Kategorie: Yulis Tagebuch, Haifa

  • Yulis Tagebuch, Folge 57

    Der 7. Oktober und das Jahr XXXX

    Der 7. Oktober hat das nationale Trauma von Jom Kippur an den Rand gedrängt. Da der Krieg in all seiner Stärke weitergeht und sich sogar ausweitet, handelt es sich in jeder Hinsicht und Verständnis um ein Ereignis, das in der Praxis noch nicht vorüber ist. Wir sind immer noch jeden Tag dort: beim anhaltenden Krieg, mit den unaufhörlichen Anschlägen, mit den Verletzten  und Ermordeten. Heute posten viele Frauen in den Social-Medien Bilder von sich mit ihrem Baby in Tragehilfen zum Gedenken an Inbar, die bei dem Terroranschlag in der Straßenbahn am 1. Oktober 2024, während sie ihr Baby in der Tragehilfe beschützte, von einem Terroristen ermordet wurde. 

    Als Metapher stelle ich mir Israel sowohl als die Mutter als auch das Baby vor. Das Land ist selbst ist genauso das Opfer wie alle, die hier weiterleben. Diejenigen, die vergehen vor Schmerzen, aber am Leben festhalten. Und der Weg geht weiter, mit den Lebenden und mit den Toten. 

    Inzwischen ist das Loch im Zaun zum Gazastreifen, durch das die Terroristen nach Israel eindrangen und Kinder, Frauen und alte Männer in ihren Betten abschlachteten, optisch tatsächlich nicht mehr zu erkennen. Aber auch wenn dieses Loch, durch das die Terroristen unsere Zivilisten nach Gaza entführten, heute nicht mehr sichtbar vorhanden ist, es befindet sich dennoch unverändert inmitten von uns. Diese Gefühle des Misstrauens und der Vernachlässigung lassen uns nicht los und es gibt noch immer

    101 Entführte nach einem Jahr …

    Weltweit finden 80 Zeremonien mit den Familien der Entführten und Ermordeten statt. Selbst bei den Vereinten Nationen findet dieses Gedenken, wenngleich ohne den Generalsekretär, statt. Aber in Israel, ja, in Israel gibt es zwei separate Zeremonien: Eine Veranstaltung, von der Staatsmacht organisiert, fand im vorab in der Stadt Ofakim statt und wurde ohne Publikum gefilmt. Sie wird am Montag um 21:15 Uhr auf den verschiedenen Medienkanälen ausgestrahlt werden. Die meisten Künstler in Israel weigerten sich, hier aufzutreten. Sogar die Moderatorin der Veranstaltung, deren Schwester beim Nova-Festival ermordet wurde, wurde verleumdet, weil sie quasi mit den Schuldträgern mitmache.

    Eine andere öffentliche Zeremonie wird am selben Tag um 19:10 Uhr stattfinden, gedacht und initiiert für die Familien der Entführten und Ermordeten. Ort dieser Veranstaltung ist der Park Ha’Yarkon in Tel-Aviv. Die Zeremonie beginnt mit einer Schweigeminute und einem Yizkor-Gebet und wird ebenfalls im Fernsehen zu sehen sein. Hier sind jedoch keine Politiker eingeladen, dafür ist die breite Öffentlichkeit herzlich willkommen. Es wird erwartet, dass 40.000 Menschen anwesend sein werden. Die Familien der Entführten, der Opfer, der Nova-Überlebenden und die Familien derer, die nicht überlebt haben, alle zusammen und von der Regierung getrennt. 

    In den Kibbuzim haben die Zeremonien zum Gedenken an die Opfer und Entführten bereits begonnen. Am Vorabend wurden die Namen der Opfer verlesen, ihre Geschichten erzählt. Auch das Gedenken für die 410 Opfer des Nova-Festivals beginnt am Abend zuvor und wird am 7. Oktober um 6:29 Uhr morgens fortgesetzt, der Zeitpunkt, als die Attacke begann. Die Schulen im ganzen Land bereiteten von sich aus kurze Zeremonien für die jungen Schüler vor, forderten alle Kinder auf, in weißen Hemden zu erscheinen. Bei nationalen Zeremonien, wie etwa zu Yom Kippur und oder an verschiedenen Feiertagen, ist es eine Tradition in Israel, weiß gekleidet zu sein. Ich denke, in Japan ist es in gewisser Weise ähnlich. Unterhaltungslokale schließen heute wahrscheinlich etwa früher, so ist das hier Sitte an Gedenktagen. 

    Das Gefühl der Verlassenheit und Trennung hält die ganze Zeit an. Aber wir wollen uns auch an das erinnern, was nicht vergessen werden kann, und wir wollen alles für eine Minute festhalten, was vor einem Jahr aufgehört hat. Ohne Tränen zu weinen, denn sie können den Schmerz nicht mehr wegwaschen. Heute ist der 7. Oktober, und auch mein Geburtstag. 

    Ein Jahr ist vergangen, und ich bin immer noch so traurig und erschrocken.

    Marun ar-Ras, eine historische Stelle im Libanon an der Grenze zu Israel. Hier sind auch UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) stationiert. Hier fanden Kämpfe gegen die Hizbollah statt. (Quelle: Comunidades plus)

  • Yulis Tagebuch, Folge 56

    6. Oktober 2023

    Jemand nannte ihn den letzten Tag unseres alten Lebens

    Vor einem Jahr war der 6. Oktober ein ganz normaler Tag, ein Freitag, außerdem der Vorabend eines Feiertags und der Tag vor meinem Geburtstag. 

    Am jenem Nachmittag ging ich mit meinem Sohn zum Konzert von Mergui im „Barbie-Club“ in Tel Aviv. Seit langem haben wir es geschafft, wieder bei seinem Konzert dabei zu sein. Wie viele Künstler in dieser Zeit trat er freiwillig für die Evakuierten aus dem Norden und Süden in der Stadt auf. Und es gibt kaum Schöneres, als seinen Lieblingssänger zum ersten Mal in einem Konzert auf der Bühne zu sehen. Nach dem „Barbie“ gingen wir mit meiner Schwester und ihrem Sohn zum Abendessen in ein japanisches Restaurant.

    Schon in jungen Jahren haben unsere Kinder Sushi gegessen, und ich glaube, es gibt nichts, was ihnen bis heute besser schmeckt, nicht einmal Hamburger oder Pizza, nicht einmal Eis. Um ehrlich zu sein, den Geldbeutel schont es nicht gerade, denn der Preis für eine Mahlzeit in einem Restaurant für zwei Personen hierzulande beträgt nicht weniger als 50 Euro. Das ist eigentlich eher das Minimum. 

    Und auch im Großen und Ganzen war es keine einfache Zeit, weder wirtschaftlich noch politisch. Es gibt viele Probleme innerhalb Israels, die uns damals und jetzt noch beschäftigten, denn gleichzeitig wurden die Preise für Wohnungen, für die Mieten, die Lebensmittel und die Kleidung teurer, so daß uns die Frage beschäftigte, wie wir das schaffen. Was wird noch werden? Diese alltäglichen Überlegungen hielten uns jeden Tag auf Trab.

    Wenn wir auch nicht darüber sprachen oder aufhörten, vieles von dem zu tun, das wir gewohnt waren, wir haben alles etwas reduziert. Wir gingen abends weniger aus, bestellten nicht die teuersten Gerichte in Restaurants, flogen Low-Cost und verzichteten auf extra Gepäck. Wir machten kürzere Ferien und kauften kleinere Geschenke füreinander. Im Supermarkt kauften wir größtenteils das, was wir brauchten. Wir reduzierten Aktivitäten für Kinder am Wochenende, die teuer waren und gingen, wenn möglich, einfach an den Strand. Es ist kostenlos, nah bei uns und heilt die Seele von Jung und Alt.

    Obwohl der Terrorismus nicht aufhörte – Raketen wurden unverändert aus dem Norden oder dem Süden fast täglich auf uns abgefeuert – bestand doch keine Aussicht auf eine größere Bedrohung aus Gaza und auch nicht von unserer Seite, etwa eine militärische Operation dort. Zu den Drohungen von außen trat ein Streit zwischen rechts und links in Israel – sichtbar in wöchentlichen Demonstrationen in Tel-Aviv und auch andernorts im ganzen Land und es herrschte vielfach ein Gefühl, daß uns der Kapitän am Steuerrad direkt auf einen Eisberg zusteuert.

    Zwei Wochen zuvor befassten sich die Medien mit dem Jubiläum des Yom-Kippur-Krieges von 1973. Ich wurde zu einer akademischen Konferenz eingeladen, die sich mit ihm befasste. Ein Krieg, über den selten gesprochen wird. Es sind das Scheitern, das Misstrauen, die Verlassenheit und der Krieg, der so viele Opfer forderte, die ihn zu einem nationalen Trauma machten. Am 22. September 2023 wurden die Fernseh-Nachrichtenmagazine mit dem Titel „Die Versäumnisse von 1973“ eröffnet, während die Zahl „73“ sich mit der Zahl 23 abwechselt. 

    „Der Jom-Kippur-Krieg bekommt in diesem Jahr eine besondere Bedeutung, es ist das Jubiläumsjahr dieses schrecklichen Krieges. Das Ausmaß des Scheiterns, die falsche Konzeption, die dazu führte, daß die Führung alle Warnungen und roten Ampeln ignorierte und mit offenen Augen in den Abgrund ging – glauben Sie, daß ein solches Versäumnis auch heute noch passieren kann? 54 Prozent des Publikums glauben das. Sieht die Öffentlichkeit etwas, was die Führung nicht sieht?“. So eröffnete Danny Kushmaro das Freitagabend-Magazin am 22. September 2023, genau zwei Wochen vor dem 7. Oktober. 

    Heute Morgen haben die Medien diese Sendung erneut im Fernsehen ausgestrahlt, als wäre es eine Prophezeiung, die wahr geworden wäre.

    Gedenkstunde am 7. Oktober 2024, 20 Uhr vor dem Rathaus von Palma de Mallorca,
    (Foto:  Ibáñez Gutiérrez 

  • Yulis Tagebuch, Folge 55

    Frohes Neues Jahr

    Die zwei oder drei nächsten Folgen werden wahrscheinlich sehr aufgeladen sein. Zuerst habe ich persönliche Gründe dafür (Unsicherheit, Sehnsucht)… Ich höre damit jetzt auf, um nicht vom Thema abzuweichen, aber nicht nur das, denn bei einem Jahresübergang, genau am Übergangspunkt, besteht die starke Tendenz zur inneren Beobachtung. Dann tauchen schwierige Fragen auf, und unter diesen Umständen neigen wir dazu, melancholischer und viel weniger unbeschwert zu sein.

    Deshalb waren die Feiertage immer eine schwierige Zeit, insbesondere Rosch Ha-Schana.

    Trotz aller Angriffe aus dem Irak, Jemen, Libanon und Gaza verlief die Woche bei uns wie gewohnt. Mit Wachsamkeit und Verantwortung führten wir eine quasi sorgfältige Routine durch. Die Nachmittagsaktivitäten fanden wie gewohnt statt, ebenso die Schulen arbeiteten. Wir sind heute nach der Schule sogar schwimmen gegangen.

    Die Schüler haben bereits in den letzten Wochen jedoch mehrmals geübt, in die Bunker zu gehen. Dementsprechend bekam ich das Gefühl, dass sie in gewisser Weise auch uns, die Eltern, mittelbar vorbereiten. 40 km nördlich oder südlich gab es schon Anweisungen wie u.a., in der Nähe eines Schutzraums zu sein, oder nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Menschen in einem Raum.

    Wie es schon immer war, streben die Terroristen danach, zu der physischen Zerstörung noch den psychologischen Aspekt hineinzubringen, und richten deshalb ihren Akt auf Feiertage aus. Je größer die Zerstörung ist, desto besser ernährt sich das Monster. Deshalb freuen sich Terroristen auf Feiertage, insbesondere wenn es um jüdische Feiertage geht.

    Diese Woche feiern wir das neue Jahr. Mittwoch bis Freitag sind die heiligsten Tage im Judentum, gefolgt von Kippur und Sukkot. Weiße Kleider oder weiße Hemden sind an diesen Feiertagen sehr beliebt. Zum Neujahrsessen gehören Fleisch und Fisch, aber auch süße Speisen wie Reis mit gekochten Trockenfrüchten, Karotten oder süßen Rote Bete als Beilage und ganz viel mehr. Zum Dessert gehört u.a. auch Honigkuchen, der ein Muß ist (den esse ich ehrlich nicht so gerne). Schon bei den Feiertagsgrüßen, vor dem Essen, tauchen wir einen Apfel in Honig und wünschen einander ein süßes neues Jahr. Die Süße ist halt symbolisch, aber enthält die Hoffnung.


    Foto: Comunidades plus

    Aber lasst uns aus dem süßen Traum erwachen, denn gerade hat der iranische Angriff begonnen. Dutzende ballistische Raketen auf einmal sind geschickt worden und zum ersten Mal hören wir in unserer Stadt so viele Sirenen nacheinander, und laute Explosionen über uns. Die Intensität der Explosion ist besonders laut, da es sich nicht um Raketen, sondern um ballistische Raketen handelt. Mein Sohn ist zu Hause, wir gehen alle ins Treppenhaus und nicht zum Bunker, wie wir eigentlich sollten. Und das liegt daran, dass alles so schnell ging, bevor wir Schuhe anziehen konnten, hörten wir schon die Explosion.

    ades plus

    Ich bin in einem Moment in der Küche und in dem anderen Moment ist es eine Kriegsszene. Einerseits glänzt das Haus für den Feiertag sauber, wir haben die festliche Kleidung angefertigt oder neu gekauft, und andererseits werden Raketen wie Regen auf uns abgefeuert. Irrelevant ist der Grund, aber meiner Meinung nach rächt der Iran dieses Mal den Tod von Nasrallah. Verständlich, da er eine wichtige Figur des tatsächlichen fundamentalischen Terrors war. Er hörte 30 Jahre lang nicht auf, zu reden und zu drohen, Israel zu eliminieren. Auf jeden Fall ein Verlust für die dunkle Welt, und ebenso für manche in Europa, wie in der Le Monde-Redaktion, die Zeitung der freien Nation Frankreich schrieb ausführlich über Nasrallah und von seinen Hobbys erzählte, und wie er Fußball so sehr liebte.

    Zum Glück erinnerte die Journalistin Alba Ventura die französischen Medien daran, dass Hitler auch Hunde liebte, und drückte ihre Bestürzung darüber aus, wie die französischen Medien über einen Massenmörder von u.a. Amerikanern, französischen, sunnitischen Muslimen und natürlich Juden aus allen Ländern sprechen, und sich für seine Persönlichkeit interessieren. Die Welt ging schon einmal unter, es geht wahrscheinlich dann noch einmal.

    Sie berichten in den Nachrichten, es sei jetzt das Ende einer Raketen-Welle, andererseits drohen die Iraner, dies sei nur die erste Welle. Vielleicht fängt es nachts wieder an. Vielleicht morgen Abend vor dem Abendessen. Ich fühle mich gerade wie eine Sekunde vor dem Aufwachen und es ist nicht klar, was ein Traum und was Realität ist. Ich höre jetzt hier auf, weil es mir wirklich schwerfällt, weiter zu schreiben.

  • 1 Jahr nach dem 7. Oktober!

    nach dem Unfassbaren, dem NIE WIEDER!

    Klagemauer
    Klagemauer in Jerusalem (Foto: privat)

    Mit den jüngsten Entwicklungen im Nahostkonflikt ist ein Ende dieser bewaffneten Auseinandersetzungen in noch weitere Entfernungen gerückt als je zuvor. Im Versuch, die Absichten und Möglichkeiten der beteiligten Seiten zu erkennen und zu wägen, komme ich zum Ergebnis, dass wir eine noch lange währende Konfrontation erleben werden, die derzeit durch keinerlei diplomatische Aktivität – zu dem, was auf dieser Ebene derzeit geschieht, ist mein Urteil noch skeptischer als früher – zu entschärfen möglich ist. Nun sind wir allerdings auch keine Ratgeber und wir sind erst recht nicht parteiisch im Sinne der kritiklosen Parteinahme für eine der kriegführenden Seiten.

    Allerdings erheben wir eine Stimme insoweit, als wir mit der Dokumentation eines ganz individuellen Erlebens von unermeßlichem Leid an eine jedwede aktuelle Politik überwölbende Forderung erinnern, die eigentlich allerorten geteilt werden sollte: Das gegenseitige Töten von Menschen wird nie dazu führen, dass Konflikte – tatsächliche wie vermeintliche – zu einem

    wirklichen Frieden und noch weniger zu einer besseren Welt führen werden. Zu lernen ist aus der Geschichte, das man solche Konflikte nur lösen kann, wenn manvöllig neu darüber nachdenkt, wie wir eigentlich leben wollen, alle damit verbundenen Tatsachen und Konstellationen rückhaltlos, aber zivilisiert erörtert, und so nach neuen Wegen sucht, dem friedlichen Zusammenleben einen Weg zu bahnen.

    Im Nahen Osten stehen im Moment die Chancen dafür schlechter als jemals zuvor – aber gerade deshalb soll und muß die Stimme hierfür erhoben werden.

    G.D.

  • Yulis Tagebuch, Folge 54

    Krampfanfall

    Es hat mich mehr als eine Woche beschäftigt, diese Folge zu schreiben. Ich konnte mich lange nicht zum Schreiben durchringen, fühlte mich so, als hätte ich meine Kräfte verloren. Ich weiß nicht, was passieren wird, aber im Moment kann mich nichts aufmuntern und es scheint jeden Tag schlimmer zu werden. Vielleicht liegt es nur an den deprimierenden Berichten der Medien, vielleicht aber auch an mir selbst. Aber die Angst, die sich in mir ausbreitet, schwächt mich.

    Mia, von der ich zuvor schon berichtete, ist jetzt 22 Jahre alt. Erst 22 Jahre alt, und sie war schon zwei Monate in Gefangenschaft. Von Terroristen wurde ihr in die Hand geschossen, ihr bester Freund wurde ermordet. „Ich werde leben“, sagt Mia nach ihrer Rückkehr aus der Geiselhaft, aber sie braucht Zeit um wieder auf zwei Beinen stehen zu können.

    Nach ihrer Freilassung und einer Handoperation erlitt Mia zum ersten Mal in ihrem Leben einen epileptischen Anfall als Folge der Anhäufung von psychischem Stress. Schlafmangel und Traumata führten dazu, dass ihr Körper zusammenbrach. Immer wenn sie das Haus verlässt, nehmen die Ängste zu. Da ist plötzlich die Angst, Auto zu fahren und plötzlich erschossen zu werden.
    Und mit dem Sonnenuntergang seien die Auslöser viel stärker, beschreibt Mia. Sie erinnert sich an das Verhalten des Terroristen, der sie während ihrer Gefangenschaft bewachte. „Wenn ich nachts ins Bett gehe, sehe ich ihn vor mir. Ich sehe ihn und habe Angst. Ich kann nicht schlafen. Ich zittere.“
    Als sie mit ihrem Bruder im Auto unterwegs waren, hielten sie an einer Tankstelle an. Plötzlich hatte sie einen Flashback, sie versteckte sich unter das Auto. Manchmal fragt sie sich: „Warum,

    warum? Warum wurde ich nicht am 7. Oktober erschossen? Warum muss ich mit dieser posttraumatischen Belastung leben?“ Im März 2024 wurde Mia nach Washington eingeladen, um bei der Biden-Rede auf dem Capitol Hill anwesend zu sein. Sie traf sich mit einer Reihe republikanischer und demokratischer Parlamentarier, um sie dafür zu gewinnen, sich weiter für die Freilassung der Entführten einsetzen. Sie berichtete ihnen, was sie in der Gefangenschaft erlebt hatte. Die Reise war schwierig für sie, aber die Rückkehr der Entführten gibt ihr keine Ruhe.
    Im Juli hat Mia eine Story auf Instagram hochgeladen, in der sie beim Training im Fitnessstudio zu sehen ist, und kommentierte dabei: „So viel Spaß gibt es nicht“. In einer anderen Nachricht ist sie im Wohnzimmer ihres Hauses zu sehen und schreibt über einen weiteren Schritt im Heilungsprozess: „Zum ersten Mal halte ich etwas mit meiner rechten Hand“.
    Mittlerweile hat Mia die meisten Fotos, die sie damals auf Instagram einstellte, wieder gelöscht und es scheint, dass sie einen Neuanfang anstrebt. Ihr letztes Tattoo drückt es gut aus: „Wir werden wieder tanzen. 7.10.2023“.

    Heute gab es morgens um halb sieben Uhr Sirenengeheul. Der Himmel schien zu explodieren, die Hisbollah hatte vom Libanon aus eine Boden-Boden-Rakete abgefeuert. Zum Glück schlief mein Sohn noch und es hat mir so viele Erklärungen und Sorgen erspart, vor allem Sorgen, denn sie gehören erst alle mir.

    Der Luftraum der Hälfte des Staates Israel war seit mehreren Tagen gesperrt und wir befinden uns in einem Krieg, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Andererseits wurde im Westen die Legitimität, den Terrorismus zu bekämpfen, verneint. Waffenlieferungen wurden gestoppt, aber auch in den Akademien interessiert sich niemand mehr für Israelis. Weniger Stipendien für israelische Studenten, Doktoranden. Weniger Zusammenarbeit mit Israelis, und weniger israelische Produkte im Markt.

    Die Gleichgültigkeit, die die Welt gegenüber dem Krieg gegen den Terror zeigt, löst in mir große Wut und Schuldgefühle aus.
    Wurde den Juden in den 1930er Jahren vorgeworfen, sie wollten die Welt erobern, so wird ihnen heute vorgeworfen, Menschen zu töten oder unterdrücken zu wollen. Es ist erstaunlich, wie diese Minderheit, zu der ich gehöre, immer als Werkzeug in den Händen von Extremisten missbraucht wird, die vor den Augen der Massen, der Intellektuellen oder nicht, Schritt für Schritt die Welt ruinieren.

    Ich habe eben gehört, dass zu dem Film des israelischen Regisseurs Yariv Moser über das Nova-Festival „We will DanceAgain“ kürzlich entschieden wurde, dass die Hamas nicht als Terrororganisation bezeichnet werden würde. Warum? Das war die Bedingung der BBC, die als Co-Produzent des Films auftrat. Also, wie kann man mit Wahnsinn vernünftig reden?

    Die WhatsApp-Gruppe der Eltern ist schon vor sieben Uhr sehr aktiv. Eltern fragten: Wer schickt den Jungen oder das Mädchen zur Schule? Einige Eltern schrieben, dass die Kinder selbst nicht gehen wollten, dass sie große Angst hätten und das Haus nicht verlassen wollten. Manche Eltern haben selbst Angst. Die Lehrerin ihrerseits beeilte sich, eine Nachricht zu senden, dass es heute Schulunterricht gibt.

    Ich habe immer noch nicht entschieden, was ich mache. Mein Sohn schläft noch, ich schiebe meine Gedanken beiseite, schließe für einen Moment die Augen, entspanne mich und versuche, den Kaffee zu genießen. Um zehn nach sieben wachte er auf, und sobald er aufgestanden war, beschloss ich, dass er zur Schule gehen würde. Denn für ihn ist es noch immer ein ganz normaler Tag. Warum also diese Naivität kaputt machen? Und wenn etwas passiert, kann ich zur Schule laufen und bin in fünf Minuten dort. Zur Schule gehört ein echter Sicherheitsraum, wie ein Bunker, und er ist da mit vielen anderen Kindern zusammen, und nicht allein mit meiner Hysterie. Also sollte er besser gehen. Erfreulicherweise

    bekamen die Eltern nach der Mittagspause Fotos vom Fußballspiel. Sie hatten eine großartige Zeit heute. Alles scheint normal. Sie können vergessen, dass wir uns im Krieg befinden, wann immer es möglich ist. Zumindest in den Momenten, in denen nicht gerade eine ballistische Rakete über uns explodiert. Bis zum nächsten Mal …

    Riesiges Waffenarsenal von der IED gefunden, dagegen verblaßt noch HAMAS, (Quelle:https://whtsapp.com/channel/0029VaSiBVIADTTOODozrD82e)
  • Yulis Tagebuch, Folge 53

    Mia Shem

    Vor dem 7. Oktober war Mia Shem ein junges Mädchen, 21 Jahre alt, das gerne die Welt bereiste. Ein Mädchen mit Selbstvertrauen und Ambitionen. So spiegelten es auch ihre Fotos auf Instagram wider. Sie lernte zu tätowieren und arbeitete in einem Tattoo-Studio, ein Beruf, den sie in Zukunft ausüben wollte. Außerdem liebte sie, zu zeichnen und zu kochen. Mia kam mit ihrem besten Freund, Elia Toledano (28), zum Nova Festival. Elia wurde später von Hamas in Gaza ermordet. 

    Als die Schießerei begann, stiegen Mia und Elia sofort ins Auto und fuhren los. Nach 25 Minuten Fahrt trafen sie auf dem Weg auf zwei Lieferwagen mit bewaffneten Terroristen, die direkt auf ihre Autofenster schossen. Einer von ihnen, der sich dem Fahrzeug näherte, schoss Mia aus kürzester Entfernung in die Hand. „Ich wollte nicht sterben“, berichtete sie und fing an zu schreien: „Ich habe keine Hand!“ Dann kam aus dem Nichts ein weiteres Auto mit vier Terroristen. „Einer von ihnen zog mich an den Haaren, setzte mich in sein Auto, und drücke meinen Kopf zwischen meine Beine – und wir fuhren nach Gaza“, erzählt sie weiter.

    Mia erzählte, dass dort vier Terroristen zu ihr gekommen sind: „Komm schon, Video“. Sie verstand nicht, warum sie ein Video von ihr machten, aber dann erinnerte sie sich plötzlich an Gilad Shalit, der fünf Jahre in Gefangenschaft war, und sagte sich: Es gibt die Möglichkeit, das ich jetzt jahrelang hierbleiben muss. 

    Nach ein paar Tagen veröffentliche Hamas ein Video von Mia: „Hey, ich bin Mia, 21 Jahre alt, ich bin in Gaza (ab und zu schaut sie zu der Person auf, die vor ihr steht, wenn sie redet), ich hatte eine Operation an meiner Hand. Ich werde versorgt, sie geben mir Medikamente. Alles ist in Ordnung, ich bitte sie nur darum, mich so schnell wie möglich nach Hause zu bringen.“ Die Operation an ihrer Hand war von einem Tierarzt durchgeführt worden.

    Sie verbrachte fast zwei Monate auf einer Matratze mit einem Terroristen, der sie 24 Stunden am Tag bewachte. Weinen war nicht erlaubt. Denn wenn du weinst, schicken sie dich in den Tunnel. Sie wurde in einem 2,5 Quadratmeter großen Raum im Haus einer Familie festgehalten. Sie und der Terrorist waren 55 Tage lang 24 Stunden am Tag im selben Raum.

    Der Raum war geschlossen. Er starre sie oft an, und sie hatte Angst vergewaltigt zu werden oder dass er jeden Moment plötzlich die Waffe ergreift und sie erschießt. Es gab Tage, an denen sie Essen bekam, und es gab Tage, an denen sie nichts bekam. Manchmal öffneten die Kinder von der Familie die Tür, redeten über sie, lachten über sie. Man betrachtet sie, als wären sie ein Tier und kein Mensch, sagte Mia. Sie darf nicht reden, nicht weinen, nicht bewegen. „Ich dachte an Mama und Papa und daran, was sie jetzt durchmachen, und ich dachte auch an Thailand, wie ich mit Mama am Strand ein Sonnenbad nehme und wir über alles reden, was passiert ist“, erzählt sie.

    Irgendwann wurde Mia zusammen mit der Familie, die sie überwachte, aus der Wohnung wegtransportiert. Einige der Übergänge waren mit einem Krankenwagen. Sie sah 54 Tage lang kein Tageslicht, sie duschte 54 Tage lang nicht und schlief sehr wenig. „Es ist sehr schwer zu schlafen, wenn ein bewaffneter Mann mit dir in einem Zimmer sitzt und dich anstarrt“, erinnert sie sich. Jener Bewacher versuchte auch, Mia zu unterdrücken, indem er ihr sagte, dass sie mindestens ein weiteres Jahr, vielleicht sogar Jahre in Gefangenschaft bleiben würde. Währenddessen hört sie draußen die Bombeneinschläge. Manchmal wurde sie von den Druckwellen quer durch den Raum geschleudert. Das hat sie tatsächlich beruhigt, weil ihr klar wurde, dass man sie nicht vergessen hatte. 

    Dann war es eines Tages still. Absolute Stille. Am 49. Kriegstag wird ein erstes Geisel-Abkommen wirksam. Einige Tage vor ihrer Freilassung brachte man sie an einen anderen Ort, wo sie – nach 50 Tagen allein – auf weitere Entführte trifft. Alle sahen aus wie gebrochene Menschen, so hat Mia es beschrieben. Und es ist russisches Roulette, weil einige freigelassen werden und andere nicht. Mia wird in der letzten Runde freigelassen. Jetzt muss sie sich von den zurückbleibenden Entführten verabschieden, und jene bitten sie, dafür zu sorgen, dass niemand sie dort vergisst. Und Mia entschuldigt sich dafür, dass sie freigelassen ist: „Tut mir leid, tut mir leid, ihr kommt raus, ich verspreche es euch, sie lassen euch frei.“ 

    Dieser Moment lässt sie nicht los. Vor allem, weil sie  bis heute noch dort sind. Kurz vor der Abfahrt, auf dem Heimweg, drehen die Hamas-Propagandisten ein weiteres Video. Sie kommen mit der Kamera zum Auto und sagen ihr: „Sagen Sie gute Worte über die Menschen in Gaza“. Und Mia sagt, was sie wollen, und wartet nur darauf, aus der Hölle herauszukommen. 

    Als sie ein IDF-Fahrzeug auf sich zukommen sah, wurde ihr klar, dass dieser Teil des Albtraums vorbei war. 

    Fortsetzung folgt…

  • Yulis Tagebuch, Folge 52


    Das Richtige wählen

    In dieser Woche habe ich mit einer guten Freundin in Berlin telefoniert. Ein Gespräch, bei dem man viel Schmerz verarbeiten kann und gleichzeitig neue Energie gewinnt. Sie fragte mich, wieso trotz der Millionen Demonstranten gegen die Regierung und Bibi, diese wieder gewählt wurden – ich frage es mich das übrigens auch manchmal …

    Aber tatsächlich liegt das vor allem am Wahlsystem in Israel, das jenem letztendlich ermöglicht, so viele Jahre zu regieren, obwohl ihm die Mehrheit kein Vertrauen mehr entgegenbringt. Die Partei, die es schafft, mit anderen Parteien gemeinsam 61 Mandate zu erreichen, konstruiert die Koalition. Das heißt, wenn Bibis Partei die Unterstützung der Ultraorthodoxen und der religiösen Zionisten erhält, bilden sie einen starken Block, der es sehr schwierig macht, Bibi zu ersetzen. 

    Und so leidet die Mehrheit der Säkularen im Staat Israel nun schon fast zwei Jahrzehnte. Und selbst als sich die Ultraorthodoxen der Mitte-Links-Partei anschlossen, sorgte Bibi aus der Opposition heraus dafür, Versprechungen unter seinen damaligen Koalitionsmitgliedern zu streuen, die die Linke weder mithalten noch geben konnten, und so stürzten die Regierungen. Jedes Mal ist es ein anderer Trick von ihm. 

    Das alles ist wichtig zu wissen, damit alle verstehen, dass Bibi das Land nicht wirklich repräsentiert. So hält er jetzt noch die Regierung. Er stellt die kleinen Parteien mehr oder weniger zufrieden, damit die Koalition nicht stürzt. Ich  habe wirklich nichts gegen religiöse Menschen (meine Familie ist auch so), aber ich glaube nicht, dass Gott eine Partei braucht, denn tatsächlich vertreten sie wie alle Politiker nichts anderes als ihre eigenen Interessen. Also, Bibi ist eine Kombination aus Korruption, Demagogie und Größenwahn. Und wir leiden …

    ER hat mich gestern angerufen und wir haben uns ein wenig unterhalten. Weil ich von dem Gespräch aufgeregt und überrascht war, tat mir der Magen furchtbar weh, ich war unkonzentriert. Ich wollte wissen, warum ER mich ignorierte, als ER mich sah, und ER versprach, sich später mit Antworten bei mir zu melden, rief danach aber nicht an. Die Wahrheit ist, ich habe nicht gewartet, ich wusste, dass ER nicht anrufen würde. Wir haben nicht viel geredet. Ich glaube, ER hat nur angerufen, um mich für einen Moment zu hören. Trotz der Zeit, die vergangen ist, habe ich eine große Nähe gespürt, und vielleicht ist das das Traurige daran. Wenn man jemanden liebt, heilt die Zeit nicht und man vergisst nicht wirklich den anderen. Jeden Tag wird das Loch im Herzen größer und der Kummer frisst uns auf. 

    Das ist aber nicht zu vergleichen, denke ich statt dessen an die Eltern der Entführten, deren Sehnsüchte, der Schmerz, ihre Sorge und Kummer jeden Tag größer werden. Mit der Zeit kann der Körper so viele Trauer nicht mehr unterdrücken. 

    Gilad Shalits Vater starb einige Jahre nach der Freilassung seines Sohnes, Oron Shauls Vater starb etwa ein Jahr nach der Gefangennahme seines Sohnes in 2014, und seine Mutter hat Krebs. Das Schicksal meinte es auch nicht gut mit der verstorbenen Rona Ramon – ihr Ehemann Ilan war ein Astronaut, dessen Raumfähre beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinanderbrach und ihr gemeinsamer Sohn starb bei einem  Flugzeugabsturz

    Eltern können solchen Schmerz und die Sorgen nicht wirklich unterdrücken, der Körper verkümmert mit der Zeit

    Ich habe diese Folge „Das Richtige wählen“ genannt, weil viele Menschen in Israel in diesem Jahr extreme Entscheidungen treffen müssen – nicht mehr leben zu wollen, ihr Land zu verlassen, alles zu tun, um zu überleben, aufzugeben, auseinanderzufallen, sich  scheiden zu lassen, ihr Traumgeschäft zu schließen. 

    Das alles sind Entscheidungen, von denen sie vor dem 7. Oktober nicht gedacht hatten, dass sie es tun müssten. Und das war die richtige Entscheidung für sie in diesen Zeiten – Zeiten des Krieges und der Verzweiflung. 

    Mia Shem entschied sich, zu glauben, dass sie aus der Gefangenschaft rauskommen würde. Sie beschloss, intensiv über ihr Leben  nach der Gefangenschaft nachzudenken; darüber, wie das erste Treffen mit ihrer Mutter aussehen würde, oder ihre Hochzeit.

    Das hat sie dort gestärkt, ihr überhaupt erst die Kraft gegeben, nicht aufzugeben. Als sie aus der Gefangenschaft zurückkehrte, war sie eine der wenigen, die ihre Geschichte zu erzählen beschloss, um den Kampf für Freilassung der Entführten in der Öffentlichkeit überall und jederzeit zu führen und zu fordern. Es braucht viel Kraft und Mut, um eigenen Schmerz zum Heilmittel für andere zu machen. 

    Ich ende heute mit einer falschen Entscheidung: Niemand von der Regierung hat sich bisher die Zeit genommen, mit den zurückgekehrten Entführten zu sprechen.

    Demonstrationen in Israel veröffentlicht am 6.4 in Globes Zeitung Online https://www.globes.co.il/news/article.aspx?did=1001475796 Foto Kredit: Hofshi Be’artzenu
  • Yulis Tagebuch, Folge 51

    Siebte Runde

    In der Nacht zwischen den 30. November und dem 1. Dezember wurden acht Entführte freigelassen. Als die Zahl der Freigelassenen abnahm, zog sich das Herz stärker von allein zusammen. Es ist von großer Bedeutung, ob ein oder vier Menschen weniger freigelassen werden, und es ist beängstigend zu wissen, wie viele zurückbleiben mussten. 

    Nach 55 Tagen in Gefangenschaft kehrten sieben Frauen und ein Junge zurück: Mia Shem, Amit Soussana, die Geschwister Bilal und Aisha Al-Ziyadna, Ilana Gritzewsky, Nili Margalit, Shani Goren und Sapir Cohen.

    Bilal (18) lebt mit seiner Familie in Rahat. Er wurde zusammen mit seiner Schwester Aisha (17), seinem Bruder Hamza (22) und seinem Vater, Yusef (53) am Morgen des 7. Oktober aus der Scheune im Kibbutz Holit, wo sie arbeiteten, entführt.

    Nili Margalit aus Nir-Oz (41) arbeitet als Krankenschwester im Soroka Hospital. Nilis Familie erfuhr erst, daß sie entführt wurde, als ihr Kibbutz-Nachbarin Yocheved Lifshitz aus der Gefangenschaft am 24. Oktober entlassen wurde und ihnen erzählt wurde, dass sie an ihrer Seite war und sich um die Verwundeten gekümmert habe.

    Ilana Gritsevski (30) wurde in Mexiko geboren und wanderte im Alter von 16 Jahren im Rahmen des Zionismus-Programms NA‘ALE nach Israel aus. Ihre Eltern und ihre Schwester wanderten später ebenfalls nach Israel aus. Ilana war sehr glücklich mit ihrem Partner Matan Zangauker (24). Die beiden lebten zusammen in Kibbutz Nir-Oz. Am 7. Oktober telefonierte Matan mit seiner Mutter und beruhigte sie. Kurz bevor die beiden entführt wurden, schrieb er an seine Mutter: „Sie sind hier, zu Hause, Mama. Ich liebe dich, weine nicht.“ 

    Sapir Cohen (26) und Sasha Trufanov (28) zogen etwa einen Monat vor der Entführung zusammen im Zentrum Israels ein. Am 7. Oktober kamen sie nach Nir-Oz, um Sashas Familie zu besuchen. Sapir wurde zusammen mit Sasha, seiner Mutter Yelena Trufanov und ihrer Mutter Irena Tati nach Gaza entführt. Die Mutter und die Großmutter wurden in der sechsten Rundes zu Ehren Putins freigelassen. Alex bleibt noch in Gaza. 

    Shani Goren (26) aus Nir-Oz arbeitet mit Kindern im informellen Bildungssystem. Sie liebt ihren Job sehr. Als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, erzählte Eitan Yahalomi (12), dass Shani in der Gefangenschaft ihm ihr Essen gegeben habe. 

    Am 7. Oktober war Shani allein zu Hause, eingeschlossen in ihrem Sicherheitsraum. Während die Terroristen in den Kibbutz eindrangen, telefonierte sie mit der Freundin ihres Bruders und übte mit ihr am Telefon das Atmen, um sich zu beruhigen. Nach zwei Stunden Telefonat brachen die Terroristen in den Sicherheitsraum ein und holten sie aus dem Haus. Das Telefon blieb geöffnet, aber sie hörten Shani nicht, sondern nur Gespräche auf Arabisch. So wusste die Familie zumindest, dass Shani lebendig entführt worden war. 

    Amit Sosna (40) ist von Beruf Rechtsanwältin. Im letzten Jahr zog sie in den Kibbutz Kfar-Gaza, aus dem sie entführt wurde. Es wird einige Monate dauern, bis Amit beschließt, zu enthüllen, was sie in der Gefangenschaft durchgemacht hat.

    Mia Shem (21) lebt in Shoham. Sie wurde von der Party in Re’im Snach Gaza entführt. Bevor sie entführt wurde, hatte sie ein wenig Zeit, mit der Familie zu sprechen und ihnen zu sagen, dass sie angeschossen wurde. Dann ist der Kontakt mit ihr abgebrochen. Wenige Tage nach ihrer Entführung veröffentlichte die Hamas ein Video von Mia. Dies war das erste von der Hamas veröffentlichte Video von Entführten. In dem Video ist Mia mit einer verletzten Hand zu sehen und sie sagt, dass sie sich einer Operation und medizinischer Behandlung unterziehen mußte und darum gebeten habe, so schnell wie möglich nach Hause zurückgebracht zu werden. Am Tag ihrer Freilassung beeilte sich die Hamas erneut, ein Video zu veröffentlichen, in dem Mia erzählt, wie gut die Bedingungen und wie freundlich die Menschen waren.

    Nachdem sie die Grenze überquert hatte, sagte Mia, daß es tatsächlich keine einzige Person in ihrer Nähe gab, die nicht an ihrer Entführung und Festnahme beteiligt gewesen wäre: „Es gibt dort keine Unschuldigen, sie sind alle Teile davon.“ 

    Im Mai hat Mias Mutter, Karen, etwas gesagt, das bis heute noch sehr relevant ist: „Die Familien der Entführten sind zu einem Konzept, einer Art Plakat geworden. Wir, die Familien, die Entführten, die zurückgekehrt sind, die Eltern, die ihre Kinder verloren haben, solange wir Menschen dort haben, bluten wir, atmen wir nicht und können nicht weitermachen. Es ist unmöglich, während wir noch im Krieg sind und in diesen unmenschlichen Situationen, uns zu erholen. Der Staat und die Bürger werden sich nicht erholen können. Jeder muß hier sein, es muss ein Ende haben.“ 

    Seitdem sind 338 Tage vergangen. Und morgen zählen wir einen weiteren Tag.

    Eine Gruppe von Studenten for Justice in Palestine (SJP) protestiert gegen die Universitätsleitungen in Vermont und Georgia, daß die freie Meinungsäusserung unterdrückt würde. (Quelle: Communities Plus)
  • Yulis Tagebuch, Folge 50

    Der Schrei

    In Israel werden die Tage seit Kriegsbeginn öffentlich gezählt, heute ist Tag 338. Jedes TV-Magazin, alle TV-Nachrichtenprogramme, jedwede Pressemitteilung, an jedem Morgen, an jedem Abend zählen wir. Unser gesamtes Leben ist um den 7. Oktober 2023 zentriert. Tatsächlich sind elf Monate seither vergangen, aber nichts hat sich wirklich geändert oder gar verbessert. 

    Die Zerstörung geht weiter, endlose Todesfälle, Verwundete an Leib und Seele, die Luftverschmutzung. Familien, die auseinanderbrechen, denn der Verlust hat sie getrennt, der wirtschaftliche Zustand oder ein anderes Trauma stehen im Raum. Und es gibt diejenigen, die gebrochen am Rand stehen, es nicht schaffen, die Umstände zu ändern, die Realität zu verbessern. Und ich gehöre zu ihnen.

    Selbst unser alltägliches Leben ist schwer geworden. Alles wird teurer, selbst der Preis von israelischen Tomaten steigt und steigt. Immer mehr Israelis verlassen das Land mit ihren Kindern, weil ihnen entweder die mentale Stärke oder die finanziellen Mittel fehlen, um hier zu leben, oder weil ihnen insgesamt das Gefühl der Freude fehlt.

    Andererseits ist die Hamas immer noch aktiv und bewaffnet. Der Antisemitismus nimmt rasant zu, der Hass gegen Israel ist in allen Bereichen zu spüren. Wenn uns dieser ganze Krieg nicht an einen besseren Ort bringt, können wir ehrlich sagen, daß die Situation in Israel viel schlimmer ist als vor dem 7. Oktober. Auf den israelischen Straße haben wir noch nie so viele junge Amputierte gesehen, sie sind hier bereits Teil der Landschaft geworden. Und die Kinder sind neugierig und fragen: Warum hat er keine Beine? Warum hat er keine Hände?

    Und es fällt schwer, vor der Wahrheit weglaufen zu wollen und so erklären wir … Was?!

    Außerdem ist es das Mindeste, was wir diesen jungen Menschen schuldig sind, sie als Helden darzustellen. Sie wurden dorthin geschickt, um uns zu beschützen. Und wieder wurden heute Nacht 50 Raketen auf den Norden abgefeuert, auch auf Siedlungen, die nicht evakuiert wurden. Und die ständige Besorgnis, die Drohungen aus dem Iran, von der Hisbollah, aus dem Westjordanland … 

    In der Zwischenzeit handelt die Hamas nach Plan, ganz, wie sie es in einem Dokument festlegt, das vor ein paar Tagen in der BILD-Zeitung veröffentlicht wurde. 

    Die Hamas will „weiterhin psychologischen Druck auf die Familien der Gefangenen ausüben, sowohl jetzt als auch in der ersten Phase, damit der öffentliche Druck auf die Regierung des Feindes zunimmt.“

    Zweifellos löste die Hinrichtung von sechs Entführten durch Kopfschüsse einen gewaltigen Ruf nach einem Abkommen und die Freilassung der Entführten aus – die Lebenden und die Toten. Ein Ruf, der im ganzen Land widerhallte. Millionen gehen auf die Straße, um zu protestieren, und jetzt mehr Menschen als je zuvor. Diejenigen, wie Adina Moshe, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, sind immer noch traumatisiert und leiden am Gefühl der Verlassenheit mehr als jeder andere. Nur sie können verstehen, was dort wirklich vor sich geht. Adina Moshe steigt bei Demonstrationen auf die Bühne und fordert mit schwacher Stimme auf, „sie rauszuholen, denn die bringen alle um“.

    Deborah Leshem, Romi Gonens Großmutter, sitzt heute Morgen im Fernsehstudio und sagt: „Romi sollte im Mai zurückkehren, aber plötzlich wurde die Philadelphi-Passage zum Streitpunkt. Wie ist es passiert? Warum finden sie immer etwas, was das Abkommen verzögert? Bringt die Entführten sofort zurück. Opfern Sie nicht noch mehr Soldaten, um nach ihnen zu suchen, denn die Hamas wird die Soldaten und Entführten töten, sobald die IDF in ihrer Nähe ist. Nur durch ein Abkommen werden wir sie lebendig zurückholen. Sie können keine Leben mehr opfern, das können wir nicht.“ 

    Jedoch, und es fällt mir schwer das zu sagen, glaube ich nicht, daß ihnen, Deborah oder Adina, jemand da oben Gehör schenken wird. Leider. Hochrangige Beamte in Geheimdienstkorps reagierten gestern Abend auf die Veröffentlichung des Dokuments der Hamas in der BILD-Zeitung und sagten: „Wir haben versucht, darauf hinzuweisen, dass das Dokument, wie viele andere Dokumente auch, nicht die Bedeutung erhält, die es verdient.

    Das Dokument wurde vom Geheimdienstpersonal nicht bearbeitet und verbleibt im Rohzustand, vergraben in den Tiefen der Festplatten der betreffenden Einheit. Es gelangte weder an die Spitze der Kette noch zu Nitzan Alons Team, das die Verhandlungen leitet, und daher wird es im Kabinett nicht in den Foren diskutiert, die sich mit dem Abkommen befassen.“

    Ja, so ist es leider hier wieder passiert. Genauso wie die Warnungen vor einem 7. Oktober, jene wurde sogar in einem Dokument ein Jahr zuvor bei der Gaza-Division detailliert veröffentlicht. Dann hörten die Beamten nicht auf diejenigen, die warnten. Und jetzt noch einmal. Der Schrei fand nicht zu diesen Menschen, er verhallte ungehört.

    Der Schrei nach Edvard Munch, ART-BART
  • Yulis Tagebuch, Folge 49

    „Hörst Du mich?“

    Der 1. September ist in Israel der Tag des Schulbeginns. Diesmal es ist ein besonders aufregender Tag für meinen Sohn, der heute das erste Schuljahr beginnt. Das ist natürlich auch sehr aufregend für mich. Allein die neuen Umstände, daß er in den Rahmen einer Schule mit all den dazu gehörenden Verpflichtungen wie Uniform und Hausarbeiten eintritt, machen mir deutlich, wie schnell die Zeit vergeht, dass er nun kein kleines Kind mehr ist, sondern langsam auf den Weg zum Erwachsenwerden einbiegt. 

    Aber nachts erinnert er mich immer daran, dass er eben doch noch klein ist und Schutz braucht. Manchmal kommt er mitten in der Nacht zu meinem Bett, wie heute, mit vier Teddybären in der Hand, die er neben uns legt, und erst dann legt er sich selbst dazu und schläft wieder ein.

    Das Wochenende hat zunächst mit einem optimistischen Gefühl begonnen. Israel gewann vier Medaillen bei den Paralympischen Spielen und ich dachte, es würde bestimmt weitere gute Nachrichten bringen.

    Doch es kam anders. Wie stets, wenn er mein Zimmer betritt, weckt er mich. Dann ist es schwierig, wieder einzuschlafen, zumindest gelingt es nie sofort. Und wie es seit dem 7. Oktober ist,  schaue ich dann stets noch auf mein Handy. So sah ich die Push-Benachrichtigung, dass die IDF sechs Leichen von Entführten gefunden hatte. „Warum schaue ich mitten in der Nacht auf mein Handy?! Verdammt, wie soll ich jetzt einschlafen?“, kreisen die Gedanken, „aber vielleicht sind sie diejenigen, von deren Tod wir schon wissen“, hoffte ich. 

    Am Morgen lese ich, dass die sechs Entführten erst vor 48 Stunden ermordet wurden.

    Heute Morgen regnete es zum ersten Mal seit dem letzten Winter. Aber trotz dieses Regens ist die Luft nicht frisch. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, es gibt kein Herbstgefühl. Sinnloser Regen. Wie man die Tauben anschreien würde. 

    Und ich kann immer noch hören, wie Hersch Goldbergs Mutter, Edens Mutter und Carmel Gats Cousine mit den Megafonen an der Grenze zum Gazastreifen stehen und rufen: „Eden, hörst Du mich? Mama vermisst Dich. Ich denke den ganzen Tag an Dich, Du bist das Wichtigste, und ich tue alles, alles, um Dich und alle zu retten. Es tut mir leid, es tut mir leid, ich liebe Dich, ich tue alles.“ Und dann brach die Stimme ab, denn sie brach in Tränen aus, Tränen, die seit fast einem Jahr, Tag und Nacht nicht trocknen.

    Von daher habe ich heute nicht viel zu sagen. Das Radio spielt traurige Songs, das Fernsehen liefert noch mehr traurige Nachrichten. Wir bitten die Toten und die Lebenden, die noch da sind, um Vergebung. Es tut mir leid, Carmel, es tut mir leid, Eden, es tut mir leid, Hersh, es tut mir leid, Alex, es tut mir leid, Ori, es tut mir leid, Almog. Und Arye Zalmanovich aus Nir-Oz, 86 Jahre alt, der, wie Kaid Farhan al-Qadi erzählte, neben ihm ermordet wurde. Und Dutzende mehr. 

    Weil Ihr hättet gerettet werden können. Wir mussten Euch retten. Ihr habt auf uns gewartet. Ihr habt uns vertraut, Eurer Regierung. Die Regierung, die alles hätte tun sollen, um Euch zu retten. Denn Ihr habt darauf gewartet, dass die Armee Euch findet, dass keiner Euch im Stich lässt. Ihr hättet gerettet werden können. Es gibt keine Vergebung.

    Die Philadelphi-Passage ist nicht wichtiger als Ihr. Der Premierminister ist nicht wichtiger als Ihr. Die Beseitigung der Hamas ist nicht wichtiger als Ihr. Ihr seid alle unsere Kinder, die tanzen gegangen sind, die von zu Hause entführt wurden und deren Leichen in den Sand geworfen wurden. 

    Es tut mir leid, dass wir zu spät gekommen sind, und es tut mir leid, dass Ihr so jung sterben musstet. Es tut mir leid, dass Ihr so lange keine Umarmung von Mama bekommen habt. Es tut mir leid, dass derjenige, der das Land regiert, Euch vor dem 7. Oktober im Stich gelassen hat und seitdem jeden Tag. 

    Ruhet in Frieden.

    The Time of Israel, 1. September 2024:

    Als Folge dieser Morde  kündigte der Vorsitzende der Histadrut morgen einen Generalstreik in der Wirtschaft an, am heutigen Abend will die Öffentlichkeit das Land erschüttern. Es gibt einen kollektiven Ruf, nach Tel Aviv zu fahren, um gegen die Regierung zu demonstrieren. So kann es nicht weiter gehen. Wir wollen die 101 Menschen so schnell wie möglich wieder zu Hause haben! 

    Manifestationen gegen die Regierung Netanyahu am 2. September in Tel Aviv mit mehr als 100 000 Teilnehmern welche die sofortige Freilassung der Geiseln fordern! (Quelle Comunideades plus)