Yulis Tagebuch, Folge 36


Vergewaltigung

Ich möchte heute über das spezielle Thema Vergewaltigung sprechen. Es hat auch schon in den vorherigen Tagebucheintragungen eine Rolle gespielt, aber dort eher summarisch, kurz und ohne weitere Kommentierung, denn das Thema ist ungeheuer schwierig. Ich erwähnte die Vergewaltigungsfälle, die sowohl auf dem Festival als auch in den Häusern und später in der Gefangenschaft stattfanden. 

Dabei erzählte ich von den Mädchen, die mit blutgetränkten Hosen tot oder lebendig in den Transporter gesteckt wurden und auch von denen, die aus der Gefangenschaft zurückkehrten und erzählten, was sie erlebt und gesehen hatten. Jedoch, über die Vergewaltigung selbst habe ich noch nicht geschrieben.

Der erste Gedanke, der mit einer Vergewaltigung zusammenhängt, subsummiert hier die sexuellen Handlungen gegen den Willen. Die meisten Definitionen beziehen sich auch erstmal darauf. Jedoch, zu der unerwünschten Handlung tritt noch die Gewalteinwirkung auf das Opfer hinzu, die bereits vor dem eigentlichen Geschlechtsakt ausgeübt wird, und ihre Folgen tragen weiter. Denn das Opfer wird gewaltsam gefasst, es kann dem Täter nicht widerstehen. 

Ausschnitt aus dem Gemälde von Francesco Goya Bandit ersticht eine Frau, entstanden wohl 1798 bis1800 oder von 1806 bis 1808 (Quelle WIKIPEDA)

Die Macht muss sich in diesem Zusammenhang nicht immer in körperlichem Schmerz ausdrücken, manchmal reicht schon die Bedrohung aus. Manchmal reicht es aus, die Waffe an den Kopf gedrückt zu spüren, um sich dem Täter zu ergeben. Manchmal kann allein die Erkenntnis, dass es keinen Weg oder die Möglichkeit zu fliehen gibt, das Opfer bezwingen.

All das sind Teile der Vergewaltigung. Denn Vergewaltigung ist nicht nur die Handlung selbst. Der Vergewaltiger hat sich darauf vorbereitet, und er kommt mit einem Plan. Da dies so ist, gibt es auch keine Zufälle. Vergewaltigung geschieht nicht spontan. Denn Vergewaltigung ist nicht nur durch das Bedürfnis nach Sex motiviert. Die sexuelle Abweichung rührt von einer viel tieferen Stelle her. Die Anwendung von Gewalt, die Unterwerfung des Opfers und das Gefühl der Macht stehen weit mehr im Mittelpunkt als die Handlung selbst.

Aber ich möchte mich nicht mit der Psychologie der Täter befassen, dafür gibt es Psychologen. Ich möchte über die Geschehnisse und die Opfer des 7. Oktober sprechen. 

Deren Vergewaltigung gleicht einem Moment in der Hölle, einige Opfer wurden direkt danach ermordet, einige wurden bereits vor der Vergewaltigung ermordet. 

Ob es eine ganze Gruppe war oder einzelne Menschen, bei dieser terroristischen Handlung wurden Kinder, Männer, junge und alte Frauen vergewaltigt. Die Täter sahen uns nicht als Menschen, sondern als Objekte dieses Landes, und sie wollten so viele wie möglich erniedrigen und quälen, bevor sie sie ermordeten oder in die Gefangenschaft pressten. 

Sie wollten eine schmerzvoll eingeprägte Erinnerung in Erez Israel hinterlassen. Denn Vergewaltigung ist eine Handlung, die dem Opfer für immer in Erinnerung bleibt. Sie wirft endlose Fragen und Zweifel auf und parallel zu den Versuchen der Selbsttröstung, schafft es eine Distanz zwischen dem Geist und dem verletzten Körper, als ob etwas Fremdes zwischen ihnen stünde. 

Das Opfer, das sich seine Hilflosigkeit und Schmerzen verzeihen will, stößt dabei immer wieder auf die Erinnerungen an die Verletzung, die ihm keine Ruhe lassen. Diese Erinnerungen erwecken sich bei jedem anderen körperlichen Kontakt wieder, in der Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden, und in jeder Situation der Hilflosigkeit, Schmerzen und Angst.

Am 7. Oktober wurde der Staat Israel vergewaltigt. Die Täter drangen  gewaltsam in unsere Häuser ein und taten hier schreckliche Dinge. Am Samstag um 6 Uhr morgens wurden die Kinder, die noch mit Teddybären und Schnuller im Bett lagen, in Panik herausgezogen, als ihre Eltern die Schüsse vor der Haustür hörten. Sie wurden gefoltert, einige wurden in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt, einige wurden erschossen, während sie um ihr Leben bettelten, und diejenigen, die am Leben blieben, Kinder, Frauen, alte Menschen und Männer jeden Alters, wurden aus ihrem Land in feindliches Gebiet verschleppt und gingen dort durch die Hölle. Alles im Namen des Fanatismus und Hass, alles im Namen des Wunsches, sich das zu nehmen, was einem nicht gehört, und damit zu tun, was man möchte. Also gingen sie hinein und zerstörten und quälten, so viel sie konnten, und dann gingen sie mit der Beute zurück.

Seitdem und bis heute ist der Staat Israel verwundet und blutet. Die Erinnerungen lassen nicht nach, manche Menschen gehen weg, können diesen Körper nicht mehr ertragen und ziehen in andere Länder. Manche weinen noch immer an jedem Tag und versuchen, damit klarzukommen. Einige haben Selbstmord begangen, da sie von innen heraus zerrissen wurden. Die schmerzlichen Erinnerungen des jüdischen Volkes an das Geschehen am 7. Oktober werden dauerhaft nachwirken – bei jedem Feiertag oder Gedenktag. Israel wurde vergewaltigt und kann nicht mehr zu dem zurückkehren, was es zuvor war.