Kategorie: Yulis Tagebuch

  • Yulis Tagebuch, Folge 60

    Der Schlangenkopf

    Am Freitag wurde Yahya Sinwar getötet. Diese Nachricht erreichte uns erst am Samstag. Sie war zunächst zurückhaltend formuliert: „… dass die Armee die Möglichkeit prüft, dass er getötet wurde“, gefolgt von weiteren Meldungen über die aufkommenden Beweise bis zur offiziellen Meldung am Abend, dass er tot ist. 

    Von Anfang an ging ich davon aus, dass er getötet wurde, denn kein Militär-Sprecher veröffentlicht solche Meldung während eines Krieges, wenn man sich nicht hundertprozentig sicher ist. Die Öffentlichkeit hat nicht die nötige psychische Stärke und Nerven für Spekulationen über die Tötung desjenigen, der den 7. Oktober initiiert hat. Das ist nicht die passende Zeit für eine Art „Trailer“ von „Thriller-Serien”. Yahya Sinwar starb nicht bei einer großangelegten Operation, wie ich und viele andere dachten, dass es geschehen würde. 

    Letzendlich, die Geschichte Israels bei der Tötung von Terroristen weckt zweifellos Erwartungen, dass es sich um einen ausgeklügelten Einsatz von Spionen oder dem Shin-Bet handelte, die es schafften, ihn zu fangen. Mindestens hätte es eine Tötung aus der Luft nach einer erfolgreichen Verfolgung sein müssen. Wir waren überrascht zu erfahren, daß diejenigen, die ihn töteten, nicht wußten, daß es er war. Es waren junge Soldaten, die ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatten. Weder eine Kommandoeinheit, noch der Shin-Bet. Die Soldaten haben die Terroristen in dem Gebäude gesehen, aber keine Ahnung gehabt, wer sie waren. Eine Panzereinheit mit einer Drohne und Schulter-raketen brachte das Gebäude, in dem er sich aufhielt, zum Einsturz.

    Gut, daß er tot ist. Ohne diesen Menschen ist die Welt eine bessere geworden. Er war derjenige, der seine Männer schickte, um Männer, Frauen und Kinder zu vergewaltigen. Er war derjenige, der seine Männer geschickt hat, um ganze Familien in ihren Häusern zu ermorden und sie vor den Augen anderer zu foltern, Babys, Kinder, Frauen und alte Menschen lebendig zu verbrennen – ich hoffe, er hat letzte Woche die Tore der Hölle betreten.

    Es hat mich jedoch enttäuscht, daß dieser Mann gestorben ist, als wäre er nur ein irgendein Terrorist. Einerseits ist es klar, daß es keinen Bedarf oder Wunsch gibt, einen Mythos um seinen Tod zu erschaffen. Andererseits, ich finde es unglaublich, daß dieser Mensch auf dem Bild, der tot in den Ruinen wie nichts liegt, derjenige ist, der uns ein Jahr lang das Leben so miserabel  machte und über Generationen hinweg ein nationales Trauma mit der größten Zahl an Opfern und Todesfällen in der Geschichte des Staates Israel verursachte, alles das macht mich auch wütend und traurig.

    Das Filmmaterial von Sinwars Tod wurde von der BBC analysiert und das Haus, in dem er zuletzt gesehen wurde, war eines der wenigen teilweise zerstörten Gebäude in. einem Viertel mit erheblichen Schäden.(Quelle BBC news, World of secrets)

    Worüber haben wir eine Minute später gesprochen, fragen Sie? Über die Entführten, über das Ende des Krieges, darüber, was nach Sinwars Tod in Gaza passieren wird. Wird es für ihn einen Ersatz geben, wie für jede Terrororganisation (Hisbollah, al-Qaida, ISIS usw.)? Könnte Sinwars Bruder, Muhammad Sinwar, der Gilad Shalit in der Gefangenschaft gehalten hat und Kommandeur der Militärbataillone der Hamas ist, Yahya Sinwar ersetzen? 

    Wird Khalad Mashal, der sich in Katar aufhält, nun Vorsitzender des Politbüros der Hamas? Wird die Hamas wieder auferstehen, so, als wäre nichts geschehen? Was muss jetzt getan werden, um unsere Interessen zu fördern? Der Rückkehr der Entführten, der Rückzug aus Gaza, Sicherheit an den Grenzen, die Rückkehr der Bewohner nach Hause in die Kibbuzim. Kann es in Gaza jetzt eine politische oder militärische Lösung geben?

    Seit dem 7. Oktober stehen die Kibbuzim im Süden menschenleer. Die lebendigen Gemeinschaften, die dort vor dem 7. Oktober zu Hause waren, existieren nicht mehr. Die Überlebenden gingen  und kommen nicht zurück. Die verbrannten Häuser und Flächen, das Gefühl eines Friedhofs überall, lassen keine Erholung zu, insbesondere, weil noch immer Raketen aus Gaza abgefeuert werden.

    Außerdem ist die permanente Bedrohung aus der Luft einfach nicht zu ertragen. Es ist schwer, sie aufzuspüren und abzufangen. Heute hat eine Drohne das Haus von Ministerpräsident Netanyahu getroffen. Vor ein paar Tagen wurden vier Soldaten getötet, sieben schwer und weitere 60 Soldaten leicht verletzt, als eine solche Drohne in einer Militärbasis im Zentrum des Landes explodierte. 

    Alles das geschieht nur 25 Minuten (Luftlinie) von uns entfernt. Und irgendwann soll auch Israel den Iran angreifen. Bald, vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Manchmal habe ich beim Tippen eine Schwäche in meinen Fingern und ich bin nur noch müde. Genaugenommen bin ich ständig müde. Ich habe seit meiner Highschool-Zeit nicht mehr so viel geschlafen wie jetzt.

  • Yulis Tagebuch, Folge 59

    Jom Kippur (Teil 2)

    Die erste Explosion war überraschend, aber es war noch unklar, ob „es das war“, denn die Sirenen waren still geblieben. Es hatte sich einfach nach einer entfernten Explosion angehört. Mein Sohn stand ein paar Meter von mir entfernt, und ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich ihm den Spaß verderben und ihn in diesem Moment nach Hause bringen sollte. 

    Ihr müsst verstehen, dass wir in jeder Woche mehrfach Explosionen hören, auch wenn es zuvor keinen Alarm gibt,  so  daß es für uns seit dem 7. Oktober nicht ungewöhnlich war. Dennoch, inmitten so vieler Menschen zu sein und die Sorge, dass jetzt alle sofort loslaufen würden, sobald der Alarm losgeht … Ich stand also auf, nahm das Fahrrad und ging in seine Richtung.

    Bevor ich etwas sagen konnte, ertönte die zweite Explosion. Ich gab ihm das Fahrrad, wir verabschiedeten uns von dem Freund und seinen Eltern (ich wollte nicht hysterisch reagieren) und sagte ihm: „Jetzt fährst Du mit dem Rad nach Hause.“ Die dritte Explosion ereignete sich in dem Moment, als er sich auf sein Fahrrad setzte. Jetzt zerstreuten sich alle schnell, auch wir beeilten uns. Es waren nur wenige Minuten zwischen den Explosionen, und es ist sehr schwierig, zu erkennen, woher sie kamen. Aus dem Norden oder dem Süden?

    Raketenexplosionen über dem Meer kann man sehen, aber die Explosionen der ballistischen Raketen erfolgen in großer Höhe und sind normalerweise weniger sichtbar. 

    In 140 Ortschaften im Norden Israels schallen die Alarmglocken. (Quelle Communities plus)

    Insgesamt wurden am Freitag und Samstag von Jom Kipur 440 Raketen aus Libanon nach Israel abgefeuert. Das schöne Galiläa im Norden des Landes wurde von morgens bis abends bombardiert, auch Haifa, die Gegend, wo unsere Verwandten wohnen, wo wir im August Annabel zum Geburtstag besucht hatten. Aus Gaza wurden ebenfalls am Jom Kippur Raketen abgefeuert, die Ashkelon treffen sollten. Und Drohnen, die sehr schwer abzufangen sind, schaffen es, in Häuser, Militärbasen usw. einzudringen und dort zu explodieren. Eine Million Menschen, ob sie fasten oder nicht, fanden sich am Jom Kippur im Schutzraum wieder. 

    Ich schalte am Jom Kippur nie das Telefon an. Für 25 Stunden bin ich von allen elektrischen Geräten separiert. Manchmal passiert es am Jom Kippur doch, dass ich das Licht aus Gewohnheit ein- oder ausschalte. Ich lasse das Licht an ein paar Stellen an, damit es nicht zu dunkel in der Wohnung wird, und stehe dann vor dem Dilemma, ob ich es wieder gänzlich einschalte oder einfach ausgeschaltet lassen soll. 

    Diesmal konnte ich dem  Stress und der Sorge nicht widerstehen. Zuhause angekommen, tippte ich auf den Bildschirm des iPhones, um zu sehen, was passiert war und wie es sein konnte, dass es solche Explosionen gab und zuvor keinen Alarm. Dann sah ich, dass die Raketen aus dem Libanon ein Altenheim in Herzliya und die Stromversorgung der Stadt getroffen hatten. Herzliya ist etwa 10 bis 15 km von hier entfernt, daher gab es keinen Alarm, aber die Raketen flogen über unseren Köpfen, auch die, die abgefangen wurden.

    Am Jom Kippur können wir wenigstens ohne Ablenkungen über alles reden. Hauptsache, wir sind zusammen. Und falls ich mein Kind schnell aufheben und mit ihm ins Treppenhaus oder nach unten laufen müsste, finde ich es eine gute Idee, dass es in meinem Bett schläft.

    Der nächste Tag ist immer viel schwieriger. Ich bereite meinem Sohn Frühstück und gehe zurück ins Bett. Nichts wartet auf mich außer der Zeitung von gestern. Zeitschriften, die ich für Jom Kippur gekauft habe, die voller Rezepte für das bevorstehende Sukkot-Fest sind und mich das Hungergefühl viel mehr spüren lassen. Noch bevor ich etwas sagte, sah ich ihn schon mit dem iPad, wie er seine Lieblingssendungen schaute. Ich sagte ihm, dass es Jom Kippur ist, man dürfe am Jom Kippur nicht fernsehen oder sich mit dem iPad beschäftigen etc. 

    Jedoch, etwas in meiner schwachen und müden Stimme überzeugte ihn nicht, er schaute weiter sein iPad an und ich kehrte mit den Zeitschriften ins Bett zurück. Irgendwann schlief ich ein und als ich aufwachte, war es kurz vor 12.00 Uhr. Ich wusste, daß er noch bei dem iPad war. Ich stand auf mit einem riesigen Kopfschmerz: „Nachmittags gehen wir zur Synagoge. Hörst Du  mir zu? Fahr mit dem Fahrrad zur Synagoge. Wir gehen, um das Ne’ilah-Gebet und den Schofar-Hornstoß zu hören. Gibt mir das iPad, bitte, und komm in die Küche, ich mach Dir was zu essen.“

    Irgendwie verging die Zeit ziemlich schnell. Nach dem Mittagessen und den Nachmittagssnacks gingen wir, es war etwa 17.00 Uhr , zur Synagoge. Ich fühlte mich ziemlich gut, verspürte keine Schwäche, auch nicht nach einem halbstündigen Spaziergang. Ich versuchte, möglichst schnell zu gehen, denn ich befürchtete, dass wir auf dem Weg von Alarmsirenen überrascht werden könnten, aber jetzt verstärkte jeder Schritt meinen Kopfschmerz. In der Synagoge betete ich, daß alles gut wird, daß ein Wunder geschieht, daß das Licht kommt, für uns und die ganze Welt. Denn das Leid ist eine Kugel, die immer weiter rollt und mit der Zeit allen Richtungen wächst. 

    Der Schofar heult am Ende des Ne’ilah-Gebets, und der Himmel schloß sich. Noch bevor wir nach Hause zurückkehrten, war die Straße bereits voller Autos, als wäre nichts geschehen. Nach dem Kaffee hatte ich keine Lust mehr zu essen, außer ein paar Keksen, und so saß ich bis ein Uhr nachts am Computer und arbeitete.

  • Yulis Tagebuch, Folge 58

    Folge 58: Jom Kippur

    Jom Kippur fällt normalerweise auf den  September. Dieses Jahr begannen aber laut Jüdischem Kalender alle Jüdischen Feiertage erst Anfang Oktober. Sodass   der 7. Oktober dieses Jahres nicht auf einen Feiertag fiel, sondern zwischen Rosh Ha‘Shana und Kippur. Der letzte Tag von Sukkot, den wir letztes Jahr am 7. Oktober feierten, fällt dieses Jahr auf  Ende des Monats.

    Fasten erscheint meisten Menschen als eine Praxis von Fanatikern, ja sogar Paganismus. Allerdings, fasten an sich ist eine großartige Erfahrung. Erstens, auf gesundheitlicher Ebene, reinigt es die Körpersysteme wunderbar. So mindestens einmal im Jahr höre ich für einen Tag auf, „Ungesundes“ zu essen und lasse hauptsächlich meinen Magen und Darm sich selbst reinigen. Das Fasten wird mit allerlei neuen Methoden, wie der „Entgiftungsdiäten“ geübt,  unter diesem Rahmen gilt das Fasten als solide und innovativ  und nicht als etwas altmodisch und fanatisch.

    In Israel fasten weniger als die Hälfte der Menschen. Da ich in einem religiösen Elternhaus aufgewachsen bin, faste ich immer am Jom Kippur, egal wo ich bin, in Israel, Berlin oder in Amerika. Es geschieht parallel zu der Ablehnung von allen alltäglichen Dingen. Das Fasten schafft den Raum für existentielle Gedanken. Darin liegt der Wert von Kippur, in dem spirituellen Wert. 

    Es geht um das Nachdenken über unsere Handlungen über das ganze Jahr, um Wiedergutmachung zu leisten, um unser Verhalten mit Menschen, Familie, Freunde, und um zu  Gott zu beten, für unsere private Sünde, aber auch dafür, die Sünde des Volkes Israel zu vergeben. Diese Bitte hat uns dieses Jahr zu Tränen gerührt, denn es ist so schwer, das Böse, das wir in diesem Jahr erlebt haben, zu begreifen. Selbst diejenigen, die nicht glauben, haben sich dieses Mal an Gott gewandt. Bitte vergib uns und rette uns.

    Das Fasten ist manchmal der einfache Teil. Das Problem ist die Hitzewelle, die manchmal an Jom Kippur einfällt, dann ist es bei 35 Grad oder mehr sehr schwierig zu fasten und vor allem nicht zu trinken. Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob wir eine Klimaanlage haben oder nicht, denn die Klimaanlage trocknet die Luft und verursacht nach paar Stunden Kopfschmerzen. 

    Daher werden verschiedene Gruppen, wie Kranke, die regelmäßig Medikamente benötigen, Schwangere und mehrere Gruppen, die fasten wollen, (niemand ist verpflichtet zu fasten, ist klar, ja?) empfohlen, zumindest Wasser zu trinken und die Medikamente natürlich auch während des Fastens Niemals abzusetzen.

    Wenn mir sehr schwindelig ist, trinke ich etwas Wasser. Aber im Allgemeinen ist es mir, ausschließlich einmal oder zweimal, beim Fasten gut gegangen. Eigentlich  bin  aktiver als sonst. Wieso? 

    An Jom Kippur ist alles geschlossen. Außer in der Armee, der Polizei und den Krankenhäusern ist alles geschlossen. 

    Foto: Yehoshua Yosef, Israel HaYom Zeitung (online) 10. Okt. 2024

    Das Fasten beginnt gegen 18 Uhr, bis dahin habe ich 2 Liter getrunken und genug für zwei Tage gegessen (leider nehme ich durch dieses Fasten nicht ab…). Zwei Stunden später geht es mit den Fahrrädern runter. Denn das Autofahren an Jom Kippur ist verboten, von daher reist die Hälfte der Israelis mit Fahrrädern, Skateboards, Rollerblades, etc. Der Rest ist in der Synagoge oder zu Hause. Also, mein Sohn ist mit dem Fahrrad unterwegs und ich versuche mitzuhalten, daher bin ich trotz des Fastens sehr aktiv. Wir trafen mindestens die Hälfte seiner Klasse in der Nachbarschaft, die Kinder spielten Fußball, fuhren Rollerblades und gelegentlich halten sie um zu trinken oder um etwas zu naschen (natürlich fasten Kinder nicht). Ich habe mit den Eltern etwas geschwatzt, traf zufällig alte Freunde und lernte auch neue Leute aus der Gegend kennen.

    Foto-Kredit: Miriam Laster, Veröffentlicht in:i24 news, 10. Oktober 2024

    Wir saßen da und redeten mehr oder weniger über alles, und ab und zu schauten wir in den Himmel. Manche fragten, ob es hier einen geschützten Raum gäbe. Ich dachte, daß ich nach Hause zurückkehren würde, wenn etwas passieren würde. Nach etwa zwei Stunden kam es zur ersten Explosion. 

    Fortsetzung folgt..

  • Yulis Tagebuch, Folge 57

    Der 7. Oktober und das Jahr XXXX

    Der 7. Oktober hat das nationale Trauma von Jom Kippur an den Rand gedrängt. Da der Krieg in all seiner Stärke weitergeht und sich sogar ausweitet, handelt es sich in jeder Hinsicht und Verständnis um ein Ereignis, das in der Praxis noch nicht vorüber ist. Wir sind immer noch jeden Tag dort: beim anhaltenden Krieg, mit den unaufhörlichen Anschlägen, mit den Verletzten  und Ermordeten. Heute posten viele Frauen in den Social-Medien Bilder von sich mit ihrem Baby in Tragehilfen zum Gedenken an Inbar, die bei dem Terroranschlag in der Straßenbahn am 1. Oktober 2024, während sie ihr Baby in der Tragehilfe beschützte, von einem Terroristen ermordet wurde. 

    Als Metapher stelle ich mir Israel sowohl als die Mutter als auch das Baby vor. Das Land ist selbst ist genauso das Opfer wie alle, die hier weiterleben. Diejenigen, die vergehen vor Schmerzen, aber am Leben festhalten. Und der Weg geht weiter, mit den Lebenden und mit den Toten. 

    Inzwischen ist das Loch im Zaun zum Gazastreifen, durch das die Terroristen nach Israel eindrangen und Kinder, Frauen und alte Männer in ihren Betten abschlachteten, optisch tatsächlich nicht mehr zu erkennen. Aber auch wenn dieses Loch, durch das die Terroristen unsere Zivilisten nach Gaza entführten, heute nicht mehr sichtbar vorhanden ist, es befindet sich dennoch unverändert inmitten von uns. Diese Gefühle des Misstrauens und der Vernachlässigung lassen uns nicht los und es gibt noch immer

    101 Entführte nach einem Jahr …

    Weltweit finden 80 Zeremonien mit den Familien der Entführten und Ermordeten statt. Selbst bei den Vereinten Nationen findet dieses Gedenken, wenngleich ohne den Generalsekretär, statt. Aber in Israel, ja, in Israel gibt es zwei separate Zeremonien: Eine Veranstaltung, von der Staatsmacht organisiert, fand im vorab in der Stadt Ofakim statt und wurde ohne Publikum gefilmt. Sie wird am Montag um 21:15 Uhr auf den verschiedenen Medienkanälen ausgestrahlt werden. Die meisten Künstler in Israel weigerten sich, hier aufzutreten. Sogar die Moderatorin der Veranstaltung, deren Schwester beim Nova-Festival ermordet wurde, wurde verleumdet, weil sie quasi mit den Schuldträgern mitmache.

    Eine andere öffentliche Zeremonie wird am selben Tag um 19:10 Uhr stattfinden, gedacht und initiiert für die Familien der Entführten und Ermordeten. Ort dieser Veranstaltung ist der Park Ha’Yarkon in Tel-Aviv. Die Zeremonie beginnt mit einer Schweigeminute und einem Yizkor-Gebet und wird ebenfalls im Fernsehen zu sehen sein. Hier sind jedoch keine Politiker eingeladen, dafür ist die breite Öffentlichkeit herzlich willkommen. Es wird erwartet, dass 40.000 Menschen anwesend sein werden. Die Familien der Entführten, der Opfer, der Nova-Überlebenden und die Familien derer, die nicht überlebt haben, alle zusammen und von der Regierung getrennt. 

    In den Kibbuzim haben die Zeremonien zum Gedenken an die Opfer und Entführten bereits begonnen. Am Vorabend wurden die Namen der Opfer verlesen, ihre Geschichten erzählt. Auch das Gedenken für die 410 Opfer des Nova-Festivals beginnt am Abend zuvor und wird am 7. Oktober um 6:29 Uhr morgens fortgesetzt, der Zeitpunkt, als die Attacke begann. Die Schulen im ganzen Land bereiteten von sich aus kurze Zeremonien für die jungen Schüler vor, forderten alle Kinder auf, in weißen Hemden zu erscheinen. Bei nationalen Zeremonien, wie etwa zu Yom Kippur und oder an verschiedenen Feiertagen, ist es eine Tradition in Israel, weiß gekleidet zu sein. Ich denke, in Japan ist es in gewisser Weise ähnlich. Unterhaltungslokale schließen heute wahrscheinlich etwa früher, so ist das hier Sitte an Gedenktagen. 

    Das Gefühl der Verlassenheit und Trennung hält die ganze Zeit an. Aber wir wollen uns auch an das erinnern, was nicht vergessen werden kann, und wir wollen alles für eine Minute festhalten, was vor einem Jahr aufgehört hat. Ohne Tränen zu weinen, denn sie können den Schmerz nicht mehr wegwaschen. Heute ist der 7. Oktober, und auch mein Geburtstag. 

    Ein Jahr ist vergangen, und ich bin immer noch so traurig und erschrocken.

    Marun ar-Ras, eine historische Stelle im Libanon an der Grenze zu Israel. Hier sind auch UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) stationiert. Hier fanden Kämpfe gegen die Hizbollah statt. (Quelle: Comunidades plus)

  • Yulis Tagebuch, Folge 56

    6. Oktober 2023

    Jemand nannte ihn den letzten Tag unseres alten Lebens

    Vor einem Jahr war der 6. Oktober ein ganz normaler Tag, ein Freitag, außerdem der Vorabend eines Feiertags und der Tag vor meinem Geburtstag. 

    Am jenem Nachmittag ging ich mit meinem Sohn zum Konzert von Mergui im „Barbie-Club“ in Tel Aviv. Seit langem haben wir es geschafft, wieder bei seinem Konzert dabei zu sein. Wie viele Künstler in dieser Zeit trat er freiwillig für die Evakuierten aus dem Norden und Süden in der Stadt auf. Und es gibt kaum Schöneres, als seinen Lieblingssänger zum ersten Mal in einem Konzert auf der Bühne zu sehen. Nach dem „Barbie“ gingen wir mit meiner Schwester und ihrem Sohn zum Abendessen in ein japanisches Restaurant.

    Schon in jungen Jahren haben unsere Kinder Sushi gegessen, und ich glaube, es gibt nichts, was ihnen bis heute besser schmeckt, nicht einmal Hamburger oder Pizza, nicht einmal Eis. Um ehrlich zu sein, den Geldbeutel schont es nicht gerade, denn der Preis für eine Mahlzeit in einem Restaurant für zwei Personen hierzulande beträgt nicht weniger als 50 Euro. Das ist eigentlich eher das Minimum. 

    Und auch im Großen und Ganzen war es keine einfache Zeit, weder wirtschaftlich noch politisch. Es gibt viele Probleme innerhalb Israels, die uns damals und jetzt noch beschäftigten, denn gleichzeitig wurden die Preise für Wohnungen, für die Mieten, die Lebensmittel und die Kleidung teurer, so daß uns die Frage beschäftigte, wie wir das schaffen. Was wird noch werden? Diese alltäglichen Überlegungen hielten uns jeden Tag auf Trab.

    Wenn wir auch nicht darüber sprachen oder aufhörten, vieles von dem zu tun, das wir gewohnt waren, wir haben alles etwas reduziert. Wir gingen abends weniger aus, bestellten nicht die teuersten Gerichte in Restaurants, flogen Low-Cost und verzichteten auf extra Gepäck. Wir machten kürzere Ferien und kauften kleinere Geschenke füreinander. Im Supermarkt kauften wir größtenteils das, was wir brauchten. Wir reduzierten Aktivitäten für Kinder am Wochenende, die teuer waren und gingen, wenn möglich, einfach an den Strand. Es ist kostenlos, nah bei uns und heilt die Seele von Jung und Alt.

    Obwohl der Terrorismus nicht aufhörte – Raketen wurden unverändert aus dem Norden oder dem Süden fast täglich auf uns abgefeuert – bestand doch keine Aussicht auf eine größere Bedrohung aus Gaza und auch nicht von unserer Seite, etwa eine militärische Operation dort. Zu den Drohungen von außen trat ein Streit zwischen rechts und links in Israel – sichtbar in wöchentlichen Demonstrationen in Tel-Aviv und auch andernorts im ganzen Land und es herrschte vielfach ein Gefühl, daß uns der Kapitän am Steuerrad direkt auf einen Eisberg zusteuert.

    Zwei Wochen zuvor befassten sich die Medien mit dem Jubiläum des Yom-Kippur-Krieges von 1973. Ich wurde zu einer akademischen Konferenz eingeladen, die sich mit ihm befasste. Ein Krieg, über den selten gesprochen wird. Es sind das Scheitern, das Misstrauen, die Verlassenheit und der Krieg, der so viele Opfer forderte, die ihn zu einem nationalen Trauma machten. Am 22. September 2023 wurden die Fernseh-Nachrichtenmagazine mit dem Titel „Die Versäumnisse von 1973“ eröffnet, während die Zahl „73“ sich mit der Zahl 23 abwechselt. 

    „Der Jom-Kippur-Krieg bekommt in diesem Jahr eine besondere Bedeutung, es ist das Jubiläumsjahr dieses schrecklichen Krieges. Das Ausmaß des Scheiterns, die falsche Konzeption, die dazu führte, daß die Führung alle Warnungen und roten Ampeln ignorierte und mit offenen Augen in den Abgrund ging – glauben Sie, daß ein solches Versäumnis auch heute noch passieren kann? 54 Prozent des Publikums glauben das. Sieht die Öffentlichkeit etwas, was die Führung nicht sieht?“. So eröffnete Danny Kushmaro das Freitagabend-Magazin am 22. September 2023, genau zwei Wochen vor dem 7. Oktober. 

    Heute Morgen haben die Medien diese Sendung erneut im Fernsehen ausgestrahlt, als wäre es eine Prophezeiung, die wahr geworden wäre.

    Gedenkstunde am 7. Oktober 2024, 20 Uhr vor dem Rathaus von Palma de Mallorca,
    (Foto:  Ibáñez Gutiérrez 

  • 1 Jahr nach dem 7. Oktober!

    nach dem Unfassbaren, dem NIE WIEDER!

    Klagemauer
    Klagemauer in Jerusalem (Foto: privat)

    Mit den jüngsten Entwicklungen im Nahostkonflikt ist ein Ende dieser bewaffneten Auseinandersetzungen in noch weitere Entfernungen gerückt als je zuvor. Im Versuch, die Absichten und Möglichkeiten der beteiligten Seiten zu erkennen und zu wägen, komme ich zum Ergebnis, dass wir eine noch lange währende Konfrontation erleben werden, die derzeit durch keinerlei diplomatische Aktivität – zu dem, was auf dieser Ebene derzeit geschieht, ist mein Urteil noch skeptischer als früher – zu entschärfen möglich ist. Nun sind wir allerdings auch keine Ratgeber und wir sind erst recht nicht parteiisch im Sinne der kritiklosen Parteinahme für eine der kriegführenden Seiten.

    Allerdings erheben wir eine Stimme insoweit, als wir mit der Dokumentation eines ganz individuellen Erlebens von unermeßlichem Leid an eine jedwede aktuelle Politik überwölbende Forderung erinnern, die eigentlich allerorten geteilt werden sollte: Das gegenseitige Töten von Menschen wird nie dazu führen, dass Konflikte – tatsächliche wie vermeintliche – zu einem

    wirklichen Frieden und noch weniger zu einer besseren Welt führen werden. Zu lernen ist aus der Geschichte, das man solche Konflikte nur lösen kann, wenn manvöllig neu darüber nachdenkt, wie wir eigentlich leben wollen, alle damit verbundenen Tatsachen und Konstellationen rückhaltlos, aber zivilisiert erörtert, und so nach neuen Wegen sucht, dem friedlichen Zusammenleben einen Weg zu bahnen.

    Im Nahen Osten stehen im Moment die Chancen dafür schlechter als jemals zuvor – aber gerade deshalb soll und muß die Stimme hierfür erhoben werden.

    G.D.

  • Yulis Tagebuch, Haifa (47)

    Im Nin’alu

    Während ich auf die angekündigte Reaktion neuerlicher Angriffe an allen Fronten – oder vielleicht doch alternativ die Freilassung der Entführten? – warte, sehe ich im Fernsehen Filme von den zurückliegenden Gefangenen-Austauschen im November und Dezember des Vorjahres. Sie lösen die zwiespältigsten Gefühle aus – wir sind so macht- und hilflos,  abhängig von all dem, was in Doha entschieden wird … 

    Unter den damals Zurückgekehrten waren Maya und Itay Regev. Besonders an Maya wird man sich erinnern, die, auf Krücken gestützt, die ganze Hilflosigkeit verkörperte. Ihre Geschichte wurde erst Monate nach der
    Heimkehr, in der Rehabilitation erzählt. Maya und Itay Regev waren erst
    am 6. Oktober von einem Familienurlaub in Mexiko kommend in Israel
    angekommen. Die Geschwister fuhren direkt von Flughafen zum Musikfestival und trafen nur Stunden vor dem Überfall dort ein. Beiden
    wurde in die Beine geschossen, so daß ein Entkommen unmöglich war. Zusammen mit ihrem Freund Omer wurden sie in ein Auto gezwungen, das
    sie nach Gaza brachte. Dort brach Maya vor Schmerzen zusammen, bekam ein Medikament, was nicht half  und verlor immer mehr Blut. Schließlich ohnmächtig, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Beim Aufwachen spürte sie, dass ihr Knöchel merkwürdig verbunden war – aber, sie lebte … 
    Heute, nach Monaten der Rehabilitation in Israel, kann Maya noch immer
    nicht auf ihren Füßen stehen. Dennoch ungeachtet dessen, kämpft sie mit aller Kraft für diejenigen, die noch immer in der Hand der Terroristen
    sind und tut, was in ihren Kräften steht, um die Entscheidungsfinder zu beeinflussen. Am 2. April sprach Maya in der Knesseth, um dort den Schrei all jener Mädchen und Jungen, die in der Gefangenschaft gequält werden, hörbar zu machen. 

    Im Film erzählt Maya von den Methoden der Terroristen, ihr Schmerzen
    zuzufügen: „Manchmal nahmen sie Chlor, Alkohol oder Apfelessig und pressten diese Flüssigkeiten in die Schußwunden“. Um sie ruhigzustellen, gab man ihr intravenös Ketamin oder Pethidin. Schon bald bildete sich im Bein Osteomyelitis. Die Rehabilitation hier ist anstrengend, hart und schon manchmal hat Maya Amputationen erwogen, weil sie die Behandlungen ungeheuer anstrengen und erschöpfen. Vielleicht, so der Gedanke, geht es mit einer Prothese leichter …
    In einer späteren Aktion wurde Mayas achtzehnjähriger Bruder Itai
    endlich freigelassen, gemeinsam mit fünf Kindern und sieben Frauen. Und für zwei Entführte russischer Herkunft, wohl eine Konzession an Wladimir Putin, ging die Zeit als Geiseln zu Ende. In jenem Moment kehrten auch
    Menschen zurück, die in der Gefangenschaft von ihren Angehörigen getrennt worden waren. Etwa Raya Rotem (54), die lange zusammen mit
    ihrer Tochter festgehalten wurde. Zwei Tage vor der Freilassung ihrer Tochter Hila verlor sie die Verbindung zu ihr. Nun kehrte auch die Mutter nachhause zurück.

    Raz Ben-Ami (47) war nachts, im Pyjama, gemeinsam mit ihrem Mann entführt worden. Sie leidet an Krebs, befindet sich in einem schwierigen
    geistigen und körperlichen Zustand. Ihre Rettung aus den Händen der Terroristen ist umso wichtiger, da sie in dieser Zeit weder die notwendige medizinische Behandlungen noch Linderung aller damit verbundenen Schmerzen erfahren hat. Yarden Roman-Gat aus Be’eri (36) war gemeinsam mit ihrem Mann und dem
    Baby entführt worden. Kurz vor Gaza gelang dem Vater mit dem Kind auf dem Arm die Flucht. Jetzt kehrte auch Yarden zurück. Liat Beinin- Atzili
    (49), eine gebürtige Amerikanerin und heute Leiterin in Yad Vashem, lebt im Kibbutz Nir-Oz. Ihr Mann ist am 7. Oktober ermordet worden. 

    Ariel Bibas verbrachte seinen 5. Geburtstag in den Händen der Hamas (Quelle: Comunideades Plus)

    Von einem ähnlichen Schicksal wie jenem von Maya und Itay Regev ist hier
    zu berichten: Auch Moran Stella Yanai (40) befand sich noch am 6. Oktober 2023 im Urlaub in Thailand. Sie fuhr am 7. Oktober zum Festival und wurde verschleppt, genau wie Liam Or (18), der im Kibbuz Re’im lebt. 

    Er ist der Cousin von Alma und Noam Or, die gleichfalls entführt waren
    und inzwischen zurückgekehrt sind. Der 17 Jahre alte Ofir Engel, dessen Heimat der Kibbuz Ramat Rachel ist, wurde aus Be’eri verschleppt, wo er
    gemeinsam mit seiner Freundin Yuval die Feiertage verbrachte. Auch Yuvals Vater befindet sich noch heute in den Händen der Terroristen, ebenso wie Amit Shani (16) und Gali Tarshansky (13) aus Be’eri. Gali hatte sich zu Hause mit ihrem Bruder im Sicherheitsraum versteckt. 

    Während Terroristen versuchten, dessen Tür aufzubrechen, flüchteten
    beide durch das Fenster und trennten sich auf der Flucht. Lior wurde ermordet, Gali nach Gaza entführt. 

    Besonders erwähnenswert in diesen Tagen ist: Erneut sind zwei Frauen,
    die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, in die Freiheit entlassen worden: Irina Tetti (73) und ihre Tochter Yelena Trufanova (50). Die gesamte Familie war im Kibbuz Nir-Oz zu Hause. Irenas Mann Vitali war
    noch am 7. Oktober ermordet worden, der Sohn Sasha ist unverändert in den Händen der Terroristen. 

    Nicht alle, die die schreckliche Zeit in Gaza überlebt haben und zurückkehren durften, möchten über das Erlebte sprechen, manche von ihnen sind auch gebrochen und nicht mehr wirklich auskunftsfähig. Es
    bestätigt sich erneut, das manchen Menschen das Erzählen über die zurückliegenden Geschehnisse deren Bewältigung erleichtert oder auch nur
    zu ermöglichen beginnt, aber andere dies nicht vermögen, insbesondere jene, deren Verwandte oder Freunde getötet wurden, sich in Gefangenschaft befinden, die ihr niedergebranntes Haus sehen müssen oder den verwüsteten Kibbuz.

    Solch Trauma nach einer Zeit in der Gewalt von Terroristen bringt ihre
    gesamte Welt zum Einsturz und sie bedürfen dringend der Hilfe. Aber viele Familien in Israel klagen, daß diese Hilfe und Unterstützung
    unzureichend ist und dringend der Intensivierung bedarf. In solcher Situation geht das israelische Parlament für drei Monate – drei Monate –
    in die Ferien. Das macht mich sprachlos. 

    Am 28. November 2023, kurz vor dem sechsten Mal der Rückkehr von einigen
    Geiseln, veröffentlichte der israelische DJ Skazi einen emotional aufwühlenden Film auf seinem Facebook-Konto. Er war nach Re’im gefahren, jenem Ort, an dem das Nova-Festival stattgefunden hatte. Auf dem Feld um ihn herum waren viele Bilder von Ermordeten des Terrors gruppiert, und er ging still zum Pult und legte für sie auf.
    Der Gesang von Ofra Haza  Im Nin’alu  geht zu Herzen, es heißt hier: 

    Wenn es keine Gnade mehr auf der Welt gibt, die Türen des Himmels werden niemals verschlossen sein. Der Schöpfer herrscht über alles und ist höher als die Engel, alle werden in seinem Geist auferstehen!“ 

    Glaubt mir, Ihr müsst dieses Video sehen!

  • Yulis Tagebuch, Folge 30

    Routine im Krieg

    Im November kehrten wir in gewisser Weise zur Routine zurück. Ich weiß aber ehrlich nicht, ob man es Routine nennen kann. Es war ein bisschen so, als würde man Verrückte ohne Medikamente auf die Straße schicken.

    Die Huthi schießen aus Jemen Boden-Boden-Raketen ab und drohen mit einem erneuten Angriff. Nasrallah hält gleich seine Terrorrede, während dutzende Raketen aus Libanon täglich abgefeuert werden. Terrorgruppen im Westjordanland drohen ebenso mit Gewalt. Trotz alldem begann die Schule wieder und Menschen müssen wie Menschen eben arbeiten, um zu essen. Routine.

    Ich entschied mich, dass wir, solange der Krieg währte, nicht nach Haifa zurückkehren. Folglich geht mein Sohn ab jetzt zu einem neuen Kindergarten in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Glücklicherweise – oder vielmehr nicht – waren in dieser Zeit ganz viele Evakuierte aus dem ganzem Land im Zentrum und die Kindergärten mussten neue Kinder aufnehmen. 

    Die Kindergärtnerinnen kümmerten sich um die Integrierung der neuen Kinder mit pädagogischen und psychologischen Werkzeugen, aber deren Wirkung war insgesamt unerheblich. 

    Die Integration ist nur ein Problem aus den vielen Schwierigkeiten, mit denen diese Kinder zur Zeit konfrontiert werden. 

    Die meisten von ihnen brauchen intensive Therapie, das kann der Kindergarten nicht bieten. 

    Für Kinder, die zu einem fremden Kindergarten, in eine fremde Stadt gehen müssen, weil Terroristen ihre Verwandten und Nachbarn geschlachtet haben und Raketen auf ihre Häuser ununterbrochen abgefeuert werden, ist nichts normal. 

    Allerdings verhalten wir uns gerade so, als ob es das wäre…

    Nachdem wir der WhatsApp-Gruppe des Kindergartens beitraten, gab es in der Gruppe der Eltern eine Debatte darüber, ob am Kindergarteneingang eine Straßenkamera installiert werden sollte. 

    Der Mangel an Vertrauen bei Menschen war so schlimm, dass eine Mutter behauptete, sie würde ihre Tochter ohne Kameras nicht zum Kindergarten bringen. Ich fand es ein bisschen komisch, dass die hysterischste Mutter in der Gruppe tatsächlich eine Amerikanerin war, oder vielleicht ist es nicht überraschend. Und als wir am Kindergarten morgens ankamen, standen bewaffnete Soldaten und Polizisten am Eingang. So eine Sicht beruhigt wahrscheinlich manche Eltern, aber mich hat es nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. 

    Das zeigt mir, wie schlecht die Situation ist. 

    Zuhause fühlte ich mich noch schlimmer bei der Vorstellung, dass ich während eines Krieges meinen Sohn mit drei Kindergärtnerinnen und nicht weniger als 30 Kindern zurücklasse. Ich fühle es so, als ob ich ihn im Stich lasse. Deswegen war ich zuhause wie eine geladene Waffe, schussbereit bei jedem Fall zum Kindergarten loszurennen. 

    Mein Sohn distanziert sich oft von großen Gruppen. Er spielt lieber mit einem oder zwei Kindern, zu denen er eine gute Bindung aufbauen kann. Er ist ein Kind der Qualitäten, nicht der Quantitäten. Kurz gesagt, ein Kind mit dem Charakter eines Erwachsenen. Deshalb machte ich mir keine Sorgen um seine Integration in der neuen Umgebung. Gott sei Dank, anders als ich, kommt er überall zurecht.

    Das Bildungsministerium organisiert Zoom-Vorlesungen mit Psychologen und anderen Fachleuten für die besorgten Eltern, und zusätzlich richtet es eine Hotline in verschiedenen Bereichen für Studierende und Eltern ein. 

    Die Universitäten bieten auch Gespräche mit Experten, sowohl für die Studenten als auch für die Mitarbeiter an. Jedoch hatte ich nicht das Bedürfnis, über Dinge zu diskutieren. Ich wollte weiterhin putzen, Wäsche waschen, und ungeduldig jeden Tag darauf warten, mein Kind abzuholen.

    Zeitgleich mit den Aktivitäten des Bildungssystems haben auch die Nachmittagsaktivitäten wieder begonnen. Ich meldete mich und meinen Sohn sofort für Krav-Maga an.

    Selbstverteidigung fand ich wichtiger im Moment, als über meine Ängste zu reden. Ich wollte mich aus dieser Hilflosigkeit herausholen. Und wenn es niemanden gibt, der uns beschützt, müssen wir lernen, uns selbst zu schützen. 

    Kredit: Foto von der Facebook Seite von Michael Hans Höntsch
  • Yulis Tagebuch, Folge 29

    Hurricane

    Zwischen dem Song „Hurricane“ und dem Originalsong „October Rain“ gibt es eigentlich keinen großen Unterschied. Im Grunde wurde der Titel „Hurricane“ gegen die Worte „October Rain“ ausgewechselt. Es gibt auch keinen Unterschied in der inneren Bedeutung des Songs. Jedoch, das Wort „Oktober“ war eine Provokation für die Europäische Kommission und sie konnten es einfach nicht annehmen. Das heißt, es kommt nicht auf die Bedeutung an, sondern darauf, wie der  Song interpretiert werden kann. Nicht der Inhalt, sondern die Hülle. Apropos Hülle, Schalen und Früchte: Das niedliche Symbol des Protests in den Farben der palästinensischen Fahne wurde durch das Zeichen einer geliebten Frucht ersetzt. Schmackhafter, süßer, bestens kalt serviert, rot mit grüner Schale und schwarzen Samen. Wisst Ihr schon welche Frucht ? Ich mag auch Wassermelone. Jedes Mal, wenn Ihr eine Wassermelone esst, denkt jetzt an Palästina. „Contemporary“ halt… 

    Im Jahr 2024 vertrat Eden Golan Israel beim Eurovision Song Contest. Sie musste unter der Sicherheit des Shin-Bet in Schweden ankommen. Von tausenden von Polizisten, Scharfschützen auf den Dächern des gesamten Komplexes und verdeckten Polizisten bewacht vom Flugzeug aus einsteigen, im Hotel, bei Proben und in jeder restlichen Sekunde in Malmö. Und das alles, um halt einen Song zu singen. Wenn ich diese Worte schreibe, kommt es mir vor wie das Bild einer jüdischen Frau Ende der dreißiger Jahre in Europa, die den Nazis zu entgehen versucht. Eden Golan ist die „Contemporary“ Marlene Dietrich. (Ich wollte halt „contemporary“ nutzen, damit es ebenso cool anzuhören ist.) Anscheinend sind wir in Europa nach 100 Jahren wieder am Ausgangspunkt angelangt. Um ein Jude in Europa zu sein, muss man sich verstecken, sich entschuldigen, sich bücken oder einfach den Mund halten. Also bleibe ich in Israel, denn wohin könnte ich sicher mit meinem Sohn reisen, der fast ausschließlich Hebräisch spricht? Wie oft kann man einem kleinen Kind sagen, es solle „leise sprechen“, denn es ist gefährlich, Hebräisch in Europa zu sprechen.

    Eden, ein 20-jähriges Mädchen mit phänomenalem Gesangstalent, betrat die Bühne und hat die „Buh‘s” des Publikums gehört. Das war bisher noch nie passiert. Weiterhin hat das israelische Team erzählt, dass die meisten Mitglieder der Delegationen nicht bereit gewesen seien, mit den Israelis Fotos zu machen. Sie forderten Eden sogar auf, sie in Edens Social Accounts nicht zu markieren und Posts mit ihnen zu löschen. Es sollte niemand sehen, daß sie freundlich zu Eden waren und sie mit ihr Fotos gemacht haben… 

    Der Schweizer, Nemo, der dann gewonnen hat, distanzierte sich gleichfalls vom israelischen Team, trotz der Punkte die er vom Hurricane-Komponisten für die Musik erhielt.

    Dann kam die Pressekonferenz, wo ein polnischer Journalist Eden fragte: „Glauben Sie nicht, dass Sie Menschen gefährden, wenn Sie hier sind?“ Als Eden redete, gähnte die  Vertreterin aus Griechenland und der niederländische Vertreter zog  sich  ein Tuch über den Kopf. Klassisches Europa, auf jeden Fall. 

    Die ganze menschliche Hässlichkeit wurde beim Eurovision Song Contest verkörpert. Und die Masken, das Make-up und die Musik waren nicht die schrecklichsten Dinge dabei. Abseits der Bühne passierten weitaus schrecklichere Dinge.

    Überraschenderweise (und ich schließe normalerweise nicht mit einer positiven Note ab, um eine Illusion zu erzeugen. In dem Sinne bin auch kein Fan amerikanischer Filme), erhielt Israel vom Publikum in 14 Ländern Douze Point, am meisten von allen Teilnehmern im Wettbewerb. Sogar aus Belgien, wo es eine Aufschrift am Fernsehen „Wir verurteilen Israels Menschenrechtsverletzungen“ vor Edens Auftritt gab und gleichfalls aus dem spanischen Publikum, dessen Regierung plant, einen palästinensischen Staat einseitig anzuerkennen. Aus Portugal, dessen Vertreterin sich entschieden hat, Wassermelonen auf ihre Nägel zu malen, und auch aus Australien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, San Marino, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.

    Allerdings vergaben die Juroren, eine sehr niedrige Punktzahl mit einem erheblichen Abstand zur Publikumswahl – was normalerweise nicht der Fall ist – und Eden belegte daher den fünften Platz.

    Was die Publikumswahl anging, verließen die Israelis die Eurovision mit einem Siegesgefühl. Gleichzeitig gibt es eine bittere Erinnerung an den Empfang im Wettbewerb und wie die anderen Mitglieder sich der israelischen Delegation gegenüber verhielten. 

    Aber wer seid Ihr, die Ihr für den israelische Song gestimmt habt? Warum drückt Ihr  Eure Stimme nicht lauter aus? Warum werden vernünftige Stimmen in den Medien nicht gehört? Warum ist die Unterstützung für Israel für mich so überraschend geworden? 

    Weil ich vorher dachte, dass es die Welt nicht mehr gibt. Warum muss jedes Mal etwas großes passieren, damit sich etwas ändert und die Menschen ihre Augen öffnen? 

    Vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, die Weltordnung zu verändern, und zwar nicht durch die Hände der Schuldigen, sondern durch eine Macht, größer als die Menschen, eine Katastrophe vom Ausmaß einer Naturkatastrophe, etwas so Tödliches wie einen Hurrikan.

    https://www.youtube.com/watch?v=K60BWlEhtAA

  • Yulis Tagebuch, Folge 28

    Eurovision

    October Rain

    Der Oktober ist vorbei und viele andere Dinge mit ihm.  Ich möchte Euch schon erzählen, was im November passiert ist, aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich statt über den andauernden Krieg über einen Songwettbewerb schreiben würde. Der „Eurovision Song Contest“ von dem ich bezweifle, daß irgendjemand daran interessiert gewesen wäre, wenn nicht das kommerzielle Fernsehen den Eurovision Song Contest zu einem Gesprächsthema gemacht hätte. Es handelte sich auf jeden Fall um eine öffentlich seit Jahren bekannte „Show“, von dem die Zeitungen Monate vorher schon schreiben.

    Ich möchte glauben, dass ich ganz objektiv bin, wenn ich sage, daß der Eurovision Song Contest in den letzten Jahren wie ein Zirkus aussieht und die meisten Songs sind einfach….schlecht. Unter anderem mag ich Rock. Ich bin mit Nirvana, Megadeth, Metallica, Guns and Roses sowie mit Punk und Hip-Hop aufgewachsen und deshalb (eventuell) irritieren mich die seltsamen Masken und Kostüme nicht. Ich bin auf die Musik fokussiert und nicht auf die Kulisse. Aber auch diese sollen mit Geschmack gemacht werden. Hauptsache ist die Musik und die soll auch gut sein. Meistens ist das nicht so. „Contemporary“… sag nicht mehr modern oder post-modern – schon alte und unrelevante Worte – alles ist jetzt „Contemporary“. „Contemporary“ Tanz, Musik… u.a.  bedeutet es, die Verbindung oder Kombination zwischen verschiedenen/andereArten, Styles, Genre usw. in einer Kreation.  

    Dieses Jahr versuchte das Publikum in vielen Ländern, und auf unverhohlene Weise, Israel vom Eurovision Song Contest auszuschließen. Viele der jungen Leute, die sich nicht gut mit Geschichte auskennen, verglichen Israel mit Russland, und behaupten, wenn Russland am Eurovision Song Contest nicht teilnimmt, sollte es Israel ebenso nicht. 

    Abgesehen von der kleinen Tatsache, dass Israel keinen Krieg gegen Gaza begonnen hat und gegen Gewalt fanatischer anti-westlicher Terroristen kämpft. Russland ist im Gegensatz dazu, in ein Land in Europa einmarschiert und droht sogar mit der Invasion anderer europäischer Länder, wenn diese der NATO beitreten. Kleine Unterschiede für Studenten in den besten Universitäten der Welt. Mit dieser Generation geht die Welt nur nach unten.  

    Wenn schon, dies lässt sich vielleicht mit der amerikanischen oder britischen Invasion in Afghanistan vergleichen. Allerdings, damals ist die Teilnahme Großbritanniens am Eurovision Song Contest überhaupt nicht in Frage gestellt worden. Aber solche Kritik ist gerade auf Social-Media nicht aufgekommen. „Contemporary“ Meinungen halt…

    Ursprünglich hieß der israelische Song zum Eurovision Contest  „October Rain“. Der Song wurde abgelehnt, weil er als zu politisch angesehen wurde. Es stimmt, daß der Song unter dem Eindruck der Ereignisse vom letzten Oktober geschrieben wurde, aber ist der Song politisch? Ich denke nicht.

    Lasst mich aus dem abgelehnten Song zitieren

    Writers of the history
    Stand with me
    Look into my eyes and see

    People go away but never say goodbye
    Someone stole the moon tonight

    Took my light

    Everything is black and white

    Who’s the fool who told you boys don’t cry

    Hour and hours and flowers
    Life is no game for the cowards
    Why does time go wild
    Every day I’m losing my mind
    Holding on in this mysterious ride

    Dancing in the storm
    We got nothing to hide
    Take me home
    And leave the world behind
    And I promise you that never again
    I’m still wet from this October rain
    October Rain

    Es ist hauptsächlich politisch, da der Song unmittelbar unseren Schmerz zum Ausdruck bringt. Daher wurde dieser Song disqualifiziert und ebenso ist die israelische Perspektive auf die Ereignisse in den globalen Medien. Unser Schmerz ist in dieser ganzen Geschichte marginal, und wir dürfen darüber nicht singen. Wir haben zu viele Erwartungen an diese Welt gehabt…