Yulis Tagebuch, Folge 48


4 Sekunden

Ich wollte eigentlich über die siebte Gefangenenbefreiung schreiben, aber ich fühle mich vollkommen lust- und energielos. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem ich nicht geweint habe, in der Dusche, im Bett, im Auto. Auch wenn ich an IHN denke, beginne ich zu weinen. Die einzige Freude ist mein Sohn, der mich immer zum Lachen bringt. Sein liebevolles Lachen geht einher mit meiner großen Sorge um ihn angesichts unserer Situation und es ist der größte Wunsch, dass er glücklich bleibt und dass ihn nichts, so wie mich, traurig machen kann. 

Dieses Jahr hat mich viel Kraft gekostet, ich bin erschöpft und noch nichts ist vorbei, und es kann noch schlimmer werden. Heute bin ich gegen 3 Uhr morgens aufgewacht. Ich fühlte mich nicht wohl. Um 5 Uhr waren massive Schüsse aus dem Norden zu hören. Wiewohl ich keine Sirenen gehört habe, folgten schon bald in den Nachrichten die Aufforderungen, nicht zur Arbeit zu gehen sondern zu Hause zu bleiben. 

Seit 5 Uhr, wissen wir nun, wurden mehr als 300 Raketen auf Israel abgefeuert, parallel dazu hat die israelische Luftwaffe tausende von Raketenwerfer der Hisbollah in Libanon attackiert. 300 Raketen auf ein Land, dessen Breite vom Meer bis zur Ostgrenze ganze 20 km beträgt.

In den letzten Wochen ist viel mehr über die Lage im Norden als im Süden diskutiert worden, darüber, wie sich Israel auf einen großen Krieg im Norden vorbereiten soll. Denn die Hisbollah, wie Hamas, hat gleichfalls Tunnel gebaut, die bis nach Israel reichen, und dadurch können Zehntausende Terroristen Israel sehr einfach und schnell erreichen. In unseren Medien werden seit Monaten alle möglichen Katastrophenszenarien diskutiert, es wird spekuliert, wie es mit dem Land zu Ende gehen könnte. Aber ich kann so nicht leben, wirklich nicht.

Und die Politik ist wie immer so enttäuschend, ich bin einfach sprachlos. Ich habe nicht die Lust, nicht einmal die Kraft, diesen ganzen Unsinn zu paraphrasieren und tiefgehende Interpretationen abzugeben. Manchmal muss man die Dinge so betrachten, wie sie sind. Die Entführten sind immer noch da, und scheinbar niemand auf der Welt interessiert sich wirklich für sie. 

Es interessiert auch unseren Premierminister nicht, der sich mit Besessenheit an die Macht klammert. Mich befällt zuweilen das Gefühl, daß wir mit ihm alle auf der Titanic sind. Es gibt noch Abkommen, Iran lässt Israel angreifen, die Hisbollah feuert ununterbrochen. Der Endeffekt ist, wir werden im Regen stehen gelassen. 

Aber auch im Rest der Welt herrscht kein Frieden. Andere Länder leiden auch unter Terror. In Österreich, wo die Konzerte von Taylor Swift wegen des Verdachts eines versuchten Daesh-Angriffs im Stadion abgesagt wurden. In Deutschland kam es gestern abend in Solingen während des Stadtfestes zu einer Messerattacke. Am Samstag meldeten die Medien einen versuchten Anschlag mit einer Autobombe vor einer Synagoge aus Frankreich.

Terrorismus ist überall und er ist schrecklich. Der Unterschied besteht darin, dass in Israel solche Angriffe und Drohungen eine Routine sind. So leben wir. Und das hört scheinbar nie auf. In den  in den letzten Monaten forderten die meisten Redner im Europäischen Parlament oder im Europarat nicht etwa die Beseitigung des Terrorismus, sie plädierten vielmehr dafür, die Aktionen Israels. zu verurteilen oder drohten, die Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen usw. All das gibt den Terroristen Legitimität, weiterhin gegen Israel zu agieren – und später auch gegen weitere westlichen Länder vorzugehen … 

Aber wenn es in ihren eigenen Ländern zu einem Terroranschlag kommt, hat es keiner der Europaabgeordneten eilig, eine Rede über Menschenrechte zu halten, oder eine ganz klare Botschaft gegen den Terrorismus zu übermitteln. Danach kommen die üblichen Interpretationen. Die Motivation der Terroristen wird in den Medien psychologisch erklärt. Die Reporter bemühen sich, den Terroristen zu verstehen: Warum hat er es getan? Wo ist er aufgewachsen? Hat er in seinem Leben einen Misserfolg erlebt, der ihn zu dieser Tat veranlasste? Hat er sich nicht in die Gesellschaft integriert? 

In der Politikwissenschaft und in der Terrorismusforschung ist die Erforschung von Handlungsmotiven legitim, und jede Erklärung kann auch von den Medien akzeptiert und diskutiert werden. Das steht außer Frage, aber die einfache Erklärung, daß die Person, die dies getan hat, einfach Menschen ermorden will, die nicht an Allah glauben und die für ihn Sünder sind, um die wird ein großer Bogen gemacht. Ihm, dem Täter, ist es egal, dass ihr ihm Arbeit oder einen Fluchtort, einen Lebensunterhalt oder eine Wohnung gegeben habt. Ihr seid trotzdem immer noch Sünder und sollt sterben. Das gehört zum Fanatismus und ist der Grundgedanke des  radikalen Islam. 

In den Augen aufgeklärter Menschen ist das eine inakzeptable Erklärung und deshalb sind sie damit beschäftigt, Erklärungen und Verurteilungen abzugeben, die die Lage nicht verbessern und niemanden guttun. Tut mir leid, aber diese tiefe Philosophie gehört hier nicht her. 

Ein Klopfen an der Zimmertür und: „Mama, weißt Du, wie lange es dauert, bis eine Granate explodiert? 4 Sekunden!“ – „Ja, wow, ich wusste es nicht.“ Ich schließe den Computer, es tut mir leid, ich gehe jetzt schlafen, ich kann heute nicht mehr reden. Und es geht mir wieder schlecht.

Der Priester Zaccaria (Samuel Ramey) verspricht den in der babylonischen Gefangenschaft verzweifelten Juden, sie zu befreien. (Nabucco, Oper von Giuseppe Verdi)