Kategorie: Yulis Tagebuch, Haifa

  • Yulis Tagebuch, Folge 38

    Dynastie

    Wir sind in den letzten Wochen zu süchtigen Fernsehkonsumenten geworden, so wie in den achtziger und neunziger Jahren. Damals gab es hierzulande nur einen öffentlichen Fernsehsender. Wir verbrachten viel Zeit mit Unterhaltungssendungen, Actionsendungen wie MacGyver und Das A-Team, Spielshows, Kindersendungen (die übrigens viel lehrreicher waren als heute). Auch Dynastie und Dallas – der amerikanische Traum – erreichte die Menschen  in Netanya. Auch mich, in der kleinen Wohnung im vierten Stock in einer kleinen Einbahnstraße, mit nicht mehr als 13 Gebäuden. Damals konnten Gross und Klein, die ganze Familie, gemeinsam fernsehen – es gab eigentlich nie wirklich Gewalttätiges oder Unangemessenes zu sehen. 

    Während des ersten Golfkrieges saßen wir jeden Abend in großer Anspannung vor dem Fernseher. Wir warteten auf die Nachrichten des IDF-Sprechers, Mitteilungen des Präsidenten der USA oder auf eine Ankündigung von General Schwarzkopf. Obwohl wir nur das wussten, was sie über die Lage im Irak berichten wollten, haben sie uns doch immer irgendwie beruhigt. Wir verstanden damals noch nicht, wie die Medien funktionieren. 

    Seitdem hat sich viel verändert, auch die Bedeutung des Fernsehens selbst nimmt heute einen anderen Platz ein. Nicht nur die Inhalte sind heute andere, die Tatsache, dass wir inzwischen sehr viel genauer verstehen, wie Medien funktionieren, verbessert die Dinge nicht. Vielmehr beschleicht uns das Gefühl,  sowohl auf Seiten der Medien als auch auf Seiten der Konsumenten ist alles  schlimmer geworden. Die Medien sind selbst zum Schlachtfeld mutiert, und den Kampf dort zu verlieren bedeutet nicht selten, auch im echten Feld zu verlieren – denn natürlich beeinflusst die öffentliche Meinung die Politik, und die Politik übt unterschiedlichen Druck aus; wirtschaftlichen, militärischen oder rechtlichen Druck.

    Ganz wie in der Vergangenheit schauen wir seit mehreren Wochen zu Hause nur noch einen Sender, Kanal 12. Ein kommerzieller öffentlich-rechtlicher TV-Sender, der – wie andere Sender auch – derzeit nichts anderes sendet als Nachrichten. Kein Raum für Unterhaltung oder Eskapismus jeder Art. Seit Wochen gibt es auch keine Werbung mehr im Fernsehen. Mit dem 7. Oktober hörte alles auf. Der einzig mögliche mentale Ausweg besteht derzeit darin, am Strand spazieren zu gehen (obwohl man dort auch die Hubschrauber vorbeifliegen sieht und manchmal Explosionen hört), zu Hause Yoga zu üben, oder YouTube oder Netflix zu schauen (wiewohl es auch da an Gewalt nicht mangelt).

    Ja, Gewalt ist heutzutage ein fester Bestandteil der Unterhaltung geworden. Kein Wunder, dass die Bilder vom 7. Oktober die jungen Medienkonsumenten nicht schockierten, da diese schon in jungen Jahren mit Bildern schwerer Gewalt gefüttert werden. In  Videospielen oder später in den beliebtesten Serien wie Squid Game, oder Game of Thrones ist alles gewalttätig und brutal.  Dort macht es den Zuschauern auch Spaß. Ich habe mir keine dieser Serien angeschaut. Mir ist klar, dass die überwiegende Mehrheit der Zuschauer noch nie einen terroristischen Akt erlebt oder gar überlebt hat, so dass die Lust auf solche Bilder noch nicht gebrochen ist.

    Ich gehöre auch zu den Ängstlichen, das gebe ich zu. Ich kann die Videos, die auf Sozial-Media-Kanälen laufen, nicht öffnen, vor allem nicht Telegram, wo es gar keine Zensur gibt. Ich habe Angst, dass ich mir etwas ansehe, das ich nicht ertragen kann, und meinen mentalen Zustand noch mehr verschlimmern wird. Das Paradoxe ist, dass es für mich als Holocaust-Forscherin und als jemand, der authentisches, unzensiertes Material aus dem Holocaust sieht, immer noch schwierig ist, die Videos vom 7. Oktober anzusehen. 

    Jenseits der extremen ungezügelten Barbarei wurden Taten dieser Art von den Nazis tatsächlich vor der Kamera verschwiegen. Weiter gibt es auch einen Unterschied zwischen Filmen, die über 70 Jahre alt sind und solchen Taten wie das Verbrennen von Babys und die Ermordung von Kindern, die eine Stunde von ihrem Zuhause entfernt stattfanden.

    So sitze ich jeden Abend vor dem Fernseher und warte auf die Freilassung der Entführten, und tagsüber schaue ich mir die Berichte über diejenigen an, die am Vortag freigelassen wurden und freue mich über jedes Familientreffen und über die Mutter, die ihre zurückgekehrten Kinder endlich sanft und warm umarmen kann. Ich freue mich über jedes Kind, das in das Krankenhaus zurückkehrt und dort von Ärzten und Psychologen untersucht und behandelt wird und bin froh, dass sich eine ganze Reihe von Menschen um deren körperliche und geistige Gesundheit kümmern. 

    Ich sitze also auch heute wieder vor dem Fernseher und warte darauf, zu sehen, wer freigelassen wird.

  • Yulis Tagebuch, Folge 37

    Eine Elefantenfamilie

    Im vorherigen Kapitel habe ich über Vergewaltigung gesprochen. Wenn bewusst oder nicht, bei all diesem schwierigen Thema bezog ich mich nicht auf die Vergewaltigung von Kindern. Ich fürchte, in dem Versuch,  solche Verbrechen in Worte zu fassen, werden die Taten eventuell noch kultiviert. Und deshalb ist es besser, es der fruchtbaren Fantasie zu überlassen, denn dort gehört es hin. Barbarisch und animalisch. Außerdem habe ich versucht, so nah wie möglich an das Thema heranzukommen, solange ich meine Übelkeit beherrschen konnte.

    In der dritten Runde der Entlassung wurde der 25jährige Ron Krivoi freigelassen. Ron hat auch eine russische Staatsbürgerschaft und da Putin in seinem Fall intervenierte hat, wurde auch ein Mann über 18 freigelassen (wie einfach es ist, wenn Putin interveniert. Hamas lässt jeden frei, der darum bittet). Mit Ron ist auch die 4jährige Abigail Idan, deren Eltern ermordet wurden, freigelassen worden, auch Hagar Brodutch, mit ihren drei Kindern. Zwei Mädchen, Schwestern im Alter von 8 und 15 Jahren, sowie zwei Frauen, Alma Avraham (84) und Aviva Siegel (62). Chen Goldstein Almog deren Ehemann und ihr älteste Tochter am 7. Oktober ermordet wurden, ließ die Hamas auch mit ihren drei Kinder frei.

    Alle sind Mütter und Kinder, die nach ungefähr 50 Tagen aus der Gefangenschaft zurückkehren. Manche sind Waisen geworden, manche wissen noch nicht, was sie verloren haben, und manche von ihnen verstehen es nicht, weil sie zu jung sind.

    Ich möchte über die 4jährige Abigail Idan ein wenig schreiben. Ihre Geschichte ist auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil Präsident Biden Anstrengungen unternommen hat, sie zu befreien – sie besitzt die amerikanische Staatsbürgerschaft –, aber auch, weil das  4jährige Mädchen allein in Gefangenschaft war. 

    Ihre Geschichte ist allerdings unvorstellbar. Abigails Mutter wurde zuhause ermordet, der Vater, ein Fotograf der größten Zeitung in Israel Ynet, ist vermisst worden, und ihre Geschwister versteckten sich mehr als 12 Stunden lang auf den Regalen im Kleiderschrank, während ihre Mutter tot im selben Raum auf dem Boden lag. Ihr Vater wurde später noch gefunden, er wurde ebenfalls ermordet.

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    Auf dem Foto die Familie Mir-Idan -Kredit die Sendung uvda, Channel 12

    Als die Schiesserei begann und die Mutter tot lag, rannte Abigail raus, und hat an die Türen ihrer Freunde geklopft. 

    Während die  Kibbutz von  Dutzenden Terroristen gestürmt wurden und sich alle in die Sicherheitszimmer einschlossen, öffnete der Vater von der Brodetz-Familie die Tür für Abigail. Schließlich wurde Abigail zusammen mit Hagar Brodetz, der  Mutter und ihren drei Kindern entführt. 

    In der Gefangenschaft  aß Abigail, wie die Erwachsenen, sehr wenig, und da sie oft nicht reden durften, gewöhnte sie sich an, leise zu reden. Sie vermisste ihre Mutter, die bereits vor dem Samstag Frühstück tot war,  und sie wusste nicht, wo ihr Vater und ihren Geschwister waren. Immerhin kümmerte Hagar Brodetz sich um sie, als wäre sie eines ihrer eigenen Kinder.

    Abigail und ihre Geschwister haben einen langen Weg der Genesung vor sich. Heute leben sie bei der Tante, der Schwester ihrer Mutter, ihrem Mann und ihren drei Kindern. Vor ein paar Jahren haben die Tante und ihr Mann auf ihre Arme zwei Elefanten und drei  Elefantenkinder tätowiert, nun haben sie noch zusätzlich drei kleine Elefanten hinzugefügt. 

    Das ist es, es ist für immer. Alle sind jetzt durch den Schmerz und die Liebe für die Verstorbenen verbunden. 

    Es gibt endlose Geschichten, und sie häufen sich immer weiter, wie z.B. die Geschichte von Ella und Dafna Elkayam. Die Mutter hat sie nach jahrelangen Fruchtbarkeitsbehandlungen zur Welt gebracht. Beide Schwestern haben mit ihrem Vater und ihrer Mutter in dem Kibbutz gelebt. lhr Vater, ihre Mutter und ihr Sohn wurden vor ihren Augen ermordet und sie wurden nach Gaza entführt. 

    Die Geschichten der Entführten sind unfassbar, auch weil es sich um kleine Kinder oder ältere, hilflose Menschen handelt, die in ihrem Zuhause gefangen genommen wurden. 

    120 sind noch da, darunter ein Baby und ein 4jähriges Kind, eine unfassbare Tatsache!

    Der Monat November war ein Monat, in dem es wenig Licht gab. Dieses kleine Licht erinnerte uns hingegen daran, wie groß die Dunkelheit noch ist. Aber der Monat November ist noch nicht vorbei und der Schmerz und das Leid des Krieges bleiben für Generationen bestehen.

    Das Tatoo von Zoli und Liron Mor. – Kredit: die Sendung uvda, Channel 12
  • Yulis Tagebuch, Folge 36

    Vergewaltigung

    Ich möchte heute über das spezielle Thema Vergewaltigung sprechen. Es hat auch schon in den vorherigen Tagebucheintragungen eine Rolle gespielt, aber dort eher summarisch, kurz und ohne weitere Kommentierung, denn das Thema ist ungeheuer schwierig. Ich erwähnte die Vergewaltigungsfälle, die sowohl auf dem Festival als auch in den Häusern und später in der Gefangenschaft stattfanden. 

    Dabei erzählte ich von den Mädchen, die mit blutgetränkten Hosen tot oder lebendig in den Transporter gesteckt wurden und auch von denen, die aus der Gefangenschaft zurückkehrten und erzählten, was sie erlebt und gesehen hatten. Jedoch, über die Vergewaltigung selbst habe ich noch nicht geschrieben.

    Der erste Gedanke, der mit einer Vergewaltigung zusammenhängt, subsummiert hier die sexuellen Handlungen gegen den Willen. Die meisten Definitionen beziehen sich auch erstmal darauf. Jedoch, zu der unerwünschten Handlung tritt noch die Gewalteinwirkung auf das Opfer hinzu, die bereits vor dem eigentlichen Geschlechtsakt ausgeübt wird, und ihre Folgen tragen weiter. Denn das Opfer wird gewaltsam gefasst, es kann dem Täter nicht widerstehen. 

    Ausschnitt aus dem Gemälde von Francesco Goya Bandit ersticht eine Frau, entstanden wohl 1798 bis1800 oder von 1806 bis 1808 (Quelle WIKIPEDA)

    Die Macht muss sich in diesem Zusammenhang nicht immer in körperlichem Schmerz ausdrücken, manchmal reicht schon die Bedrohung aus. Manchmal reicht es aus, die Waffe an den Kopf gedrückt zu spüren, um sich dem Täter zu ergeben. Manchmal kann allein die Erkenntnis, dass es keinen Weg oder die Möglichkeit zu fliehen gibt, das Opfer bezwingen.

    All das sind Teile der Vergewaltigung. Denn Vergewaltigung ist nicht nur die Handlung selbst. Der Vergewaltiger hat sich darauf vorbereitet, und er kommt mit einem Plan. Da dies so ist, gibt es auch keine Zufälle. Vergewaltigung geschieht nicht spontan. Denn Vergewaltigung ist nicht nur durch das Bedürfnis nach Sex motiviert. Die sexuelle Abweichung rührt von einer viel tieferen Stelle her. Die Anwendung von Gewalt, die Unterwerfung des Opfers und das Gefühl der Macht stehen weit mehr im Mittelpunkt als die Handlung selbst.

    Aber ich möchte mich nicht mit der Psychologie der Täter befassen, dafür gibt es Psychologen. Ich möchte über die Geschehnisse und die Opfer des 7. Oktober sprechen. 

    Deren Vergewaltigung gleicht einem Moment in der Hölle, einige Opfer wurden direkt danach ermordet, einige wurden bereits vor der Vergewaltigung ermordet. 

    Ob es eine ganze Gruppe war oder einzelne Menschen, bei dieser terroristischen Handlung wurden Kinder, Männer, junge und alte Frauen vergewaltigt. Die Täter sahen uns nicht als Menschen, sondern als Objekte dieses Landes, und sie wollten so viele wie möglich erniedrigen und quälen, bevor sie sie ermordeten oder in die Gefangenschaft pressten. 

    Sie wollten eine schmerzvoll eingeprägte Erinnerung in Erez Israel hinterlassen. Denn Vergewaltigung ist eine Handlung, die dem Opfer für immer in Erinnerung bleibt. Sie wirft endlose Fragen und Zweifel auf und parallel zu den Versuchen der Selbsttröstung, schafft es eine Distanz zwischen dem Geist und dem verletzten Körper, als ob etwas Fremdes zwischen ihnen stünde. 

    Das Opfer, das sich seine Hilflosigkeit und Schmerzen verzeihen will, stößt dabei immer wieder auf die Erinnerungen an die Verletzung, die ihm keine Ruhe lassen. Diese Erinnerungen erwecken sich bei jedem anderen körperlichen Kontakt wieder, in der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, und in jeder Situation der Hilflosigkeit, Schmerzen und Angst.

    Am 7. Oktober wurde der Staat Israel vergewaltigt. Die Täter drangen  gewaltsam in unsere Häuser ein und taten hier schreckliche Dinge. Am Samstag um 6 Uhr morgens wurden die Kinder, die noch mit Teddybären und Schnuller im Bett lagen, in Panik herausgezogen, als ihre Eltern die Schüsse vor der Haustür hörten. Sie wurden gefoltert, einige wurden in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt, einige wurden erschossen, während sie um ihr Leben bettelten, und diejenigen, die am Leben blieben, Kinder, Frauen, alte Menschen und Männer jeden Alters, wurden aus ihrem Land in feindliches Gebiet verschleppt und gingen dort durch die Hölle. Alles im Namen des Fanatismus und Hass, alles im Namen des Wunsches, sich das zu nehmen, was einem nicht gehört, und damit zu tun, was man möchte. Also gingen sie hinein und zerstörten und quälten, so viel sie konnten, und dann gingen sie mit der Beute zurück.

    Seitdem und bis heute ist der Staat Israel verwundet und blutet. Die Erinnerungen lassen nicht nach, manche Menschen gehen weg, können diesen Körper nicht mehr ertragen und ziehen in andere Länder. Manche weinen noch immer an jedem Tag und versuchen, damit klarzukommen. Einige haben Selbstmord begangen, da sie von innen heraus zerrissen wurden. Die schmerzlichen Erinnerungen des jüdischen Volkes an das Geschehen am 7. Oktober werden dauerhaft nachwirken – bei jedem Feiertag oder Gedenktag. Israel wurde vergewaltigt und kann nicht mehr zu dem zurückkehren, was es zuvor war.

  • Yulis Tagebuch, Folge 35

    Die Rückkehr von weiteren 13 Gefangenen

    Am 25. November, dem zweiten Tag eines Austausches von israelischen Geiseln gegen inhaftierte Palästinenser, verzögerte die Hamas die vereinbarte Freilassung von ihrer Geiseln bis kurz vor Mitternacht mit der Begründung, Israel habe gegen getroffene Vereinbarungen verstoßen und Drohnen im südlichen Gazastreifen eingesetzt. Weiter behauptete die Hamas, Israel hätte sich verpflichtet, Gefangene entsprechend der Dauer der Haft freizulassen und habe sich daran nicht gehalten. Israel seinerseits argumentierte, Anstrengungen zu unternehmen, um eine Freilassung entsprechend der Dienstzeit vorzunehmen – verpflichtet wäre die israelische Regierung aber nicht.

    Stopp, stopp …  bitte. Seit wann soll ein souveräner Staat einer Terror-Gruppe verpflichtet sein? Aha, Entschuldigung, es ist erst der Fall, wenn das Land „Israel“ heißt. Also, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass die Hamas offenbar die Psychologie der israelischen Gesellschaft versteht, und das ist nicht nur eine Aussage.

    Yahya Sinwar, der Anführer der Hamas im Gazastreifen, war zu fünf lebenslangen Haftstrafen im israelischen Gefängnis verurteilt worden. Er wurde allerdings im Zuge des Shalit-Deals nach 22 Jahren freigelassen. Diese Zeit hat ihm ausgereicht, um die hebräische Sprache zu lernen, und so auch Israelis kennenzulernen. Schließlich wirkt die Sprache wie ein Tunnel in die Seele, und er hat die Sprache sehr gut gelernt, und seit dem auch viele Tunnel gebaut!

    Im Jahr 2008 unterzog er sich außerdem in Israel einer Operation, bei der ein Gehirntumor entfernt wurde. Ja, wir haben ihm das Leben gerettet, um unseres 15 Jahre später bitter zu machen. Von daher ist er bereits mit der Politik Israels sehr gut vertraut, die in der Welt der Studenten renommierter Universitäten als grausam und tödlich angesehen wird. 

    Es ist 22.00 Uhr und ich saß in schrecklicher Anspannung vor dem Fernseher, ich denke an die Kinder und Mütter, die sich in den Händen maskierter bewaffneter Männer befinden, die zuvor Babys zu ihrem Vergnügen ermordet haben – Kleinkinder, die nicht verstehen konnten, was mit ihnen geschieht. 

    Nach mehreren Stunden Verzögerung und unbeschreiblichem Stress, als nur einige der Namen veröffentlicht wurden, kehrten acht Kinder, fünf Frauen und vier Ausländer nach Israel zurück.

    Eines der Mädchen ist die neun Jahre alte Emily Hand. Emily ist ein großer Fan von Beyoncé, sie selbst tanzt und singt gerne. Emilys Mutter starb vor einigen Jahren an Krebs, seitdem lebte sie mit ihrem Vater und ihrer Halbschwester zusammen. Es wurde wochenlang angenommen, dass die neunjährige Emily bei dem Angriff auf den Kibbuz Bari ermordet worden war. Doch später häuften sich die Anzeichen dafür, dass sie eventuell doch nicht ermordet, sondern nach Gaza entführt worden war. 

    Emily Hand

    Was war geschehen? Am Tag vor dem Hamas-Überfall am Freitagabend, übernachtete Emily bei ihrer Freundin Hila Rotem-Shoshani, am Samstag wurde sie zusammen mit ihr und der Mutter Raya Rotem entführt. Emily’s Vater Thomas versuchte, sofort nach Beginn des Alarms Kontakt mit Raya aufzunehmen, aber es war unmöglich.

    Als anfänglich vermutet wurde, dass Emily am 7. Oktober wohl ermordet worden sei, sagte ihr Vater in einem CNN-Interview, dass er, so schrecklich es auch klinge, erleichtert sei zu hören, dass seine Tochter ermordet worden sei und jetzt nicht von den Terroristen misshandelt werde. Aus israelischer Sicht war es verständlich. Denn es ist klar, dass es besser ist, zu sterben, als von Terroristen gefangen genommen zu werden, die Babys in heiße Öfen stecken und Kinder vergewaltigen. 

    Doch Ende Oktober erfuhr der Vater, dass Emily tatsächlich entführt worden war. Ihre Freilassung an diesem Tag war ein großes und aufregendes Licht für den Witwer, zu dem seine Tochter lebendig und auf zwei Beinen zurückkehrte. Emily kehrte im Rahmen dieses Übereinkommens mit ihrer Freundin Hila Rotem-Shoshani zurück. Hilas Mutter dagegen ist immer noch in Gefangenschaft. 

    Unter den zurückgekehrten Kindern waren auch der 17-jährige Noam Or und seine 13-jährige Schwester Alma, die am 7. Oktober Waisen geworden waren. Ihre Eltern wurden am 7. Oktober in ihrem Haus ermordet. 

    Willkommen Kinder. Und: Seid stark für uns, es ist noch nicht zu Ende.

    13 Freigelassene (Kredit) Kan News
  • Yulis Tagebuch, Folge 34

    Courage

    Ich möchte noch einmal auf den Monat November zurückkommen und auf die Freilassung von Entführten eingehen. Zuvor aber muß ich einer Soldatin einige Minuten widmen, die am 30. Oktober gefunden und gerettet wurde: Ori Megidish. 

    Ori diente als „Spotter“ auf dem Stützpunkt Nahal-Oz. Als die Schießerei am 7. Oktober begann, hat sie – gemeinsam mit 20 weiteren Soldatinnen – im Sicherheitsraum auf dem Stützpunkt Schutz gesucht. Die Terroristen warfen Granaten in diesen Unterschlupf. Von den Soldatinnen haben nur sieben, wenn auch verletzt, diese Attacke überlebt, darunter Noa Marciano, eine gute Freundin von Ori. 

    Ori wurde wie alle Überlebenden gefangen genommen. In Gaza wurde diese kleine Gruppe getrennt und Ori in das Flüchtlingslager Shatti unweit des Schifa-Krankenhauses gebracht. Dort ist sie in einer Wohnung, nicht in einem Tunnel, festgehalten worden. In dieser Wohnung wurde Ori zu einem Objekt bei einem Hamas-Anhänger, der sie einsperrte. Ich möchte auf die Spekulationen, die Gerüchte oder die Fake News, was ihren körperlichen Zustand und das, was sie in seinem Haus durchgemacht hat,  nicht eingehen. 

    Relativ glaubhaft bleibt indes, daß es Ori gelungen sei, mit dem Telefon ihres Bewachers anzurufen, während er schlief, denn so konnte festgestellt werden, wo sie sich befand. Verbürgen für diese Nachricht kann ich mich allerdings nicht, ich weiß es nicht hundertprozentig. Aber allein die Überraschung und die Freude in dieser Woche, dass es einer Soldatin gelungen war, sich selbst zu retten, gaben uns die Hoffnung, dass dies den anderen Entführten auch gelingen könnte. 

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    Ori Megidish: (Kredit) IDF Presseabteilung

    Aber so war es nicht. Nur kurz nach der Rettung Oris wurde bekannt, dass die Leiche von Noa Marciano, Ori’s Freundin, im Schifa-Krankenhaus gefunden wurde. Seither und bis heute ist es der IDF gelungen, lediglich sechs Entführte zu retten. Heute, acht Monate später, gibt es noch immer weitere 120 Entführte, von denen fast 40 bereits tot sein sollen. Aber ob sie tot oder lebendig sind, egal – sie alle sollen nach Hause zurückgebracht werden.

    Ähnlich wie Ori war auch Noa zunächst in einer Wohnung in der Nähe von Schifa eingesperrt worden. Während eines IDF-Angriffs in der Gegend wurde der Hamas-Terrorist, der sie festhielt, getötet. Auch Noa wurde verletzt. Es war aber keine lebensgefährliche Verletzung, wie aus ihren medizinischen Befunden hervorgeht. Doch brachten ihre Entführer sie jetzt in das Schifa-Krankenhaus und dort ist sie am 9. November von einem Arzt ermordet worden. 

    Noahs Leiche sowie die sterblichen Überreste der 65-jährigen Judith Weiss, die ebenfalls in Schifa gefunden wurde, brachte der IDF nach Israel zurück. Judith Weiss hatte drei Monate zuvor erfahren, dass sie Krebs habe und mit der Behandlung jetzt beginnen müsse. 

    Auch der Ehemann von Judith Weiss, Shmulik, wurde auch ermordet. Die Terroristen brannten sein Haus mit ihm nieder. Einen Monat nach der Beerdigung ihres Vaters erfuhren die Kinder, daß ihre Mutter ebenfalls ermordet worden war.

    Diese und viele ähnliche Nachrichten sind unsere täglichen Begleiter, sie prägen die allgemeine Stimmung. Gleichzeitig nehmen überall in der Welt der Hass und die Wut gegenüber Israel immer mehr zu. Scheinbar hat die Welt die Ermordeten des Nova-Festivals bereits vergessen. Und aus Israel ist schnell wieder der Angreifer geworden. 

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    Noam und Alma Or (IDF Presseabteilung)

    Inmitten dieses ganzen Wahnsinns versuchen wir, eine alltägliche Routine aufrechtzuerhalten. Ich bringe meinen Sohn jeden Tag – besorgt zwar, aber ich denke, es ist besser so für ihn – in den Kindergarten, nachmittags planen wir andere Aktivitäten. Währenddessen dröhnen in meinem Kopf Sirenen. Sirenen, die draußen nicht immer zu hören sind, 

    aber ich höre sie jederzeit, vor allem, wenn es zu still wird.

    Und an jedem Abends dieses Dilemma: Soll ich ihn in seinem Bett schlafen lassen oder in meinem Bett? Wie bekomme ich ihn im Alarmfall schnell aus dem Bett? Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir zusammen in einem Zimmer schlafen. Aber er möchte das nicht. Gern will er im Zimmer mit den Spielsachen schlafen, und da habe ich keinen Platz. 

    Also – ich wasche mich, putze die Zähne und lege mich für eine weitere Nacht, in der ich nicht wirklich gut schlafen kann, ins Bett.

  • Yulis Tagebuch, Folge 33

    Urlaub vor dem Sommer (und noch 120 Menschen in der Gefangenschaft!)

    Ich mag die Hitze nicht. Vor allem die israelischen Sommer nicht. Sie sind zu heiß, zu feucht und zu lang. Ich bin im Herbst geboren, am 7. Oktober, und bin zweifellos ein Mensch des Herbstes  und Frühlings. Ich bevorzuge mehr einen Tag Regen und am nächsten Tag Sonne, als pausenlos heiße Tage.

    Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag den Sonnenschein, aber bis zu einer bestimmten Temperatur. Wenn einem beim Sitzen im Garten mit einem kühlen Bier in der Hand, die Haare schweissgetränkt am Nacken kleben, ist das ein Zeichen dafür, dass die Hitze unerträglich ist. 

    Allerdings wäre es schön gewesen, wenn die Hitze das einzige Unerträgliche  wäre – der Krieg, der Antisemitismus, die Gefangenen, die Politik im Ganzen und Netanyahu im Besonderen, aber auch die Lebensmittelpreise,  der Treibstoff, und viel mehr – so vieles ist derzeit schwierig und unerträglich.

    Um den Kopf und Seele zu klären, flogen wir mit einer Freundin und ihrem Sohn nach Eilat, ans Rote Meer. Warum dorthin? Der Norden Israels wird ständig von der Hisbollah bombardiert und steht seit vielen Wochen in Flammen. Bereits 15.000 Dunam (1.000 qkm)!Wald wurden niedergebrannt und die Flammen fressen laufend immer mehr. Bei starker Hitze und Wind ist es noch schwieriger, das Feuer zu löschen. Über den täglichen Beschuss aus dem Libanon hinaus ist der Norden kurz nach dem  7. Oktober gleichfalls menschenleer geworden. Deshalb gibt es gerade keine Möglichkeit, um in den wunderschönen Norden zu reisen, wo  täglich weiterhin gelöscht wird.

    Auf der anderen Seite Israels liegt Eilat. Eilat ist im Grunde eine Wüste und die Temperaturen erreichen im Hochsommer +47 Grad Celsius. Es kommt vor, dass es  Anfang Juni dort schon ungewöhnlich so heiß ist wie im Hochsommer. Das bedeutet, es war draußen um 21 Uhr ebenfalls unerträglich heiß. An einem Tag verbrachten wir ein paar Stunden am Unterwasser-Observatoriumsturm und am ganzen Marine Park und am Samstag waren wir am Delfin-Riff. Dort gibt es einen schönen Strand mit verschiedenen Tieren und ganz viel Bäumen, die Schatten spenden und auch die Luft kühlen.

    Die Kinder gingen mit den Schnorcheln ins Wasser, während ich ihnen auf einem Stuhl im Wasser zusah. Danach gingen wir, um die Delfine zu treffen. Meine Freundin war ungewöhnlich begeistert von den Delfinen und fotografierte pausenlos. Ich, im Gegensatz, schloss hinter der Brille die Augen und dachte an IHN und wie weit wir voneinander sind. Wir haben uns seit so vielen Monaten nicht gesehen und ich habe überhaupt nichts  mehr von IHM gehört. Deshalb war ich auch allgemein froh, dass die Cocktails am Strand sehr günstig waren. 

    „Ich denke, wir werden hier zum Mittagessen noch bleiben und dann ins Hotel zurückkehren“, schlug ich meiner Freundin  vor. Ich war erschöpft von der Hitze, mein Kopf brannte vor Gedanken und ich brauchte die Klimaanlage, um mich herunterzukühlen. Die Kellnerin war trotz der Hitze flink und aufmerksam und ziemlich schnell war alles schon auf dem Tisch. Fünf Minuten später begann plötzlich aus allen Seiten ein Applaus, fröhliche Pfiffe und Leute am Strand begannen zu singen.

    Ich verstand nicht, was passiert war, also habe ich jemanden gefragt: Vier Entführte wurden von der Armee befreit.  Noa Argamani (26) und drei Männer: Almog Meir Jan (22), der auf dem Nova Festival arbeitete, Andrey Kozlov (27), dessen Familie in Russland lebte und Shlomi Ziv (40) Jahre alt. Sie wurden täglich geschlagen und gequält und acht Monate lang ausgehungert, aber endlich noch lebend befreit. Noa Argamani besuchte ihre Mutter, die sich in einem ernsten Zustand im Krankenhaus befindet, und Andrey traf sich mit seiner Familie, die in Russland  lebt. 

    Almogs Vater starb einen Tag vor seiner Freilassung und Noa, deren Freund immer noch in Gefangenschaft ist, traf sich mit seiner Mutter.

    Unter meiner Sonnenbrille flossen jetzt Tränen des Glücks, für die vier, die das Glück hatten, dem Inferno entkommen zu sein. Wie viel Freude hat es uns Israelis bereitet, dass es für vier Menschen wieder eine Chance zum Leben gab. Dieser Schabbat war nicht mehr dasselbe. Der Tag war von einer anderen Energie erfüllt, die ein Gefühl des Glücks vermittelte. Für einen Moment war die Realität erträglich. 

    Gleichzeitig trauerten wir um den, der bei der Rettungsaktion getötet wurde und symbolisch oder nicht, wurden ein paar Tage nachher vier junge Soldaten getötet. Da sich die Informationen über die freigelassenen Entführten immer weiter häufen, verstehen wir noch besser, wie wesentlich und dringend es ist, die 120, die sich noch dort befinden, so schnell wie möglich freizulassen.

    Am letzten Tag hat mich die Grippe erwischt. Anscheinend war der Entspannungsversuch zu stressig für meinen Kopf. Also, zurück zur Routine… 

  • Yulis Tagebuch, Folge 32

    Dunkler November

    Zwischen dem jüdischen Neujahr und Chanukka, wahrscheinlich vielen auch als Lichterfest ein Begriff, liegt der Monat November. Er ist normalerweise ein Monat ohne herausragende Tage, denn die Feiertage sind vorbei und der Herbst beginnt. Das typische Sommeroutfit wird durch längere und wärmere Kleidung ersetzt und all das wirkt sich auch irgendwie auf das Bewusstsein aus. Im November kann man sich nicht genug wundern, wie schnell so ein Jahr vergeht, man überlegt sich für das nächste Jahr neue Ziele und hofft, dass möglichst viele Wünsche in Erfüllung gehen.

    Im November 2023 war vieles anders – eine Fortsetzung des vorherigen dunklen Monats. Es gab kaum dieses ruhige Nachdenken – es war einfach nicht die Zeit dafür. Wir sind in Gedanken ständig bei dem sich fortsetzenden Krieg, die Ermordeten sind uns gegenwärtig, wir beten um die Rückkehr der Entführten. Denn die Entführten müssen nach Hause gebracht werden – bringt bitte die Kinder zu ihren Eltern zurück!

    Eltern sitzen zu Hause – ohne ihre Kinder, weil ihre Kinder gefangen genommen wurden. Das ist Wahnsinn! Es kann nicht sein, dass ein Vater täglich vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv sitzt, denn seine Frau und seine Töchter sind in Gefangenschaft. Es kann nicht sein, dass ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern ermordet wurden, allein in Gefangenschaft ist. 

    Und ich halte mich gerade zurück, um nicht über den Holocaust zu sprechen. Aber alles erinnert mich an die Kinder von damals, die in den Konzentrationslagern oder in den Ghettos völlig allein waren, nachdem ihre Eltern und andere Verwandten ermordet wurden. Große Einsamkeit und Schmerzen erlebten die Kinder in der Gefangenschaft. Und die Politiker, die für diese Hölle verantwortlich sind, diskutieren noch immer, ob 10 Entführte für rund Hundert Terroristen freizulassen ein vertretbares Angebot wäre. 

    Es fällt mir schwer zu glauben, dass es in Israel jemanden gibt, der gegen ein solches Abkommen ist. Und doch – es gibt auch solche. Ihnen möchte ich zuschreien: „Wenn es ihre Kinder oder Enkelkinder wären, wären sie doch sofort bereit, jeden Preis für sie zu zahlen.“ Zum Glück stimmte die Mehrheit dafür und dieser teuflische „Deal“ war im Gange.

    Für zehn lebende Geiseln entlässt Israel 150 Terroristen aus dem Gefängnis und Israel erhöht die humanitäre Hilfe für Gaza. Israel erhöht auch die Menge an bereitgestelltem Benzin. Israel stellt sowohl den Kampf als auch das Sammeln von Geheimdienstinformationen ein. Aber der Hamas kann und darf man nicht bis zum letzten Moment trauen. Eine Terrororganisation ist … niemandem verpflichtet, ihr Ziel ist, Angst und Zerstörung zu verbreiten. 

    Davon wird sie genährt und getragen und für ihr in eingängige Slogans gehülltes Handeln gewinnt sie weltweit große Sympathie. Das war leider schon immer so. Egal, ob es sich um extremistische Gruppen von der rechten oder linken Seite handelt.

    Heute aber gilt: Es gibt keinen höheren Preis, als die Kinder aus der Gefangenschaft herauszuholen und zu ihrer Mutter, zum Vater, zu den Großeltern oder zur Tante zurückzubringen. Bringt sie einfach zurück. Lasst die Mörder gehen, aber lasst die Kinder nicht noch weiter in ihren Händen bleiben. Die ersten dreizehn Entführten kehrten nun tatsächlich zurück. Weitere neun ausländische Staatsbürger wurden auch freigelassen – aber nur, weil sie Staatsbürger Russlands, Thailands oder anderer Länder sind. 

    Magie ist das nicht, sondern Politik zwischen den Ländern und Katar und Geld natürlich. Die Familien der Gefangenen wussten im voraus, ob ihre Verwandten freigelassen wurden und warteten bereits im Krankenhaus oder in Kerem-Shalom. 

    Ich saß vor dem Fernseher und war sehr aufgeregt. Ich konnte kaum atmen, ich wollte die Kinder und Frauen schon zu Hause sehen, von den Händen unserer Soldaten gehalten. Von der Hamas über das Rote Kreuz, den Grenzübergang bis hin in unseren Händen. Denn seit der ersten Intifada hat Israel immer nur Leichen oder Leichenteile zurückbekommen. Gilad Shalits Rückkehr nach fünf Jahren war eine außergewöhnliche Geschichte und der „Preis“ galt damals als sehr hoch: Tausend Terroristen für einen Soldaten. Aber worauf kommt es an? Die Zahl der Terroristen verdoppelt sich jederzeit. Jedes Kind in Gaza, das eine Waffe halten kann, bekommt bereits ein Gewehr …

    Aber es gibt nichts Wertvolleres, als zu sehen, wie Menschen aus der Hölle nach Hause kommen und sich erholen. Gilad Shalit, der seinen Bachelor-Abschluss machte und heiratete, kam nun, um die Familien der Entführten zu unterstützen. Welchen Preis hat es? Den meisten Überlebenden des Holocaust gelang es, eine Familie zu gründen und noch aus den Trümmern ein lebenswertes Leben aufzubauen. Aber Erinnerungen an Erlittenes ließen sich nie verdrängen.

    IDF-Sprecherabteilung (3 Fotos)

    Die nun freigelassenen vormaligen Geiseln befinden sich in Israel. Jetzt müssen sie sich psychisch und physisch erholen. Ich warte schon jetzt voller Hoffnung auf diejenigen, die morgen ankommen werden.

  • Yulis Tagebuch, Folge 31

    Das Entführungsvideo und Der 26. Mai 2024

    Heute brachte mein Sohn einen „Kumpel“ aus dem Kindergarten mit. Fünf Minuten später hörten wir laute Explosionen über unseren Köpfen. Zwei verängstigte Kinder rannten zu mir. Noch erschüttert von den Sirenen sagte ich ihnen mit einem gezwungenen Lächeln: „Alles ist gut Kinder, ich denke, dass es schon vorbei ist.“

    Seit Mittwoch, nachdem ich das Video von den entführten Mädchen gesehen habe, habe ich keine Kraft mehr, mich über meine Angst, meinen Schmerz oder irgend etwas zu beschweren. 

    Ich bin zu Hause, ohne dass eine geladene Waffe auf auf meinen Kopf gerichtet ist. Ich gehe in mein Bett ohne Angst um meinen Körper.

    Ich bin mir bewusst mit Euch nicht über die Vergewaltigung der jungen Frauen gesprochen zu haben. 

    Mit der Zeit, und mit den neuen Zeugnissen, wird es allerdings noch schwieriger, die Dinge zu verdauen. Es fällt mir schwer, näher darauf einzugehen und mich eingehend damit zu befassen. Jeder Versuch über die Vergewaltigung zu schreiben, löst einen schnellen Herzschlag aus und mir wird auf einmal übel. 

    Aber ich möchte unbedingt darüber etwas schreiben, und deshalb habe ich mich entschlossen, die Reaktionen der Eltern auf das zuletzt verbreitete Video hier zu beschreiben – aus Respekt vor ihnen. 

    Für diejenigen, die Tag für Tag in Schmerzen und Sorgen um ihre Töchter und Stunde für Stunde zum Himmel und überall auf der Erde um Hilfe schreien. Seit 233 Tagen – ihr Albtraum endet nicht. 

    Deshalb ist es angebracht, ihren Schrei auch hierher zu bringen, damit er an möglichst vielen Orten widerhallen wird.

    Ich konnte das Video von den Mädchen in der Geiselhaft, nachdem sie geschlagen und vergewaltigt wurden, nicht vollständig ansehen. Aber ich konnte den Schrecken von ihnen durch ihre Augen spüren. Ein paar Stunden vorher haben die Mädchen wahrscheinlich noch auf TikTok oder auf Instagram gescrollt. Sobald sie die Schüsse hörten, haben sie an die Eltern geschrieben, manche haben sich von den Eltern auf WhatsApp verabschiedet, manche nicht. Und jetzt sind sie in der Geiselhaft als Sex-Sklaven oder schon tot, oder halb verhungert und geschlagen. Bluten in ihren Seelen und im Rest ihrer Körper. Die Leichen ihrer Freunde liegen neben ihnen.

    Das Video ist nicht neu. Aber die Eltern verlangten, die Aufnahme öffentlich zu machen, weil sie der Gleichgültigkeit der Welt und der Entscheidungsträger in Israel nicht länger standhalten konnten. 

    Ayelet und Naama Levy Kredit: Webseite: Mako 7.Januar 2024 und Channel Keshet 12, morning news.

    Die Mutter von Naama Levy, Ayelet, ist Ärztin von Beruf. Ihr ganzes Leben kümmert sie sich um Menschen. Nun ist sie aber ganz weit entfernt und es ist ihr nicht möglich, sich um ihre eigene Tochter zu kümmern und sie zu heilen. Obwohl die ganze Welt sah, wie ihre Tochter mit blutgetränkter Hose zum Transporter geschleppt wurde, sagt sie mit erstickter Stimme im Radio, daß sie sowohl den Schmerz ihrer Tochter trägt aber auch von der Gleichgültigkeit der Welt angesichts dieser Bilder verletzt ist.

    Liri’s Eltern erzählen, es sei ihnen schwergefallen in die Welt zu schreien, dass ihre Tochter jeden Tag vergewaltigt wird. Aber irgendwann konnten sie nicht mehr schweigen und der Schrei kam. 

    Die Zeugnisse derjenigen, die aus der Gefangenschaft zurückkamen, sind schwieriger als das, was wir im Video sehen. Trotzdem interessiert es niemanden. Nicht die Intellektuellen in der Welt, nicht die Frauenorganisationen, nicht die Entscheidungsträger weltweit, und auch nicht genug die Entscheidungsträger in Israel..

    israelfeindliche Schmierereien an öffentlichen Gebäuden Quelle: Social Media

    Ich weiß nicht, aus welchem Impuls heraus, muslimische Frauen auf die Straße gehen und „Free Palästina“ rufen. Ich frage mich manchmal, wer von den Demonstrantinnen ist/wird gegen ihren Willen geheiratet. In welchem Alter werden sie schon verheiratet? Ich frage mich, ob ihre Männer mehrere Frauen haben dürfen. Und wenn sie nach Hause kommen, ob sie ihren Männer alles sagen können, oder wägen sie ihre Worte? Ich frage mich, ob sie den Mut oder das Recht haben, in ihren Herkunftsländern zu demonstrieren, und wer von ihnen, als sie klein war, einer Sexualverstümmelung ausgesetzt wurde.

    Ich frage mich, ob sie eventuell nichts Ungewöhnliches bei den Videoaufnahmen der entführten Frauen finden? Und liegt darin auch ihre Gleichgültigkeit? 

    Denn wenn muslimischen Frauen (oder einer die mit einem Muslim verheiratet ist) Ketzerei vorgeworfen wird oder sonst was und sie deswegen geschlagen, gesteinigt, ermordet werden… schließlich schauten ihre muslimischen Schwestern ebenfalls weg.

    An dem Ort, an dem die Nova-Party stattfand, wurden Dutzende Mädchen und Jungen gefunden, die mit entblößten Genitalien an Bäume gefesselt waren. Sie wurden an einen Baum gefesselt, vergewaltigt und ermordet, nicht sicher, in welcher Reihenfolge das geschah. Einige von ihnen wurden nach der Vergewaltigung auch lebendig verbrannt. 

    Befreie zunächst Palästina von sich selbst!

  • Yulis Tagebuch, Folge 30

    Routine im Krieg

    Im November kehrten wir in gewisser Weise zur Routine zurück. Ich weiß aber ehrlich nicht, ob man es Routine nennen kann. Es war ein bisschen so, als würde man Verrückte ohne Medikamente auf die Straße schicken.

    Die Huthi schießen aus Jemen Boden-Boden-Raketen ab und drohen mit einem erneuten Angriff. Nasrallah hält gleich seine Terrorrede, während dutzende Raketen aus Libanon täglich abgefeuert werden. Terrorgruppen im Westjordanland drohen ebenso mit Gewalt. Trotz alldem begann die Schule wieder und Menschen müssen wie Menschen eben arbeiten, um zu essen. Routine.

    Ich entschied mich, dass wir, solange der Krieg währte, nicht nach Haifa zurückkehren. Folglich geht mein Sohn ab jetzt zu einem neuen Kindergarten in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Glücklicherweise – oder vielmehr nicht – waren in dieser Zeit ganz viele Evakuierte aus dem ganzem Land im Zentrum und die Kindergärten mussten neue Kinder aufnehmen. 

    Die Kindergärtnerinnen kümmerten sich um die Integrierung der neuen Kinder mit pädagogischen und psychologischen Werkzeugen, aber deren Wirkung war insgesamt unerheblich. 

    Die Integration ist nur ein Problem aus den vielen Schwierigkeiten, mit denen diese Kinder zur Zeit konfrontiert werden. 

    Die meisten von ihnen brauchen intensive Therapie, das kann der Kindergarten nicht bieten. 

    Für Kinder, die zu einem fremden Kindergarten, in eine fremde Stadt gehen müssen, weil Terroristen ihre Verwandten und Nachbarn geschlachtet haben und Raketen auf ihre Häuser ununterbrochen abgefeuert werden, ist nichts normal. 

    Allerdings verhalten wir uns gerade so, als ob es das wäre…

    Nachdem wir der WhatsApp-Gruppe des Kindergartens beitraten, gab es in der Gruppe der Eltern eine Debatte darüber, ob am Kindergarteneingang eine Straßenkamera installiert werden sollte. 

    Der Mangel an Vertrauen bei Menschen war so schlimm, dass eine Mutter behauptete, sie würde ihre Tochter ohne Kameras nicht zum Kindergarten bringen. Ich fand es ein bisschen komisch, dass die hysterischste Mutter in der Gruppe tatsächlich eine Amerikanerin war, oder vielleicht ist es nicht überraschend. Und als wir am Kindergarten morgens ankamen, standen bewaffnete Soldaten und Polizisten am Eingang. So eine Sicht beruhigt wahrscheinlich manche Eltern, aber mich hat es nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. 

    Das zeigt mir, wie schlecht die Situation ist. 

    Zuhause fühlte ich mich noch schlimmer bei der Vorstellung, dass ich während eines Krieges meinen Sohn mit drei Kindergärtnerinnen und nicht weniger als 30 Kindern zurücklasse. Ich fühle es so, als ob ich ihn im Stich lasse. Deswegen war ich zuhause wie eine geladene Waffe, schussbereit bei jedem Fall zum Kindergarten loszurennen. 

    Mein Sohn distanziert sich oft von großen Gruppen. Er spielt lieber mit einem oder zwei Kindern, zu denen er eine gute Bindung aufbauen kann. Er ist ein Kind der Qualitäten, nicht der Quantitäten. Kurz gesagt, ein Kind mit dem Charakter eines Erwachsenen. Deshalb machte ich mir keine Sorgen um seine Integration in der neuen Umgebung. Gott sei Dank, anders als ich, kommt er überall zurecht.

    Das Bildungsministerium organisiert Zoom-Vorlesungen mit Psychologen und anderen Fachleuten für die besorgten Eltern, und zusätzlich richtet es eine Hotline in verschiedenen Bereichen für Studierende und Eltern ein. 

    Die Universitäten bieten auch Gespräche mit Experten, sowohl für die Studenten als auch für die Mitarbeiter an. Jedoch hatte ich nicht das Bedürfnis, über Dinge zu diskutieren. Ich wollte weiterhin putzen, Wäsche waschen, und ungeduldig jeden Tag darauf warten, mein Kind abzuholen.

    Zeitgleich mit den Aktivitäten des Bildungssystems haben auch die Nachmittagsaktivitäten wieder begonnen. Ich meldete mich und meinen Sohn sofort für Krav-Maga an.

    Selbstverteidigung fand ich wichtiger im Moment, als über meine Ängste zu reden. Ich wollte mich aus dieser Hilflosigkeit herausholen. Und wenn es niemanden gibt, der uns beschützt, müssen wir lernen, uns selbst zu schützen. 

    Kredit: Foto von der Facebook Seite von Michael Hans Höntsch
  • Yulis Tagebuch, Folge 29

    Hurricane

    Zwischen dem Song „Hurricane“ und dem Originalsong „October Rain“ gibt es eigentlich keinen großen Unterschied. Im Grunde wurde der Titel „Hurricane“ gegen die Worte „October Rain“ ausgewechselt. Es gibt auch keinen Unterschied in der inneren Bedeutung des Songs. Jedoch, das Wort „Oktober“ war eine Provokation für die Europäische Kommission und sie konnten es einfach nicht annehmen. Das heißt, es kommt nicht auf die Bedeutung an, sondern darauf, wie der  Song interpretiert werden kann. Nicht der Inhalt, sondern die Hülle. Apropos Hülle, Schalen und Früchte: Das niedliche Symbol des Protests in den Farben der palästinensischen Fahne wurde durch das Zeichen einer geliebten Frucht ersetzt. Schmackhafter, süßer, bestens kalt serviert, rot mit grüner Schale und schwarzen Samen. Wisst Ihr schon welche Frucht ? Ich mag auch Wassermelone. Jedes Mal, wenn Ihr eine Wassermelone esst, denkt jetzt an Palästina. „Contemporary“ halt… 

    Im Jahr 2024 vertrat Eden Golan Israel beim Eurovision Song Contest. Sie musste unter der Sicherheit des Shin-Bet in Schweden ankommen. Von tausenden von Polizisten, Scharfschützen auf den Dächern des gesamten Komplexes und verdeckten Polizisten bewacht vom Flugzeug aus einsteigen, im Hotel, bei Proben und in jeder restlichen Sekunde in Malmö. Und das alles, um halt einen Song zu singen. Wenn ich diese Worte schreibe, kommt es mir vor wie das Bild einer jüdischen Frau Ende der dreißiger Jahre in Europa, die den Nazis zu entgehen versucht. Eden Golan ist die „Contemporary“ Marlene Dietrich. (Ich wollte halt „contemporary“ nutzen, damit es ebenso cool anzuhören ist.) Anscheinend sind wir in Europa nach 100 Jahren wieder am Ausgangspunkt angelangt. Um ein Jude in Europa zu sein, muss man sich verstecken, sich entschuldigen, sich bücken oder einfach den Mund halten. Also bleibe ich in Israel, denn wohin könnte ich sicher mit meinem Sohn reisen, der fast ausschließlich Hebräisch spricht? Wie oft kann man einem kleinen Kind sagen, es solle „leise sprechen“, denn es ist gefährlich, Hebräisch in Europa zu sprechen.

    Eden, ein 20-jähriges Mädchen mit phänomenalem Gesangstalent, betrat die Bühne und hat die „Buh‘s” des Publikums gehört. Das war bisher noch nie passiert. Weiterhin hat das israelische Team erzählt, dass die meisten Mitglieder der Delegationen nicht bereit gewesen seien, mit den Israelis Fotos zu machen. Sie forderten Eden sogar auf, sie in Edens Social Accounts nicht zu markieren und Posts mit ihnen zu löschen. Es sollte niemand sehen, daß sie freundlich zu Eden waren und sie mit ihr Fotos gemacht haben… 

    Der Schweizer, Nemo, der dann gewonnen hat, distanzierte sich gleichfalls vom israelischen Team, trotz der Punkte die er vom Hurricane-Komponisten für die Musik erhielt.

    Dann kam die Pressekonferenz, wo ein polnischer Journalist Eden fragte: „Glauben Sie nicht, dass Sie Menschen gefährden, wenn Sie hier sind?“ Als Eden redete, gähnte die  Vertreterin aus Griechenland und der niederländische Vertreter zog  sich  ein Tuch über den Kopf. Klassisches Europa, auf jeden Fall. 

    Die ganze menschliche Hässlichkeit wurde beim Eurovision Song Contest verkörpert. Und die Masken, das Make-up und die Musik waren nicht die schrecklichsten Dinge dabei. Abseits der Bühne passierten weitaus schrecklichere Dinge.

    Überraschenderweise (und ich schließe normalerweise nicht mit einer positiven Note ab, um eine Illusion zu erzeugen. In dem Sinne bin auch kein Fan amerikanischer Filme), erhielt Israel vom Publikum in 14 Ländern Douze Point, am meisten von allen Teilnehmern im Wettbewerb. Sogar aus Belgien, wo es eine Aufschrift am Fernsehen „Wir verurteilen Israels Menschenrechtsverletzungen“ vor Edens Auftritt gab und gleichfalls aus dem spanischen Publikum, dessen Regierung plant, einen palästinensischen Staat einseitig anzuerkennen. Aus Portugal, dessen Vertreterin sich entschieden hat, Wassermelonen auf ihre Nägel zu malen, und auch aus Australien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, San Marino, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.

    Allerdings vergaben die Juroren, eine sehr niedrige Punktzahl mit einem erheblichen Abstand zur Publikumswahl – was normalerweise nicht der Fall ist – und Eden belegte daher den fünften Platz.

    Was die Publikumswahl anging, verließen die Israelis die Eurovision mit einem Siegesgefühl. Gleichzeitig gibt es eine bittere Erinnerung an den Empfang im Wettbewerb und wie die anderen Mitglieder sich der israelischen Delegation gegenüber verhielten. 

    Aber wer seid Ihr, die Ihr für den israelische Song gestimmt habt? Warum drückt Ihr  Eure Stimme nicht lauter aus? Warum werden vernünftige Stimmen in den Medien nicht gehört? Warum ist die Unterstützung für Israel für mich so überraschend geworden? 

    Weil ich vorher dachte, dass es die Welt nicht mehr gibt. Warum muss jedes Mal etwas großes passieren, damit sich etwas ändert und die Menschen ihre Augen öffnen? 

    Vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, die Weltordnung zu verändern, und zwar nicht durch die Hände der Schuldigen, sondern durch eine Macht, größer als die Menschen, eine Katastrophe vom Ausmaß einer Naturkatastrophe, etwas so Tödliches wie einen Hurrikan.

    https://www.youtube.com/watch?v=K60BWlEhtAA