zwar so: Von Beruf bin ich Holocaust- Forscherin und Dozentin für Terrorismus und Medien. Nun zielen diese beiden Themen, mit denen ich mich täglich jahrelang beschäftige, direkt auf mich. Und während schon über den Holocaust und den Terrorismus zu forschen und unterrichten keine leichte Aufgabe ist, bleibt es für mich unerträglich, dass mein kleiner Sohn sich mit Krieg und Terror schon auseinandersetzen muss und er ist noch nicht 6 Jahre alt.

    Aber heute ist Freitag, und wie ich es gestern entschieden habe, sitzt er jetzt vor dem iPad und schaut sich die Sendung an, die ihm den Krieg in Kindersprache erklärt. Oh Mann, das ist so schrecklich!

    Als er sich die Augen wischte, war ich aber ein bisschen erleichtert, da die Spannung irgendwie erlöst wurde. Er möchte aber über die Videos mit mir nicht reden. –„Bist du sicher?“ – „Mama, ich bin o.k., hör auf damit”. Anscheinend brauchte er etwas wie diese Videos, damit er seine Gedanken und Gefühle in Ordnung bringen kann und daran scheiterte ich irgendwie.
    In jedem Haus läuft es natürlich anders. Mit älteren Kindern kann man über den Zustand offener reden. Mit jüngeren gibt es weniger Erklärungsbedarf. Aber in seinem Alter ist es sehr komplex.

    Er versteht, dass etwas passiert ist. Er hört die Explosionen und spürt den Druck, aber wie kann man mit einem kleinen Kind über Kriege und Terror reden, ohne die Seele und seine naiven und guten Gedanken zu zerstören?

    Ab Sonntag beginnen mancherorts, je nach Ausmaß der Bedrohung, die Schulen mit dem Lernen in Zoom. Es besteht jedoch keine Verpflichtung, jetzt die Kinder in die Schule zu schicken. Mittlerweile ist auch die Semestereröffnung an den Universitäten verschoben worden, weil die meisten jungen Männer eingezogen werden und es keinen Sinn macht, das Semester zu eröffnen, wenn die Hälfte der Klassen aus zum Krieg eingezogenen Reservisten besteht. Am Samstag gab es aber Sirenen fast im ganzen Land, und ich schwöre es euch, ich gab mir Mühe, mich zusammenzureißen. Aber es war zu viel für mich. Ich habe ihm eine Nachricht geschrieben: „Bist Du auch rekrutiert worden? Ich mache mir Sorgen um Dich.“

    Therapie
    Avshalom Sassoni/Flashgo
  • Yulis Tagebuch, Folge 12

    Prominente

    Jeden Tag landen volle Maschinen mit Israelis, die verreist waren oder im Ausland leben auf dem Ben-Gurion-Flughafen. Sie kommen u.a. aus Japan, Deutschland, Südamerika und den Vereinigten Staaten zurück. Alle haben den Willen in diesen schwierigen Zeiten bei ihrer Familie zu sein und das Zuhause zu schützen. Sie wollen das hektische Land retten, obwohl sie aus diesem Grunde von hier weggegangen sind.

    Es stimmt jedoch, dass im Gegensatz zu ihnen, viele Israelis, auch Freunde von mir, am 8. Oktober von hier weggeflogen sind. Aber, ich sage es euch, sie erkannten einige Wochen später, dass als Flüchtlinge zu leben, und vor der Politik des Nahen-Ostens und dem Antisemitismus wegzurennen, halt unmöglich ist.

    Ich nehme aus dem Kühlschrank einige Dinge zum Abendessen heraus. Beim Waschen des Gemüses beginne ich ein Taubheitsgefühl in meinen Händen zu spüren und für Sekunden ist mir schwindlig. Ich rufe meiner Mutter aus der Küche zu: „Gibt es Wein im Haus?“

    Die Hysterie und das Weinen wird eventuell gleich beginnen, und weil ich Clonex nicht dabeihabe, muss ich etwas trinken. Die ganze Woche drückt es mir den Magen in die Kehle, diesen Zustand kann ich nicht wirklich ertragen. Die Bilder von den vergewaltigten Mädchen, der Krieg, die unendliche Liste von Toten, dem verlorenen Alltag, die unverwirklichte Liebe, nicht in meinem Zuhause zu sein, mein Leben mit meinem Sohn ohne große Ansprüche, erscheint wie eine Fantasie. Ich setze mich für einen Moment hin, spiele Musik auf mein Handy und trinke in drei großen Schlucken ein halbes Glas Wein. Dabei verbrennt schon die Butter in der Pfanne, aber es ist mir egal.

    Der erste Shabbat seit dem 7. Oktober rückt näher. Und obwohl die Tage vergehen, dieses Datum bleibt für immer der

    Siebente Oktober

    Wir sind immer noch auf der Suche nach Menschen und dabei, Leichen zu identifizieren.

    Mittlerweile hat Saudi-Arabien den Friedensprozess mit Israel eingefroren. Netanyahus‘ Kriegskabinett trat endlich nach einer Horror-Woche zusammen, die Hamas feuert Raketen aus dem Süden diesmal bis Haifa ab und ein jüdischer Siedler hat einen Palästinenser heute erschossen.

    Vielleicht spürt ihr es auch, dass ich wahrscheinlich nicht die Einzige bin, die bis jetzt verrückt geworden ist.

    Was ich erstaunlich finde, sind Äußerungen von Prominenten weltweit. Obgleich viele von denen weder in Israel oder im Nahen-Osten waren oder Krieg erlebten, äußern sie sich entscheidend über den Zustand. Natürlich freue ich mich sehr, dass Sportler wie Tom Brady ihre uneingeschränkte Unterstützung für Israel zum Ausdruck bringen, oder der NBA-Champion und ehemalige spanische Star Pau Gasol sich auf seinem Twitter-Account gegen die Hamas ausspricht. Auch was mich besonders mit Optimismus erfüllt, sind Bekundungen wie von „Bnei Sakhnin“ und „Bnei Rayna“, die besten Fußballmannschaften im arabischen Sektor in Israel, die eine gemeinsame schmerzhafte Erklärung für den 7. Oktober veröffentlichen. Jedoch, solche Verlautbarungen sind immer noch in der Minderheit.

    Da gibt es andererseits ganz viele Prominente, die das Massaker nicht direkt unterstützen, aber sie behaupten, die Tat der Hamas sei Widerstand gewesen, u.a. Selena Gomez, Hailey Bieber, Kanye West, Bella Hadid u.a.

    Klar ist mir, dass sie keine Ahnung haben. Aber selbst Menschen, die nie die USA besuchten, und sahen, wie die Maschinen im Jahr 2001 in das WorldTradeCenter eingeschlagen haben, hielten es nicht für einen legitimen Akt des Widerstands gegen die amerikanische Besatzung in Afghanistan.

    Jeder vernünftige Mensch mit ein wenig Vernunft sollte einen Terror erkennen, wenn er/sie ihn sieht.

    Ich bekomme eine WhatsApp Nachricht von der Kindergärtnerin und schalte kurz die Musik aus: Sie hat den Eltern informative Videos für die Kinder gesendet, mit denen wir die gegenwärtige Situation erklären können, und dabei ein Cartoons-Video mit Charakteren, die Kinder mögen.

    Ich schaue mir die Videos an, und finde sie eigentlich gut. Sie werden meinen Sohn ermutigen hoffentlich mehr über seine Gefühle zu reden. Aber ich warte bis morgen damit. Ich weiß nicht warum. Ein Gefühl halt. Ich bekomme noch eine Nachricht. Natalie hat mir eine Nachricht weitergeleitet, dies Mal von der Kultur- und Sportgemeinde. Familien der Evakuierten haben alles verloren und viele sind in Panik weggerannt. Die Gemeinde bittet die Bewohner der Stadt um Hilfe. Sie brauchen eigentlich alles. Ich werde mir am Samstag oder nächste Woche Zeit dafür nehmen. Heute ist es einfach zu viel . Die Flasche ist leer und es gibt noch kein Abendessen auf dem Tisch.

  • Yulis Tagebuch, Folge 11

    “Don’t!” 

    Wir gingen zurück zu meinen Eltern und sie überredeten mich, eine Nacht länger zu bleiben und erst morgen zurückzufahren. Sie brauchten aber nicht viel, um mich zu überzeugen. Im Süden hörte der Raketenbeschuß nicht auf, und die Bewohner wurden ins Landesinnere evakuiert, ganz viele sind hier angekommen. Im Norden sind die Bewohner nur auf ihre Häuser beschränkt, und die öffentliche Befürchtung war, dass im Norden genauso ein Angriff wie im Süden passieren könnte. Wenn Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen auf Motorrädern bis nach Aschkelon, etwa eine Stunde von Tel Aviv, kamen, dann können die Hisbollah und ihr Hamas-Partner auch Haifa erreichen. 

    Inzwischen, nennt die Abendmoderatorin Namen der Ermordeten. Im Kibbuz Be’eri wurden heute noch 100 Leichen gefunden. Die Identifizierung dieser Opfer kann aber Wochen oder sogar Monate dauern. Es gab diejenigen wo man dachte, sie seien entführt worden und später wurden ihre sterblichen Überreste zu Hause oder auf dem Feld entdeckt. Und es gab diejenigen von denen man dachte, sie seien gestorben, und später stellte sich heraus, dass sie oder ihre Leiche von Hamas entführt worden waren. Vier Monate später endet die Liste des Tötens noch nicht. 

    Am Abend hielt Biden seine Rede. Die Worte haben mich sehr berührt und zum ersten Mal seit dem 7. Oktober bin ich unter der Decke weinend zusammengebrochen. Ich wollte so sehr an einem sicheren Ort sein, und wenn es möglich wäre, neben Biden. Denn als er sprach, brachte er diese wahnsinnige Situation in eine Ordnung. Er war angeekelt und empört von den Massakern und von seinem Gesichtsausdruck allein konnte man sein Entsetzen über das Grauen spüren. Danke, Biden! Der Staat Israel dankt Ihnen! Dieses Land hat es verdient, eine gute Führung zu haben. Während der israelische Premierminister seit dem 7. Oktober wie gelähmt und verschwunden ist, hat Biden uns in einer Art gerettet, psychisch meine ich.

    Die Hisbollah, Irans Proxy, verfügt über 100.000 Langstreckenraketen, die von Norden die Sinai–Halbinsel erreichen können. Sie verfügen über Treffergenauigkeit und nachrichtendienstliche Fähigkeiten und ganz vielen Kämpfern, die nur darauf warten, Zivilisten zu töten. Deshalb fange ich zu diesem Zeitpunkt an zu denken, mit meinem Sohn zu fliehen. Meine Eltern fliehen nie, egal was passiert. Seit 1948 haben sie mit die gesamten Konflikte durchgemacht und nichts kann sie zum Einpacken bringen.

    Und trotzdem, ich habe ihnen aufgeregt gesagt, “diesmal ist es anders. Denn selbst am Yom-Kippur-Krieg, als Israel fast erobert wurde, kämpften die Soldaten außerhalb der Grenzen des Landes, nicht innerhalb der Städte, nicht in den Häusern. Babys wurden nicht ermordet, Kinder nicht entführt.” Das Trauma von Yom Kippur hat genau in dieser Woche seinen 50jährigen Gedenktag, und wenn irgendetwas diesen Krieg in der Erinnerung marginalisieren kann, ist es der 7. Oktober 2023. Aber niemand kann meine Eltern überreden, das Land zu verlassen. 

    Am nächsten Tag wachte ich auf und dachte mir, dass wir trotzdem nach Hause fahren. Wenige Stunden später erkannte ich, dass die Dinge eskalieren. Nun wurden ebenso die Einwohner in Haifa gebeten, in ihren Häusern zu bleiben. Es gab Besorgnis über das Eindringen von Drohnen und anderen Flugzeugen, die vom Libanon aus in israelisches Territorium eindrangen, zusätzlich zum Verdacht von terroristischer Infiltration aus dem Libanon. Gleichzeitig hallten die Sirenen weiter in verschiedenen Teilen des kleinen, verwundeten Landes, das ständig mit Raketen bombardiert wird. Mir wurde es langsam klar, dass ich nicht zurückkehren kann und solange die Schulen geschlossen sind, bleiben wir hier. 

    Im Laufe der Tage wurde es immer eindeutiger, dass der Terror vom 7. Oktober alle traf. 

    Bei den Ereignissen vom 7. Oktober wurden Zivilisten aus mehr als 30 Ländern entführt oder ermordet. Aus Ländern wie Tansania, Russland, Rumänien, Portugal, Peru, Serbien, Kolumbien, Österreich, Äthiopien, Argentinien, den Philippinen, Georgien, Sri Lanka, Frankreich, Mexiko, Dänemark, Ungarn, Italien, Thailand, Kanada, Niederlande, Polen, USA, Frankreich, Deutschland und mehr. Aus unterschiedlichen Religionen Drusen, Muslime, Christen, Buddhisten und Juden. Der Terror vom 7. Oktober sah jeden, der mit Juden in Frieden lebte, jeden, der nicht gegen uns kämpft, jeden, der nicht Teil des radikalen Islam war, als einen Ketzer, und von daher sollte er oder sie gnadenlos getötet werden. Dies ist kein Krieg der Hamas gegen die Juden. Das ist kein Terrorismus gegen die Zionisten. Es ist ein Verbrechen gegen den Wunsch der Menschheit, in Frieden, in Freundschaft und Brüderlichkeit aller Religionen, Farben, Geschlechter und Neigungen, in der Welt zusammenzuleben. 

    Nurit Galron: Yaldut Nishkachat (A forgotten childhood) 

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  • Yulis Tagebuch, Folge 10

    Freunde

    Die Stille auf der Straße hat uns dazu gebracht, die 50 Meter zwischen den Häusern schnell zu laufen. Die Kinder freuten sich darüber, sich wiederzusehen und das Geräusch des fröhlichen Lachens erwärmte und entspannte meinen ganzen Körper. In dem Augenblick war es uns egal, was die Kinder machten, alles war ihnen erlaubt. Sie sind laut – es stört uns nicht. Sie wollen Süßigkeiten? – kein Problem. Als wir klein waren, haben wir auch viel Mist gegessen und uns ist nichts passiert. Xbox spielen – Spiele zählen nicht als Bildschirmzeit, da sie die Kreativität stark fördern. Auch der Hund feierte mit und leckte noch die leeren Packungen auf dem Tisch aus. Ich weiß nicht, ob man das Gefühl richtig beschreiben kann, aber es war die Vergebung, des Verlangens auf mehr von den kleinen Dingen im Leben.

    Der Fernseher war nicht aus, aber er war im Stumm-Modus. Es war genauso der Zustand der Wachsamkeit neben dem Bedürfnis zu entspannen.

    Natalie ist in der Küche und ich sitze auf dem Balkon. Ich habe keine Lust mich über die Geschehnisse zu unterhalten. Ich wollte für einen Moment abschalten. Trotzdem hob ich von Zeit zu Zeit meinen Kopf, um die Schlagzeilen im Fernsehen zu lesen, und dann scrollte ich weiter auf Instagram. Natalie kam mit einem Tablett voller Leckereien raus, ich stand auf, um die Kaffeetassen zu holen und ihr bei dem Rest zu helfen. Heutzutage ist es unvermeidlich, die ganze Zeit zu essen. 

    Stellt Euch vor, wir sind zu Hause verschlossen, schlecht gelaunt, nervös, und meist hilflos. Dementsprechend gibt es in jedem Haus viel „Aktivität“ rund um den Kühlschrank. Süß, salzig und generell Kohlenhydrate sind der Depression bester Freund, ihr wisst es auch.

    „Wann fährst du nach Haifa zurück?“ – „Heute noch. Ich wollte euch erst treffen und die Kinder ein bisschen spielen lassen. Ich habe noch ein paar Sachen einzupacken und dann fahren wir zurück.“ „Sag mal, wie läuft es mit dem Mann?“ Für einen Moment habe ich mich verschluckt. „Ich weiß nicht, murmelte ich. Er schreibt manchmal, aber es geht nirgendwo.“ Plötzlich wurde es mir klar, wie tief die Wunde war. Aber ich konnte mich mit meinen eigenen Emotionen nicht konfrontieren, weil ich immer noch von den Ereignissen traumatisiert bin. In meinem Leben fühlt es sich gerade an, wie mit einem Mund voller Wasser, Luft zu schnappen.

    Ich bin die ganze Zeit mit meinem Sohn beschäftigt. Er hat Albträume in der Nacht, und er weint wieder so oft. Er hat Angst, aber er weigert sich offen mit mir darüber zu reden. Deshalb versuche ich soweit wie möglich eine Atmosphäre der Normalität zu schaffen, währenddessen mein Inneres aber chaotisch bleibt. „Ich habe weder die Lust noch die Zeit über ihn nachzudenken“, so kurz wie möglich habe ich das Thema zusammengefasst.

    Die gemeinsame Zeit verging so schnell. Immerhin haben wir es geschafft, ein wenig zu lachen. Die Kinder hatten viel Spaß und wie zuvor, waren sie glücklich wieder zusammen zu spielen. Plötzlich verspürte ich den Drang, nach Haifa zu gehen, ich fühlte mich gut. Bevor wir uns verabschieden, schaute ich noch einmal auf dem Fernseher. Um 14 Uhr, als im Norden Sirenen gemeldet wurden, hat mich das nicht abgeschreckt, denn im Norden wie im Süden sind die Menschen daran gewöhnt. Aber um 17 Uhr wurden die Bewohner des Nordens aufgefordert, sich in ihren Häusern einzuschließen. Natalie schaut mich an. „Du wirst jetzt nicht nach Haifa gehen, oder? Es handelte sich nicht allein um einen Raketenangriff, sondern zusätzlich um eine terroristische Infiltration 29 Kilometer von Haifa entfernt. Sie bitten die Bewohner zu Hause zu bleiben.“ „Ich weiß, Natalie. Ich kann die Schlagzeilen lesen. Bitte stresst mich nicht damit, denn ich bin bereit nach Hause zu fahren.“ – „Vielleicht sollst du es noch einmal erwägen.“

    Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich beschließe, die Entscheidung bei meinen Eltern zu treffen. Verdammt, warum bin ich nicht in der Schweiz geboren? Warum müssen wir und unsere Kinder in Israel lebenslang Krieg haben? Verdammt!

    Yasmin Muallem: Yom Kipur

  • Yulis Tagebuch, Folge 9

    Supermarkt

    Dank Deutschland fühle ich mich heute weniger allein. Die Fahne Israels am Brandenburger Tor hat mich nie so angerührt wie in diesen Tagen. In der Zwischenzeit steigern sich auch die Spannungen an der nördlichen Grenze mit Libanon. 

    Aber hey, man hat die Wahl optimistisch zu sein, oder? Mit starkem Willen halte ich an der Entscheidung fest, heute nachmittag nach Haifa zurückzukehren. Vorher muss ich aber Lebensmittel einkaufen, um die Küchenschränke zu Hause mit allem möglichen zu füllen. Ich nehme wahr, dass der Krieg noch ein paar Wochen dauern wird, und dass empfohlen ist, von den notwendigsten Lebensmitteln in solchen Krisen einen Vorrat zu haben.

    Also, ich ging zum Supermarkt und ließ meinen Sohn bei seiner Großmutter, die ihn, wenn die beiden allein sind, so gerne mit Süßigkeiten und Kuchen verwöhnt. Der Weg zum Supermarkt war aber seltsam und unangenehm. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen, und ich hatte das Gefühl, dass meine Anwesenheit sehr auffällig war. Ich versuchte leise zu laufen, ganz still auf den Bürgersteig zu treten, damit keiner mich hört. Ich wollte unsichtbar für die Menschen werden, obwohl kaum jemand um mich herum war. 

    Ich sah dann doch jemanden in der Ferne, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich spürte Hitze an meinem Rücken aufsteigen, aber als ich mich umdrehte, war keiner hinter mir. Wahrscheinlich war es wieder die Welle der Angst, die ich den letzten Tage so oft durch alle Körperteile spürte und die mich wie ein Hochwasser zu ertränken versucht.

    Als wir uns näherten, jeder auf einer anderen Seite des Bürgersteigs, hatte ich das Gefühl, dass mir Köpfe zugewandt wurden. Sehe ich verdächtig aus? Sie haben mich so komisch angeschaut. Und vielleicht sehe ich gar nicht den Mann im Auto der darauf wartet, dass jemand von uns die Straße überquert, um ihn von hinten anzugreifen oder einfach zu überfahren. 

    Ich beschließe, einen Umweg zu machen und anstatt vom Parkplatz des Supermarkts hineinzugehen, laufe ich durch den Park. Zumindest kann man dort nicht überfahren werden. Keine Sorge, das sind vernünftige Gedanken für jemanden, der in Israel lebt. Jetzt aber vertraue ich niemandem, nicht einmal dem 70jährigen Straßenreiniger. 

    Der Weg zum Supermarkt fühlte sich wie die Ewigkeit an. Erst als ich ihn betrete, kann ich wieder normal atmen. Ich habe tief eingeatmet, holte die Einkaufsliste aus meiner Tasche. Wer kann sich heutzutage noch an irgendetwas erinnern? 

    Überraschenderweise oder auch nicht ist die Liste zu lang, und ich weiß es nicht, wie ich alles zurücktragen kann und dabei auch noch schnell genug laufe. „Verdammt, warum habe ich nicht schon früher daran gedacht und den Einkaufswagen genommen?“ Ich beschließe, auf die meisten Konserven gerade zu verzichten, und diese von der Speisekammer meiner Eltern, die normalerweise super voll ist, zu ergänzen, und mich auf die Dinge zu konzentrieren, die ich unbedingt brauche.

    Fünf schwere Säcke voller Grundnahrungsmittel und etwas Gemüse schneiden mir beide Hände auf, aber ich versuche trotzdem, auf dem Rückweg das schnelle Tempo zu halten.

    Erst als ich nach Hause war, hatte ich das Gefühl, dass ich vor Schmerzen meine Fingers nicht öffnen könnte. Ich stellte die Taschen neben unsere Rucksäcke ins Zimmer. Um ehrlich zu sein, ich habe jetzt auf nichts Lust. Ich habe keinen Appetit. Ich möchte nicht raus gehen, und ich möchte auch nicht zu Hause bleiben. Ich will einfach unter der Decke liegen, so dass keiner mich findet. „Mama, mir ist langweilig!“ Scheiße – wann werden wir gehen? Wie spät ist es überhaupt? Erst 12 Uhr. Ich atme durch und beschließe, dass wir zunächst Freunde besuchen, die direkt neben uns wohnen. Vielleicht freuen sie sich ja über die Gesellschaft. Es tut mir bestimmt auch gut, ein wenig Normalität zu spüren. Damit ich nicht vor Angst verrückt werde. Zum Glück waren sie tatsächlich sehr froh über den Besuch und für ein halbe Stunde fühlte ich mich glücklich.

  • Nathan der Weise

    Gotthold Ephraim Lessings (1779) philosophisches Drama über die drei großen abrahamitischen Weltreligionen ist heute aktueller denn je!

  • Yulis Tagebuch, Folge 8

    HAMASisISIS

    Nach einigen Tage zu Hause ist mein Sohn allmählich gelangweilt und unruhig. Es fühlt sich für mich langsam so an, als säßen wir alle in einem großen Druckkessel. 

    Mein Sohn – wie alle Kinder in seinem Alter – muss einfach die aufgestaute Energie freisetzen. Es tut ihm nicht gut, zu Haus eingesperrt zu sein. Zusätzlich macht es für unsere Mutter-Sohn Beziehung nicht gut. Denn er vermisst seine Freunde, seine regelmäßigen Aktivitäten, Hobbies, kurzum – seinen Alltag. Und ich verstehe es, denn ich vermisse ihn ebenso. 

    Wir sind alle frustriert, fühlen uns kaputt. Das Problem für mich als Mutter in solchen Zeiten ist, dass die öffentlichen Parks ganz menschenleer sind, auch die Straßen. Deshalb bin ich zusätzlich unsicher, mit ihm draußen herumzulaufen; es macht mir, und anscheinend vielen anderen Eltern auch, ein bisschen Angst.

    Achtung! Wenn jemand diesen Zustand mit der Corona-Zeit vergleichen möchte, dann bitte denkt daran: In Corona-Zeit waren wir zu Hause sehr kreativ; ich habe, wie viele langweilige Eltern weltweit, ganz viel gebacken (deshalb auch an Gewicht zugenommen), Netflix geschaut, die Wohnung neu geordnet usw. Wir trafen uns mit Freunden (es war geheim! …), und wenn möglich saßen wir draußen in den Parks oder gingen sogar am Strand spazieren, um zu entspannen. Es war schwierig, aber eine positive Stimmung herrschte. Die Welt war vereint. Seit der Arche’ Noah saß die ganze Menschheit zum ersten Mal im selben Boot.

    Im Gegenteil sind wir zurzeit allein, Feinde kreisen um uns herum, und die liberal-demokratischen Länder sind auch nicht hundertprozentig auf unserer Seite. Eine der größten Demonstranten gerade gegen Israel ist Greta Thunberg. Zurecht macht sie sich Sorgen um das Leben der Schildkröten, der Wale usw. eben alles, was im Ozean lebt. Aber was ist mit unseren Babys? Die Dekapitierung von Babys gilt für sie als grüner Akt?

    Genauso wie die akademischen Demonstranten in Harvard oder in Penn, die für Menschenrechte, aber dabei für Terrorherrschaft protestieren. Claudius Seidl schreibt dazu in der FAZ am 25. Oktober: „Es war einer der Momente, da man sich wünschte, dass es nur Dummheit und nicht Bosheit sei.“ 

    Ich beziehe mich dabei noch nicht einmal auf die fehlende Solidarität mit den getöteten und vergewaltigten Kindern und Frauen, beklage noch nicht die verabscheuungswürdige Stille der Frauen- und Menschenrechtsorganisationen. Dafür muss ich erst noch Kräfte sammeln.

    Greta Thunberg von Greta Thunberg Instagram

    Also, grundsätzlich gibt es gerade keine Ausgangssperren oder auch nur eine Empfehlung, zu Hause zu bleiben. Wir können rausgehen, aber es ist einfach beängstigend.

    Als die Anzahl der Ermordeten die Tausend überschritt, hörten die Medien auf, die Nummern in groß und rot auf dem Bildschirm zu zeigen. Heute überstieg noch die Anzahl der Entführten die 100 – aber es war nicht die endgültige Anzahl. Und außerdem gibt Tausende Verwundete – aber sie rechnet man nicht als „Opfer“, weil sie körperlich überlebt haben (obwohl sie geistig tot sind).

    Es gibt etwas Unvorstellbares an den Geschehnissen des 7. Oktober. Die Gedanken an das Abhacken von Kinderkörperteilen, die dann allein in der Wohnung verbluteten, oder ganze Familien, die zusammen gequält und ermordet wurden; Mama, Papa und 3 Kinder. Das Verbrennen der Leichen der Nova-Jungen in ihren Autos, so dass ihre Identifizierung nur noch an ihren Zehen möglich war, all das und viel mehr macht für mich den folgenden Vergleich irrelevant: Hamas ist wie ISIS? Hamas ist wie die Nazis? Warum braucht man den Vergleich, um zu verstehen? Vergleiche sind relevant, wenn uns die Worte zur Beschreibung fehlen oder es ist zu schwierig oder unmöglich festzuhalten, worum es geht. Hier wird alles „live“ übertragen, ohne Zensur, ohne Kommentar.

    Ok. aber ganz kurz! ISIS: Die meisten ISIS-Mitglieder waren keine ausgebildeten oder erfahrenen Kämpfer. Die meisten von ihnen waren Jungen aus Europa, und aus anderen Ländern, die einer Idee folgten. Ihnen wurde eine Waffe gegeben und damit waren sie bereit, zu töten und getötet zu werden. Die geringen Kampffähigkeiten bewährten sich auch mit der schnellen Eliminierung der Organisation und das Zurückkehren der Jungen nach Hause.

    Die Autos vom Nova Festival, Foto: Moshe Shay, (publiziert in der Zeitung Israel Hayom, 24.01.2024)

    Die Nazis: Im Vergleich zur Hamas wussten die Nazis vor allem, dass sie Verbrechen begingen, und versuchten, diese zu verbergen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs der Unterschiedlichkeiten. Stimmt es, dass die gesamten Gruppen Menschen gerne dekapitierten?

    Meiner Meinung sind die Geschehnisse von 7. Oktober viel schlimmer: Eine Armee wenn auch klein, gut ausgebildete Kommandokämpfer, ausgestattet mit Waffen und Kampffähigkeiten, drang in die Häuser der einfachen Menschen und selbst in deren Kinderzimmer, um sie in eine Hölle zu verwandeln. Währenddessen saßen Menschen weltweit vor dem Fernsehschirm mit Popcorn und Getränken, sich das alles gern anschauend. Ich persönlich brauche solche Vergleiche nicht.

  • Yulis Tagebuch, Folge 7

    Purple Rain

    Ich bin heute morgen sehr traurig. Und auch der Himmel weint mit uns. 24 israelische Soldaten sind im Kampf in Gaza in der Nacht gestorben – der größte Verlust seit dem 7. Oktober. Das ist tragisch.

    Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas erklären muß: Israelis melden sich nicht freiwillig zur Armee. Aber weil Israel seit seiner Entstehung unter ständigen Attacken leidet, herrscht hier seit 1949 wie während des Zweiten Weltkriegs in Europa oder während des Vietnam-Kriegs in USA Wehrpflicht für Männer und Frauen. Und so sind diese Männer auch gestorben, weil sie als Israelis keine
    andere Wahl hatten. Denn wer soll uns in diesen Zeiten schützen? Das Land ist so klein wie ein Embryo in der Gebärmutter in der ersten Woche der Schwangerschaft.

    Nach der kürzlichen Explosion war insbesondere der Sonntag eine Achterbahnfahrt. Mittags riefen bereits Freunde an und teilten mit, dass sie mit den Kindern wegfliegen wollen, sie möchten das Land für eine Weile verlassen. Gleichzeitig bekomme ich dutzende Nachrichten durch alle möglichen Mediennetzwerke von Freunden, Kollegen und Familienangehörigen aus Europa,
    hauptsächlich aus Deutschland und Österreich, aber auch aus England, den USA und Schweden. Alle machen sich Sorgen um mich und meine Familie, aber auch um dieses Land. Hilfsbereit bieten sie uns an, zu ihnen ins Ausland zu fliehen, bei ihnen zu bleiben – mindestens so lange, bis sich die Situation verbessert.

    Theoretisch denke ich mit einem halben Augenzwinkern ja, ich müsste fliehen, und jetzt wäre etwa Thailand als Ziel attraktiver als das dunkle Europa im Herbst. Aber in Wirklichkeit ist das gerade keine Möglichkeit für uns. Ich bleibe hier. Wie kann ich das für Außenstehende in zwei Sätzen zusammenfassen? Wenn es keinen Ort gibt, an den man zurückkehren kann, wird es auch keinen Ort geben, an den man in Frieden leben kann.


    Abends ruft mich eine gute Freundin an. Sie fragt, wie es mir geht, aber sie ist durch die Nachrichten besorgt und jetzt möchte sie eine beruhigende Erklärung von mir hören. Israelische Medien und der NBC berichteten, dass Schiffe und Militärflugzeuge der US-Marine auf dem Weg nach Israel seien. Darüber hinaus wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, einen in Israel gelagerten Vorrat an amerikanischer Munition für Notfälle freizugeben. Sie stellt mir die Frage, ob das bedeutet, dass es im Nahen Osten zu einem umfassenden Krieg kommen wird. Und ich erkläre in akademischem Ton, dass dies meiner Meinung nach eher ein
    psychologisches als ein praktisches Motiv sei, dass man die Interessen Russlands und Irans im Hinterkopf behalten müsse … und ich rede und rede und beruhige sie, während dessen ich beginne, mich dabei langsam unwohl zu fühlen.

    Aus heutiger Sicht ist die Hälfte des Territoriums des Staates Israel Angriffen von islamistischen Tschihad-Terroristen und Iranische Proxys – Hisbollah, Hamas und Huthi, zu denen gehören schon Millionen Mitglieder – ausgesetzt. Diese Terroristen sind keine Handvoll wahnhafter Menschen, sondern sie verfügen über
    die Fähigkeiten einer kleinen Staatsarmee. Hamas verfügt über zehntausend Raketen unterschiedlicher Reichweite, Hisbollah über mehr als hunderttausend. Die Huthi greifen Israel vom Meer aus an und parallel gibt es ständige Versuche, aus dem Westjordanland Anschläge zu verüben. Es scheint mir, dass der 7. Oktober der Beginn einer neuen Ära war: Ein globaler Versuch, Israel zu
    zerstören und gleichzeitig die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten – und damit unmittelbar verbunden – auf der ganzen Welt zu ändern.

    Die Klagemauer im Jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt ist eine religiöse Stätte des Judentums, Foto: privat

    Derzeit sind wir Flüchtlinge in unserem Land. Wir versuchen das anhaltende Inferno täglich zu überleben, und wir sollen während dessen objektiv und rational die Geschehnisse für den Westen erklären. Schwer verletzt und fast kaputt weigern sie sich uns in die Augen schauen und Empathie zu empfinden.
    In Europa blüht indessen extremer Islamismus gerade in der jungen Generation. Auch diejenigen, die mit der Idee von Daesh die Welt zu beherrschen geplant haben, haben ihren Plan nicht aufgegeben, sondern die Strategie geändert und auf die richtige Zeit verschoben. Aber in Europa herrscht ein langer Winter. Die
    Europäer schlafen, sie sind mit positiven warmen Gedanken an sich selbst beschäftigt.

    Ich kann aber nicht schlafen. Morgen gehe ich einkaufen und dann, am späten Nachmittag, wollen wir zurückkehren – und ich bin vor der Autofahrt nach Norden schon jetzt nervös.

    Johann Wolfgang von Goethe, Egmont, Erster Aufzug, Jetter, ein Bürger von Brüssel, Sprecher Patrick Becker
  • Yulis Tagebuch, Folge 6

    Entscheidungstreffen

    Aktuelle Berichte klären eine bange Frage – die heftige Explosion, von der ich berichtete, war von einer Rakete ausgelöst worden.
    WhatsApp-Gruppen von Verwandten und Freunden tauschten hierzu in Windeseile unterschiedliche Nachrichten aus. Die einen meinten, sie sei über dem Meer explodiert, andere sagen, fünf Kilometer von uns entfernt hätte sie eine Detonation verursacht.
    So oder so, es ist eigentlich unmöglich, in ständiger Erwartung solcher Explosionen über unseren Köpfen zu leben. Um noch präziser zu sein, mir ist der Gedanke von Explosionen über dem Kopf meines Kindes untragbar. Ich beschliesse, morgen nach Haifa zurückzukehren.

    Ich verstehe immer weniger, wie die Menschen in den Kibbuzim oder in den südlichen Städten Israels über 15 Jahre, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat mit solchen Bedrohungen gelebt haben. Denn man hat lediglich etwa sieben Sekunden Zeit, wenn solche Explosion die Luft zerreißt. Wenn man ernsthaft
    darüber nachdenkt ist das eher eine Warnung, nämlich die, dass man im Ernstfall kaum jemanden retten kann. Zudem fallen Schüsse auch in der Nacht, wenn Babys und Kleinkinder schlafen und das macht die Suche nach einem Unterschlupf noch weitaus prekärer.

    Welches Land hatte Verständnis dafür, dass man hier mit einer solchen Bedrohung lebte? Kein Land, mit der Ausnahme Israels natürlich. Das einzige Land, das von westlichen und arabischen Staaten ständig diffamieren wird, während diese Länder – bewusst oder unbewusst – jene gefährliche Politik
    unterstützen, seien es die iranischen Ayatollahs und Terrororganisationen, die von Katarischem Geld leben. 2014 hat die Europäische Union die HAMAS von der Liste der Terrororganisation gestrichen, siehe taz.de.

    Politische Ambitionen und internationale Wirtschaftsinteressen bestimmten, was in den Medien im Laufe der Jahre immer deutlicher artikuliert worden ist: Gaza ist das Opfer und Israel der Angreifer. Die alltäglichen Nachrichten oder gar längere Reportagen außerhalb Israels beschäftigen sich deshalb nicht mit den psychischen Problemen, die etwa die Kinder im Süden Israels quälen. Sie beschäftigen sich nicht damit, wie zum Beispiel Familien in Israel unter täglichem Raketenbeschuss und Explosionen leben. Solche existenziellen Probleme, die ein
    Leben im Schatten dieser Ängste aufwerfen kommen in den Nachrichten in Europa oder in Amerika nicht vor. Es sei denn, dass Israel angreift. Dann lautet die Schlagzeile überall, wie eine Pandemie: „Israel greift Gaza an“.

    Im Verlaufe eines Jahrzehnte währenden Konflikts, nach zwanzig Jahren Raketenbeschuss aus Gaza, hatten, so merkwürdig das klingt, die Israelis eine Art Gleichgültigkeit gegenüber dieser medialen Schieflage entwickelt und sich tatsächlich so an sie gewöhnt, dass die Regierung sich lange nicht genötigt sah, ein Informationsministerium einzurichten. Nun ist es inzwischen so, dass eine neue Generation – basierend auf dem, was auf Tiktok läuft und gestützt auf einseitige Medienreportagen – auf den Straßen für die Zerstörung Israels demonstriert.

    Dagegen hatten die Israelis lange keinen guten Plan. Ich erinnere mich an dieses Alter; es gab die Gans N Roses Fans oder die Metallica Fans, jeder in seiner Gruppe. In diesen Zeiten scheint es sehr modern zu sein, Israels Gegner zu werden, und zu dieser Gruppe gehören die meisten jungen Menschen.
    Andere Gruppen sind zu klein, zu alt, haben keine gute PR und Parolen. Ich werde bald in Haifa sein, dann werden wir auf diese Demonstrationen noch zurückkommen.

    Erst am 19. Januar 2024 – und „Halleluja“ muss man hier sagen – wird ein Beschluss des Rates zur Einführung restriktiver Maßnahmen gegen diejenigen, die gewalttätige Aktionen der HAMAS und des Palästinensischen Islamischen Dschihadunterstützt, erleichtern oder ermöglichen – siehe dazu eur-
    lex.europa.eu

    In der Tat ist die HAMAS entsprechend dieser Definition vor allem eine Guerillaorganisation. Wie die Hisbollah, unterstütz von der lokalen Bevölkerung, richtet sich die Organisation mit politischen, militärischen und finanziellen Institutionen ein. Aber wie eine Terrororganisation HAMAS richtet seine Waffen nicht nur auf militärische, sondern auch auf zivile Ziele.

    Ich muss jetzt Wäsche waschen, damit bis morgen alles getrocknet ist. Ich bin mit mir im inneren Einvernehmen, dass wir nach Haifa zurückkehren. Zumindest ist das mein Plan an diesem Morgen. Obgleich mir nach und nach dämmert, dass auch dort wohl nichts mehr so sein wird, wie es früher war.

    Inmitten des andauernden Krieges zwischen Israel und Hamas finden Freiwillige im Kibbuz Alumim einen Sinn im Melken von Kühen – und retten möglicherweise das Leben der traumatisierten Tiere. An diesem Ort, der von einer Tragödie gezeichnet ist, erleben wir Widerstandskraft, menschliche Verbundenheit und gemeinsame Verantwortung im Angesicht des Unglücks.
  • Yulis Tagebuch, Folge 5

    Eltern und Kinder, 8. Oktober 2023, 8,15 Uhr

    Es gehört zu den unfaßbaren Episoden am 7. Oktober: Während des Massakers riefen Terroristen ihre Eltern aufgeregt an, um ihnen zu erzählen, wie viele Juden sie ermordet hätten. Anscheinend zählt das im Gazastreifen als eine Leistung im Leben eines Mannes. Ihre Eltern waren gleichfalls sehr emotional und haben, stolz und gerührt, ihre terroristischen psychopatischen Kinder gesegnet. Überraschend ist es nicht, denn zur Wahrheit gehört, dass die Palästinenser – sicher nicht alle, aber doch wohl die Mehrheit – ihre Kinder von Geburt an zum Judenhass animieren, jene damit aufwachsen und dazu erzogen werden, auch gern zu sterben.

    Wenn ein Hamas-Kämpfer seine zweijährige Tochter in den Händen hält und erklärt, er würde stolz auf sie sein, wenn sie als „Shahid“ (Märtyrer) sterbe, versteht man, was unmöglich zu akzeptieren ist: Das sind Menschen, die ihre Kinder im Namen einer Ideologie und aus purem Hass gern zu opfern bereit sind und sie zu Mördern erziehen

    Ihr könnt wahrscheinlich kaum begreifen, was für mich „Frieden“ bedeutet, wie ich ihn begehre. Nun, im Angesicht des Schreckens frage ich mich aber: Mit wem willst du Frieden schließen? Denn die Türen zur Hölle sind geöffnet und alles, aber auch alles wird direkt, live im Fernsehen ausgestrahlt. Es ist schwierig, dazu „Imagine all the People“ von John Lenon zu hören.

    Trotzdem kann ich mein Kind aber nicht den ganzen Tag am iPad verbringen lassen. Ach, ja! Es fällt mir plötzlich ein, ich wollte irgendwann noch zu unserem Supermarkt gehen … naja, vielleicht heute doch noch nicht, morgen wäre mir lieber. Es gibt noch was im Kühlschrank. Und die Wäsche … Ich lasse meinen Sohn nicht mit dem iPad den ganzen Tag verbringen. Eigentlich gibt es bei meinen Eltern genug Spielzeuge und Lego. Ich muss mit ihm darüber ernsthaft reden, und ihm erklären, dass das gestern eine Ausnahme war.

    Bumms! – ein fürchterlicher Krach! Ich legte meine Hände auf meinen Kopf und suche mit den Augen nach meinem Sohn. Er rennt panisch auf mich zu: „Mamaaaaa!!“. Ich dachte zuerst, die Decke fällt jetzt herunter, vielleicht wurde das Haus von einer Rakete getroffen?

    Ich beschütze ihn jetzt und warte. Aber nichts passiert, die Wände stehen, obwohl ich dachte, sie würden gleich einstürzen. Trotzdem hallt die Explosion noch immer in meinem ganzen Körper nach. „Mein Kleiner, es war echt schrecklich gerade. Ich weiß. Das war mega laut und fühlt sich so ganz nah.“ „Mama, spüre mein Herz, wie schnell es schlägt, ich habe Angst!“. „Ich auch, mein Schatz. Komm, setz Dich zu mir. Lass uns paar Minuten zusammenbleiben.“ (Ich bin nicht sicher, wer jetzt wen beruhigt – ich ihn oder er mich?)

    Ich spüre eine ungeheure innere Frustration und Wut gegenüber dieser Welt, was für eine beschissene Welt! „Mama, du zerquetschst mich!“. „Tut mir leid, Schatz. Du kannst jetzt wieder spielen, oder nimm das iPad. Tu, was Du möchtest.

    Ich schaue noch einen Moment durch das Fenster, um zu sehen, was los ist, vielleicht ist da Rauch? Aber draußen ist wunderbares Wetter. Das ist kein Tag, um in Bunkern zu sitzen. Jedenfalls, ich bin mit dem Nachdenken für heute fertig. Vielleicht wäre es besser bald nach Haifa zurückzukehren. Ich überlege, aber gerade ist es 8.00 Uhr morgens und ich bin schon wieder müde und erschöpft.

    Im Fernsehen häufen sich die Schrecken immer weiter, bei mir gleichfalls. Und ich warte weiter, warte auf irgendwelche Informationen im Fernsehen, um zu verstehen, was uns da gerade passiert.