Kategorie: Yulis Tagebuch, Haifa

  • Yulis Tagebuch, Folge 6

    Entscheidungstreffen

    Aktuelle Berichte klären eine bange Frage – die heftige Explosion, von der ich berichtete, war von einer Rakete ausgelöst worden.
    WhatsApp-Gruppen von Verwandten und Freunden tauschten hierzu in Windeseile unterschiedliche Nachrichten aus. Die einen meinten, sie sei über dem Meer explodiert, andere sagen, fünf Kilometer von uns entfernt hätte sie eine Detonation verursacht.
    So oder so, es ist eigentlich unmöglich, in ständiger Erwartung solcher Explosionen über unseren Köpfen zu leben. Um noch präziser zu sein, mir ist der Gedanke von Explosionen über dem Kopf meines Kindes untragbar. Ich beschliesse, morgen nach Haifa zurückzukehren.

    Ich verstehe immer weniger, wie die Menschen in den Kibbuzim oder in den südlichen Städten Israels über 15 Jahre, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat mit solchen Bedrohungen gelebt haben. Denn man hat lediglich etwa sieben Sekunden Zeit, wenn solche Explosion die Luft zerreißt. Wenn man ernsthaft
    darüber nachdenkt ist das eher eine Warnung, nämlich die, dass man im Ernstfall kaum jemanden retten kann. Zudem fallen Schüsse auch in der Nacht, wenn Babys und Kleinkinder schlafen und das macht die Suche nach einem Unterschlupf noch weitaus prekärer.

    Welches Land hatte Verständnis dafür, dass man hier mit einer solchen Bedrohung lebte? Kein Land, mit der Ausnahme Israels natürlich. Das einzige Land, das von westlichen und arabischen Staaten ständig diffamieren wird, während diese Länder – bewusst oder unbewusst – jene gefährliche Politik
    unterstützen, seien es die iranischen Ayatollahs und Terrororganisationen, die von Katarischem Geld leben. 2014 hat die Europäische Union die HAMAS von der Liste der Terrororganisation gestrichen, siehe taz.de.

    Politische Ambitionen und internationale Wirtschaftsinteressen bestimmten, was in den Medien im Laufe der Jahre immer deutlicher artikuliert worden ist: Gaza ist das Opfer und Israel der Angreifer. Die alltäglichen Nachrichten oder gar längere Reportagen außerhalb Israels beschäftigen sich deshalb nicht mit den psychischen Problemen, die etwa die Kinder im Süden Israels quälen. Sie beschäftigen sich nicht damit, wie zum Beispiel Familien in Israel unter täglichem Raketenbeschuss und Explosionen leben. Solche existenziellen Probleme, die ein
    Leben im Schatten dieser Ängste aufwerfen kommen in den Nachrichten in Europa oder in Amerika nicht vor. Es sei denn, dass Israel angreift. Dann lautet die Schlagzeile überall, wie eine Pandemie: „Israel greift Gaza an“.

    Im Verlaufe eines Jahrzehnte währenden Konflikts, nach zwanzig Jahren Raketenbeschuss aus Gaza, hatten, so merkwürdig das klingt, die Israelis eine Art Gleichgültigkeit gegenüber dieser medialen Schieflage entwickelt und sich tatsächlich so an sie gewöhnt, dass die Regierung sich lange nicht genötigt sah, ein Informationsministerium einzurichten. Nun ist es inzwischen so, dass eine neue Generation – basierend auf dem, was auf Tiktok läuft und gestützt auf einseitige Medienreportagen – auf den Straßen für die Zerstörung Israels demonstriert.

    Dagegen hatten die Israelis lange keinen guten Plan. Ich erinnere mich an dieses Alter; es gab die Gans N Roses Fans oder die Metallica Fans, jeder in seiner Gruppe. In diesen Zeiten scheint es sehr modern zu sein, Israels Gegner zu werden, und zu dieser Gruppe gehören die meisten jungen Menschen.
    Andere Gruppen sind zu klein, zu alt, haben keine gute PR und Parolen. Ich werde bald in Haifa sein, dann werden wir auf diese Demonstrationen noch zurückkommen.

    Erst am 19. Januar 2024 – und „Halleluja“ muss man hier sagen – wird ein Beschluss des Rates zur Einführung restriktiver Maßnahmen gegen diejenigen, die gewalttätige Aktionen der HAMAS und des Palästinensischen Islamischen Dschihadunterstützt, erleichtern oder ermöglichen – siehe dazu eur-
    lex.europa.eu

    In der Tat ist die HAMAS entsprechend dieser Definition vor allem eine Guerillaorganisation. Wie die Hisbollah, unterstütz von der lokalen Bevölkerung, richtet sich die Organisation mit politischen, militärischen und finanziellen Institutionen ein. Aber wie eine Terrororganisation HAMAS richtet seine Waffen nicht nur auf militärische, sondern auch auf zivile Ziele.

    Ich muss jetzt Wäsche waschen, damit bis morgen alles getrocknet ist. Ich bin mit mir im inneren Einvernehmen, dass wir nach Haifa zurückkehren. Zumindest ist das mein Plan an diesem Morgen. Obgleich mir nach und nach dämmert, dass auch dort wohl nichts mehr so sein wird, wie es früher war.

    Inmitten des andauernden Krieges zwischen Israel und Hamas finden Freiwillige im Kibbuz Alumim einen Sinn im Melken von Kühen – und retten möglicherweise das Leben der traumatisierten Tiere. An diesem Ort, der von einer Tragödie gezeichnet ist, erleben wir Widerstandskraft, menschliche Verbundenheit und gemeinsame Verantwortung im Angesicht des Unglücks.
  • Yulis Tagebuch, Folge 5

    Eltern und Kinder, 8. Oktober 2023, 8,15 Uhr

    Es gehört zu den unfaßbaren Episoden am 7. Oktober: Während des Massakers riefen Terroristen ihre Eltern aufgeregt an, um ihnen zu erzählen, wie viele Juden sie ermordet hätten. Anscheinend zählt das im Gazastreifen als eine Leistung im Leben eines Mannes. Ihre Eltern waren gleichfalls sehr emotional und haben, stolz und gerührt, ihre terroristischen psychopatischen Kinder gesegnet. Überraschend ist es nicht, denn zur Wahrheit gehört, dass die Palästinenser – sicher nicht alle, aber doch wohl die Mehrheit – ihre Kinder von Geburt an zum Judenhass animieren, jene damit aufwachsen und dazu erzogen werden, auch gern zu sterben.

    Wenn ein Hamas-Kämpfer seine zweijährige Tochter in den Händen hält und erklärt, er würde stolz auf sie sein, wenn sie als „Shahid“ (Märtyrer) sterbe, versteht man, was unmöglich zu akzeptieren ist: Das sind Menschen, die ihre Kinder im Namen einer Ideologie und aus purem Hass gern zu opfern bereit sind und sie zu Mördern erziehen

    Ihr könnt wahrscheinlich kaum begreifen, was für mich „Frieden“ bedeutet, wie ich ihn begehre. Nun, im Angesicht des Schreckens frage ich mich aber: Mit wem willst du Frieden schließen? Denn die Türen zur Hölle sind geöffnet und alles, aber auch alles wird direkt, live im Fernsehen ausgestrahlt. Es ist schwierig, dazu „Imagine all the People“ von John Lenon zu hören.

    Trotzdem kann ich mein Kind aber nicht den ganzen Tag am iPad verbringen lassen. Ach, ja! Es fällt mir plötzlich ein, ich wollte irgendwann noch zu unserem Supermarkt gehen … naja, vielleicht heute doch noch nicht, morgen wäre mir lieber. Es gibt noch was im Kühlschrank. Und die Wäsche … Ich lasse meinen Sohn nicht mit dem iPad den ganzen Tag verbringen. Eigentlich gibt es bei meinen Eltern genug Spielzeuge und Lego. Ich muss mit ihm darüber ernsthaft reden, und ihm erklären, dass das gestern eine Ausnahme war.

    Bumms! – ein fürchterlicher Krach! Ich legte meine Hände auf meinen Kopf und suche mit den Augen nach meinem Sohn. Er rennt panisch auf mich zu: „Mamaaaaa!!“. Ich dachte zuerst, die Decke fällt jetzt herunter, vielleicht wurde das Haus von einer Rakete getroffen?

    Ich beschütze ihn jetzt und warte. Aber nichts passiert, die Wände stehen, obwohl ich dachte, sie würden gleich einstürzen. Trotzdem hallt die Explosion noch immer in meinem ganzen Körper nach. „Mein Kleiner, es war echt schrecklich gerade. Ich weiß. Das war mega laut und fühlt sich so ganz nah.“ „Mama, spüre mein Herz, wie schnell es schlägt, ich habe Angst!“. „Ich auch, mein Schatz. Komm, setz Dich zu mir. Lass uns paar Minuten zusammenbleiben.“ (Ich bin nicht sicher, wer jetzt wen beruhigt – ich ihn oder er mich?)

    Ich spüre eine ungeheure innere Frustration und Wut gegenüber dieser Welt, was für eine beschissene Welt! „Mama, du zerquetschst mich!“. „Tut mir leid, Schatz. Du kannst jetzt wieder spielen, oder nimm das iPad. Tu, was Du möchtest.

    Ich schaue noch einen Moment durch das Fenster, um zu sehen, was los ist, vielleicht ist da Rauch? Aber draußen ist wunderbares Wetter. Das ist kein Tag, um in Bunkern zu sitzen. Jedenfalls, ich bin mit dem Nachdenken für heute fertig. Vielleicht wäre es besser bald nach Haifa zurückzukehren. Ich überlege, aber gerade ist es 8.00 Uhr morgens und ich bin schon wieder müde und erschöpft.

    Im Fernsehen häufen sich die Schrecken immer weiter, bei mir gleichfalls. Und ich warte weiter, warte auf irgendwelche Informationen im Fernsehen, um zu verstehen, was uns da gerade passiert.

  • Yulis Tagebuch, Folge 4

    Krieg um die Heimat, Kampf um das Zuhause

    Heute ist Sonntag, der 8. Oktober. Der erste Tag nach den Feiertagen, und noch ist alles geschlossen. Auch die Schulen. Routine ist das einzige, was ich mir eigentlich zum Geburtstag gewünscht hatte, statt dessen ist die Gegenwart über Nacht zum Albtraum geworden.

    Die Straßen sind leer, draußen ist es vollkommen ruhig. Man hört kein einziges Auto, nicht mal die Müllwagen. Man könnte es für einen ganz normalen Sonntag halten, wäre da nicht jene bedrückende Stille. Es ist keine Ruhe eines Feiertages, es ist die Stille des Krieges. Denn in mir ist alles sehr sehr laut und chaotisch, mir geht es nicht gut. Jetzt kann man, noch weit entfernt, Geräusche von Kriegsflugzeugen hören.

    Mitten in der Nacht, als ich und die meisten Menschen in der Welt in ihren Betten schliefen, müssen Menschen in den Kibbuzim darum bangen, dass ihnen gelingt, die Tür des Sicherheitsraumes geschlossen zu halten. Es sind dort mehr als 24 Stunden entsetzlich langsam vergangen, der Rauch, die Schüsse und Explosionen sind hinter den Türen noch zu hören und zu riechen. Die Stärksten in den Familien hielten die Tür fest verschlossen, hoffend, dass ihnen so Schutz gewährt bleibt. In Einigen Räumen nahm der Sauerstoff ab, so dass sogar die Kerzen nicht mehr brennen konnten.

    Manche Familien haben weniger Glück. Die Terroristen haben ihre Häuser mit den Menschen darin niedergebrannt. Versuchten sie zu entkommen, wurde geschossen; nicht wenige Schwerverletzte versuchten, sich in Sicherheitsräume zu retten. Dort verbluteten viele von ihnen, obwohl die Familie oder Freunde noch zu helfen versuchten. Aber oft gab es in den Räumen nicht genug Verbandsstoff und nach ein paar Stunden oder am nächsten Tag starben diese Verwundeten neben den geliebten Menschen.

    29b3f2b1-9ec6-4938-956f-c11c0ccbe963.JPG

    Die Dunkelheit im Raum und der Durst wurden zudem immer unerträglicher, besonders für Kinder und alte kranke Menschen. 40 Babys sind allein an einem Tag ermordet worden, und so viele andere Menschen fanden auf ganz verschiedene Art und Weise schließlich den Tod.

    Die Briefkästen von Nir-Oz – hier eine Aufnahme vom 10. November – können wahrscheinlich besser als alle Beschreibungen die Tragödie in einem Kibbuz allein illustrieren. Die schwarzen Zettel stehen für entführte Menschen, die roten Zetteln weisen auf getötete Menschen hin.

    (Nir-Oz Briefkasten) Kredit: Erez Cohen, Fotograf in Kan-TV 

    Am Morgen des 8. Oktober lautete die Schlagzeile in den Zeitungen und überall im Internet „Krieg um das Zuhause“, diese vier Worte dominieren die Titelseite. Tatsächlich erleben wir jetzt nicht schlechthin einen Krieg um die Heimat, sondern den Kampf um unser Zuhause, um unsere persönliche und private Sphäre, in die die Terroristen brutal eingedrungen sind. Mit der Schilderung der kaum zu ertragenden Erfahrungen, die ich sammele und verarbeiten muss – und ihr müsst mir dazu noch ein wenig Zeit geben – sollte man den Kampf um die Heimat von jenem um das Zuhause unterscheiden können.

    Die durch Hamas-Terroristen ausgelösten Explosionen von Bussen, wie wir sie während der zweiten Intifada erlebten, sind meiner Meinung nach nicht vergleichbar mit dem gegenwärtigen Terror. Die damaligen Terroristen aus Gaza waren keine echten Krieger. Oft waren sie nur hasserfüllte Handlanger, die von der Hamas für politische Ziele ausgenutzt wurden. Sie haben sich für 72 Jungfrauen im Himmel und für Geld für ihre Familien zu Selbstmordanschlägen oder andere Morde animieren lassen. Diese Art von Terror war anders als jener der gegenwärtigen Terroristen. Und obgleich beide der blanke Horror sind, finde ich die jetzigen Terroristen aus Gaza mehr der Abteilung der professionell-psychopathischen Mörder zugehörig.

    Sie drangen in den privaten Bereich ein und haben ganze Familien ermordet, auch Kinder. Kleine Kinder und Babys neben ihren Eltern. Sie verstümmelten die Körper der Kinder im Namen … im Namen des Hasses. Im Namen der Sinnlosigkeit, im Namen des Wahnsinns, im Namen des Nichts! 

    Sie waren trainiert und bewaffnet wie Soldaten, aber haben sich verhalten wie die niedrigsten Barbaren. Darüber hinaus hat die Hamas seit 2006 politisches, soziales und ökonomisches Gewicht gewonnen. Ein jährliches Budget von zwei Milliarden Dollar, über 10.000 Raketen verschiedener Reichweite, 3000 Kommandeure und über 20.000 Soldaten sprechen eine deutliche Sprache. Am 7. Oktober zeigte die Hamas die Fähigkeiten dieser kleinen Armee, die viel mehr als eine Terrororganisation ist. Dabei gehört auch eine Einheit, die dank ihrer Qualifikation im Umgang mit den modernen Medien im Bereich Bewusstseinskrieg die ganze Zeit überaus aktiv war.

    In diesem asymmetrischen Krieg begreifen es die Führung und die Mitstreiter der Hamas sehr wohl, dass die Vergeltungsmaßnahmen der IDF (Israel Defense Forces) verheerende Folgen für sie haben werden. Und trotzdem sind sie bereit, alles zu opfern, was die Organisation erreicht hat – ihre Zivilisten, Katars Geldkoffer, das Geld aus Europa. Sie sind dazu bereit, nicht weil sie etwa nicht korrupt wären, sondern weil ihr Fanatismus größer ist, als man verstehen kann.

    (Tägliche Zeitung: Yedioth Ahronoth, 8.10.2023)

  • Yulis Tagebuch, Folge 3

    Erste Nacht und tausende Gedanken

    Mein Sohn ist schon längst eingeschlafen, aber ich kann es nicht. Der Gedanke, daß sich vielleicht israelische Araber, die unter uns leben, dazu entschließen werden, sich dem Massaker anzuschließen, stresst mich sehr und ich verfolge die Nachrichten am Handy. Solche Gedanken sind keine Phantasie, aber eine sehr traurige realistische Möglichkeit in Israel. Das ist schon passiert während der zweiten Intifada (2000-2005), und viel schlimmer im Jahr 2021 im Monat des Ramadans: Es kam an hunderten Orten im ganzen Land zu einer Reihe gewalttätiger Aktionen von israelischen Arabern. Hunderte wurden verletzt, Juden und Araber getötet. All das parallel neben massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, danach kam es zu einer weiteren Operation „Wächter der Mauern“, um militärisches Arsenal der Hamas zu zerstören. In den gemischten Städten, wie in Jaffa, Haifa, Akko, Lod, in denen die Menschen unterschiedlicher Religionen in unmittelbarer Nachbarschaft leben, warfen arabische Einwohner Molotowcocktails auf Juden, wurden die Straßen blockiert und Juden gelyncht. Meine Freundin, die in Jaffa lebt, hatte Angst, das Haus zu verlassen. Ihr Kind besuchte in Jaffa damals eine zweisprachige Schule, Arabisch-Hebräisch. Solche Schulen streben danach, Menschen, Meinungen, Kulturen und Religionen zu verbinden, um damit Verständnis und Frieden zu bringen. Zur Schule ging das Kind aber nicht, da der Weg dorthin zu gefährlich wurde.

    Ich schaue auf mein Kind, das neben mir schläft, und denke mir, wie viel Güte, Kraft und Vernunft die Kinder in die entfremdete und böse Welt der Erwachsenen mitbringen.

    Ich entschuldige mich für das Abschweifen vom Thema, aber ich frage mich, wie die Europäer reagieren würden, wenn die Einwanderer, die nach Deutschland kommen, so gegen sie rebellieren würden. Wenn ihre arabischen Nachbarn ihnen Schaden zufügen wollten. Ich erinnere mich an die übertriebene und unverhältnismäßige Reaktion der Polizei in Berlin auf die Ereignisse vom 1. Mai gegen junge Linke. Ich war dort und es tat weh. Offenbar kann das Land sich noch nicht vorstellen, was in viel extremeren Situationen passiert, denn dann hätten sie vielleicht die Mittel zur Auflösung von Demonstrationen der Linken gemildert

    Nun stellen Sie sich das Gefühl einfach auf menschlicher Ebene vor;
    stellen Sie sich vor, daß Ihr Nachbar, dem Sie Zucker oder ein Glas Milch gebracht haben, Sie hinrichtet. Die Gedanken wandern zum Holocaust. Und trotzdem, weg über den Holocaust. Über diesen möchte ich gerade in diesem Kontext nicht reden, finde ich doch die gegenwärtigen Geschehnisse in einer Art und Weise etwas anders. Den Menschen in den Kibbuzim wurden im voraus die Chance genommen, den Feind mit gutem Herzen zu einem Freund zu machen. Sie haben die bösen Stimmen ignoriert. Die Politik, die Schwierigkeiten, und das Risiko es in nur 7 Sekunden zum Sicherheitsraum zu schaffen. Sie haben ihre Häuser in der Nähe der Grenze gebaut, weil sie an Frieden geglaubt haben. Somit öffneten sie Türen für die Menschen aus dem Gazastreifen. Und zwar am 7. Oktober war es für sie anders geplant. Die Terroristen kamen mit Karten und Namen, sie wussten schon wer wohnt wo, und wie viele Kindern sie haben. Denn einige von ihnen arbeiteten 30 Jahre lang in den Kibbuzim. Jahrelang aßen sie in den Häusern, in denen sie nun ihre Bewohner geschlachtet haben.

    Vielleicht werden noch mehr arabische Länder Israel angreifen. Im Moment laufen so viele schlechte Optionen in meinem Kopf. Und wir haben keinen Ausweg. Wir müssen mit allem klar kommen, was passiert. Bei Raketenbeschuss gehen wir einfach in den Bunker. Ich hoffe, wir schaffen es in anderthalb Minuten fünf Stockwerke hinunter. Ich denke mir schon. Verdammt, Ich muss es irgendwie schaffen!

    Ich muss wahrscheinlich eingeschlafen sein, denn es war schon Morgen, als die Angst wieder spürbar war. Vielleicht war es alles nur ein schlechter Traum? Ich habe den Fernseher eingeschaltet. Sie haben bereits von tausenden Verletzten, über 1000 Ermordeten, hunderten Entführten in den Gazastreifen und vielen Vermissten gesprochen. Obwohl die Armee die Siedlungen übernommen hat, wird das Bild allmählich klarer. Das schwarze, schreckliche Bild dessen, was passiert ist und immer noch weiter passiert.

  • Yulis Tagebuch, Folge 2

    7. Oktober 2023

    Die Tochter meiner Schwester macht ihren Militärdienst an der Grenze zu Ägypten. Sie schreibt an die Familien WhatsApp-Gruppe: „Ich bin o.k., wir haben schon Westen bekommen.“

     „Westen?“ worüber redet sie? Es ist zu viel, um es so früh an einem Samstagmorgen aufzunehmen. Ich rief sie an, um die Nachrichten zu klären, aber sie ging nicht ans Handy…

    Als mein Sohn aufwachte, gab ich ihm das iPad – was nie passiert – und bat ihn, nicht im Wohnzimmer zu sitzen. Ich wollte nicht, dass er fernsieht.

    Mit jeder Minute sah das Bild noch katastrophaler aus. Die Zahl der Opfer ist über 100 gestiegen. Menschen aus den Kibbuzim riefen die Nachrichtenstudio an und baten um Hilfe. Eine schwangere Frau versteckte sich mit ihrer Tochter und bat den Reporter, jemanden zu schicken, der ihr hilft. Sie erzählte ihm, daß sie sich im Sicherheitszimmer versteckt und daß sie Schüsse hört und Rauch riecht. Sie hatte Angst.

    In der Zwischenzeit wurden ununterbrochen Raketen auf Israel abgefeuert. An einem Tag 300 Raketen auf unser Land.

    Ich stand auf, um die Tür abzuschließen, und ging mich anziehen. Das Tür- abschließen half aber den Familien in Süd-Israel nicht, die Terroristen haben die Türschlösser mit Bohrmaschinen zerstört und alle geschlachtet. Auch Babys. 

    Gleichzeitig kamen Meldungen von dem Nova Musik Festival in Re‘im. Ein paar Jungen, denen es gelang, den automatischen Waffen der Terroristen zu entkommen und sich auf den Feldern zu verstecken, kontaktierten das Studio. Sie schilderten kurz die chaotische Situation, forderten sie auf, ihnen zu helfen, dass es Dutzende Terroristen mit Maschinenpistolen gäbe, die jeden ermordeten und vergewaltigen. Und der Reporter hörte zu und saß hilflos im Studio. 

    Ich spürte, wie meine Muskeln, mein Kopf schmerzten und meine Atmung wurde schneller. Mein Vater kam von der Synagoge und saß vorm Fernseher. Keiner von uns hatte Appetit zum Frühstücken, und ein koscheres Shabbat wäre es auch nicht. Heute ist Krieg und der lehnt das Shabbat ab. 

    Ich hatte mir etwas Wein eingeschenkt. Es ist erst 11 Uhr morgens. Ich konnte nicht erfassen, was nur anderthalb Stunden von meinem Eltern entfernt passiert. Gestern bin ich auch ausgegangen, um Musik zu genießen.

    Nova Festival

    Ein paar Minuten später trafen Terroristen auf der Party ein und schlachteten, vergewaltigten und verbrannten Menschen bei lebendigem Leibe, junge Menschen, die gerade noch bunt und fröhlich tanzten und das Leben feierten. Auf Social-Media sowie über die Kibbuzim und Moschawim WhatsApp-Gruppe gingen auch ständig Meldungen und Rufe um Hilfe von Menschen ein. Viele von denen aber antworteten nicht mehr an die Gruppen zurück. Es wurde noch bekannt gegeben, dass die Terroristen Körperkameras trugen und die Gräueltaten aufzeichneten. Wer bei Telegram eintrat, konnte auch live miterleben, wie die Familien und Jugendlichen brutal ermordet wurden. Die Monster trennten mit Messern und Beilen Körperteile von Kindern und Eltern ab und während diese vor Schmerzen schrieen und bluteten, saßen sie nebenbei zum frühstücken. Wenn das Essen alle war verbrannten sie das Haus mit den Menschen oder sie erschossen die ganze Familie. Und noch ein Haus, und noch eins… usw. Ich wagte es doch nicht, in eines der Netzwerke einzudringen. Ich wusste, dass ich zumindest für meinen Sohn vernünftig bleiben musste. Also habe ich nur auf der großen Leinwand geschaut.

    Zur Mittagszeit fiel mir ein, dass ich meinen Sohn noch nichts zu essen gegeben hatte. Er war in das iPad vertieft und es störte ihn überhaupt nicht. Ich gab ihm zu essen und schaute gebannt wieder in den Fernseher. Das Ausmaß der Katastrophe wurde immer deutlicher, die Zahl der Ermordeten erreicht 400 und es besteht die Befürchtung, dass die Terroristen mit ihren Motorrädern zur Straße 4 aufbrechen, der gleichen Straße, über die sie nach Kfar Saba gelangen. Ich fange an zu überlegen, ob ich zu Hause irgendetwas habe, um uns zu schützen, und ich erinnere mich, dass ich nicht einmal Tränengas zur Selbstverteidigung gekauft habe. Die Terroristen eroberten Beeri und plünderten alles, was sie konnten. Sie erreichten aber mittlerweile u.a. die Städte Sderot, Ofakim und schossen auf Menschen auf den Straßen und in Häusern. Tausende Menschen sind verletzt. Tausende. „Wo ist die Armee? Wo ist die Polizei?“, fragen alle. Gleichfalls die Familien, die sich im Sicherheit Raum noch verstecken. Jeder für sich.

    Mittlerweile haben die Terroristen das Polizeistation in Sderot übernommen. Viele Polizisten sind dort getötet worden. 

    Ich denke mir, dass diese Lawine des Gemetzels nie ein Ende findet, ich selbst habe keinen Schutz. Jederzeit könnte auch mir etwas Schlimmes passieren. Langsam hatte ich das Gefühl, ich bekomme eine Panik Attacke.

    Nova Festival ist zum Massaker Festival geworden. Die Musik spielt nicht mehr dort und nirgendwo mehr. Die Verbrennung der Ermordeten, wie die Gruppen brutal vergewaltigter Mädchen, die Vergewaltigungen haben sie fortgesetzt, auch nachdem sie die Mädchen erschossen haben, können, vielleicht, erklären, was dieses ungeheuerliche monströse Übel bedeutet.

    Gerade kann ich wenig darüberschreiben. Aber es kommt noch langsam. 

    Als der TV-Moderator Mittag bei mehr Leuten zurück anrief, gingen sie auch nicht mehr ans Telefon. Weitere Berichte über getötete Soldaten in Kämpfen gegen die Terroristen, über entführte Kinder und Babys, über die toten Jungen im Festival. Die Informationen fließen.

    Um zwölf Uhr überbrachte Ministerpräsident Binyamin Netanjahu eine zuvor aufgezeichnete Botschaft, die ebenfalls bedeutungslos war, wie seine Besondere Ankündigung am Abend. 

    Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und der Akku des iPads hatte Zeit, leer zu werden und sich wieder aufzuladen. Ich musste mein Kind zum Schlafen bringen und vielleicht etwas essen. Er sollte diese Nacht besser in meinem Bett schlafen. Ich überprüfe noch einmal, ob die Tür verschlossen ist. Ich habe Angst Auto zu fahren. Die Straßen sind leer von Autos oder Menschen. Ich entscheide, bei meinen Eltern zu bleiben. Mein Kopf schmerzt.

  • HIOB von Joseph Roth (1930)

    „Mit dieser ‚chassidischen Parabel‘ (E. Steinmann) vollzieht sich Joseph Roths Wandlung vom gesellschaftspolitisch engagierten Reportagenautor der Neuen Sachlichkeit zum poesievoll konservativen Mythendichter. Roth greift für seine ‚wesensergründende Darstellung ostjüdischer Existenz‘ (S. Rosenfeld) auf die Elemente traditionellen Erzählens zurück […]
    Roth versucht, die Frage nach dem Sinn des Leidens im Geist der Bibel zu beantworten; doch ist es die Antwort eines Skeptikers, dessen Leben Heimsuchung war, der die erlösende Gnade inbrünstig herbeisehnte, aber nicht an sie glauben konnte.“

    (Aus Kindlers Neues Literaturlexikon)

    „…wie Victor A. Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hat: Man sagt trotzdem JA zum Leben.

    So wie es der große biblische Dulder HIOB tut, ein eigentlicher Versöhnungskünstler. Hiob erleidet immer noch einen Schicksalsschlag, ohne daß er das Vertrauen in Gott verliert. Zur Belohnung schenkt Gott ihm ein langes, glückliches Leben. In Joseph Roths gleichnamigen Roman heißt der moderne Hiob Mendel Singer. Der jüdische Bibellehrer aus Ostgalizien verliert seine ganze Familie, einzig der behinderte Sohn Menuchim bleibt ihm. Mendel hadert, doch dann trifft ein, was ein Wunderrabbi bei der Geburt des “schwachsinnigen“ Menuchim vorausgesagt hat: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.“

    Die wundersame Resilienz seines Sohnes, der ein brillanter Komponist und Dirigent geworden ist, versöhnt Mendel mit seinem Schicksal…“

    Aus: Neue Zürcher Zeitung, 23.12.2023, Zumutung der Versöhnung, von Birgit Schmid

  • Yulis Tagebuch, Folge 1

    Yulis Tagebuch, Folge 1

    Trauma

    Ich bin traumatisiert. Um meine eigene unprofessionelle Diagnose zu verifizieren habe ich noch einmal an der Webseite des „American Psychological Association“ nachgeschaut und dementsprechend darf ich bestimmen, ich bin traumatisiert. 

    Ich bin physisch nicht verletzt. Einfach und viel schlimmer psychisch erschüttert von einem Ereignis, dass im Grunde nach 70 Tagen noch nicht vorbei ist. Selbstverständlich kann ich mich an alle Geschehen und Gefühle auf einmal nicht erinnern, und deshalb ist es unmöglich eine Art vollständige, und mit literarischen Worten, eine Story zu illustrieren. Jedenfalls ist das keine Story für Café-Gespräche.

    Vielmehr wünsche ich mit einfachen Worten den Schmerz zu reflektieren und vielleicht irgendwann… (klingt mir schon unrealistisch) kann ich irgendwie es angemessen wahrnehmen. 

    „Krieg“ heißt es in einem Wort. Hingegen gibt es nicht genug Worte, um ihre Implikationen zu beschreiben. Leid, Horror ist ein Bestandteil davon.

    Gerade macht es mir Angst, die Augen zu schließen. Vor allem nachdem die Bilder und die Gedanken durch den Kopf abschweifen. All das passiert immer nur wenige Sekunden bevor ich einschlafe. Dann wird die Nacht zum Morgen, und der Morgen beginnt mit einem ermüdenden Gefühl des Abends, und es wiederholt holt sich wieder und wieder. Die Angst, die Kontrolle über das Leben zu verlieren, macht es schwer zu arbeiten, zu freuen, und einfach so, zu atmen. 

    Meine Geschichte ist also unvollständig. Es wird rückblickend über ein Ereignis geschrieben, das in vielerlei Hinsicht nicht vorbei ist. Von Zeit zu Zeit fallen mir beim Schreiben weitere Details ein. Ich schreibe vielleicht nicht in der bestimmten Ordnung der Sachen, aber das ist das Trauma. Es drückt sich in einer fragmentierten Erinnerung an ein Ereignis aus, das schwer einzudämmen ist, und von Zeit zu Zeit greift das Unterbewusstsein an und bringt Details zum Vorschein, die ich unterdrückt habe. 

    Der 7. Oktober ist mein Geburtstag. Er erscheint normalerweise während der jüdischen Feiertage. Manchmal in Kippur. In diesem Jahr fiel der 7. Oktober auf Samstag, Schabbat und Simchat Tora, und zwar einen Tag vor dem Ende ihrer (ungefähr) dreiwöchigen Feiertage. 

    6. Oktober

    Am Freitag in der Frühe fuhr ich zu meinen Eltern, die in Netanya wohnen. Von dort ging ich mit meinem 5jährigen Sohn ins Konzert von Mergui im Barbie Club in Tel Aviv. Er wartete schon lange darauf, zu diesem Konzert zu gehen, und es hat mir genauso gut gefallen. Nach dem Konzert fuhren wir nach Kfar Saba, wo meine Schwester lebt. Zufällig ist der Geburtstag meiner Schwester am 9. November. Ich lachte mal darüber mit meinen deutschen Freunden, dass die Daten unserer Geburtstage die Geschichte der DDR formen.

    Von Kfar Saba aus gingen wir gemeinsam mit ihrem Sohn in ein japanisches Restaurant. Wir haben einen Toast ausgebracht, über den üblichen Unsinn geredet und auch ein bisschen über Politik. Wir wählen beide das Mitte-Links-Lager und für uns ist die soziale und wirtschaftliche Lage im Land schlimmer als

    je zuvor. Meine Schwester fragte mich: „Was ich mir zum Geburtstag wünsche?“ Ich antwortete ihr ehrlich: „Nichts.“ „Das beste Geschenk, das ich morgen bekommen werde, ist die Rückkehr zur Routine.“ Was mir aber fehlt ist der Mann den ich liebe. Aus vielen vernünftigen Gründen sind wir nicht zusammen, aber traurig bin ich trotzdem, und ich habe keine Lust darüber zu reden. 

    Um 21 Uhr kehrten wir mit zwei satten und müden Kindern nach Hause zurück. Wir übernachteten bei meinen Eltern. Es war doch Feiertag.

    Geburtstag

    Am Samstag, dem 7. Oktober wachte ich um 8 Uhr auf. Es ist war mein Geburtstag. „Glückwunsch Yuli! Ein Jahr älter. Hoffentlich bedeutet es für dich auch ein bisschen mehr Lebensweisheit.“

    Von hier an aber wird unser Leben nie wieder dasselbe sein. Es wird ein bewusstseinsverändernder Tag auf persönlicher, nationaler und Sicherheitsebene sein. Der Feiertag ist vorbei. 

    Etwas geblendet vom Licht des Telefondisplays las ich eine Push-Nachricht der Zeitung Haaretz, dass die israelische Regierung die Attacke als Kriegerklärung aufnimmt. Ich habe noch nicht ganz verstanden, worum es geht. Mein Vater ist wahrscheinlich in der Synagoge, wie an jeden Samstagmorgen.

    Draußen war alles so still. Keine Geräusche von (Krieg)-Flugzeugen. Es hat mich doch beruhigt. Ich stand auf und stellte den Fernseher an.

    In den Nachrichten 20 Ermordete in den Gaza-Envelope (Kibbuzim und Moschawim an der Grenze), aber die Geschehnisse waren mir noch nicht ganz klar. Für den Moderator anscheinend aber auch nicht. Trotzdem hatte ich schon das schlechte Gefühl, dass etwas ganz Schlimmes passiert.