„Hörst Du mich?“
Der 1. September ist in Israel der Tag des Schulbeginns. Diesmal es ist ein besonders aufregender Tag für meinen Sohn, der heute das erste Schuljahr beginnt. Das ist natürlich auch sehr aufregend für mich. Allein die neuen Umstände, daß er in den Rahmen einer Schule mit all den dazu gehörenden Verpflichtungen wie Uniform und Hausarbeiten eintritt, machen mir deutlich, wie schnell die Zeit vergeht, dass er nun kein kleines Kind mehr ist, sondern langsam auf den Weg zum Erwachsenwerden einbiegt.
Aber nachts erinnert er mich immer daran, dass er eben doch noch klein ist und Schutz braucht. Manchmal kommt er mitten in der Nacht zu meinem Bett, wie heute, mit vier Teddybären in der Hand, die er neben uns legt, und erst dann legt er sich selbst dazu und schläft wieder ein.
Das Wochenende hat zunächst mit einem optimistischen Gefühl begonnen. Israel gewann vier Medaillen bei den Paralympischen Spielen und ich dachte, es würde bestimmt weitere gute Nachrichten bringen.
Doch es kam anders. Wie stets, wenn er mein Zimmer betritt, weckt er mich. Dann ist es schwierig, wieder einzuschlafen, zumindest gelingt es nie sofort. Und wie es seit dem 7. Oktober ist, schaue ich dann stets noch auf mein Handy. So sah ich die Push-Benachrichtigung, dass die IDF sechs Leichen von Entführten gefunden hatte. „Warum schaue ich mitten in der Nacht auf mein Handy?! Verdammt, wie soll ich jetzt einschlafen?“, kreisen die Gedanken, „aber vielleicht sind sie diejenigen, von deren Tod wir schon wissen“, hoffte ich.
Am Morgen lese ich, dass die sechs Entführten erst vor 48 Stunden ermordet wurden.
Heute Morgen regnete es zum ersten Mal seit dem letzten Winter. Aber trotz dieses Regens ist die Luft nicht frisch. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, es gibt kein Herbstgefühl. Sinnloser Regen. Wie man die Tauben anschreien würde.
Und ich kann immer noch hören, wie Hersch Goldbergs Mutter, Edens Mutter und Carmel Gats Cousine mit den Megafonen an der Grenze zum Gazastreifen stehen und rufen: „Eden, hörst Du mich? Mama vermisst Dich. Ich denke den ganzen Tag an Dich, Du bist das Wichtigste, und ich tue alles, alles, um Dich und alle zu retten. Es tut mir leid, es tut mir leid, ich liebe Dich, ich tue alles.“ Und dann brach die Stimme ab, denn sie brach in Tränen aus, Tränen, die seit fast einem Jahr, Tag und Nacht nicht trocknen.
Von daher habe ich heute nicht viel zu sagen. Das Radio spielt traurige Songs, das Fernsehen liefert noch mehr traurige Nachrichten. Wir bitten die Toten und die Lebenden, die noch da sind, um Vergebung. Es tut mir leid, Carmel, es tut mir leid, Eden, es tut mir leid, Hersh, es tut mir leid, Alex, es tut mir leid, Ori, es tut mir leid, Almog. Und Arye Zalmanovich aus Nir-Oz, 86 Jahre alt, der, wie Kaid Farhan al-Qadi erzählte, neben ihm ermordet wurde. Und Dutzende mehr.
Weil Ihr hättet gerettet werden können. Wir mussten Euch retten. Ihr habt auf uns gewartet. Ihr habt uns vertraut, Eurer Regierung. Die Regierung, die alles hätte tun sollen, um Euch zu retten. Denn Ihr habt darauf gewartet, dass die Armee Euch findet, dass keiner Euch im Stich lässt. Ihr hättet gerettet werden können. Es gibt keine Vergebung.
Die Philadelphi-Passage ist nicht wichtiger als Ihr. Der Premierminister ist nicht wichtiger als Ihr. Die Beseitigung der Hamas ist nicht wichtiger als Ihr. Ihr seid alle unsere Kinder, die tanzen gegangen sind, die von zu Hause entführt wurden und deren Leichen in den Sand geworfen wurden.
Es tut mir leid, dass wir zu spät gekommen sind, und es tut mir leid, dass Ihr so jung sterben musstet. Es tut mir leid, dass Ihr so lange keine Umarmung von Mama bekommen habt. Es tut mir leid, dass derjenige, der das Land regiert, Euch vor dem 7. Oktober im Stich gelassen hat und seitdem jeden Tag.
Ruhet in Frieden.
Als Folge dieser Morde kündigte der Vorsitzende der Histadrut morgen einen Generalstreik in der Wirtschaft an, am heutigen Abend will die Öffentlichkeit das Land erschüttern. Es gibt einen kollektiven Ruf, nach Tel Aviv zu fahren, um gegen die Regierung zu demonstrieren. So kann es nicht weiter gehen. Wir wollen die 101 Menschen so schnell wie möglich wieder zu Hause haben!