Kategorie: Yulis Tagebuch

  • Yulis Tagebuch, Haifa (23)

    Dieser Text erschien am 2. Mai 2024 zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Ich und Pistole

    Stellt euch diese Situation vor: während eines Krieges betritt jemand euer Haus und fängt an, euren privaten Bereich zu fotografieren. Die Gedanken in so einem Moment, die mir da durch den Kopf gehen, verursachen Chaos.

    Die Realität, über die ich die Kontrolle total verloren habe, hat sich weiter verschlechtert und ich fange an über extremere Handlungen nachzudenken. Als Medien-Promis wie Avri Gilad und andere Prominente ähnliche Beiträge teilten, dass sie ebenfalls sahen, wie Araber Fotos von ihren Häusern und der Umgebung machten, wurde es wirklich schlimm. „In den letzten Tagen sind Araber durch mein Viertel im Norden Tel Avivs gewandert und haben Häuser fotografiert. Heute wurden drei verhaftet, gestern zwei. […] Es gibt sehr beunruhigende Beweise dafür, dass sich etwas zusammenbraut. Ich habe das Gefühl, dass wir schockiert aber immer noch naiv sind. Wir verstehen nicht, dass es vielleicht noch nicht vorbei ist, dass es vielleicht gerade erst beginnt. […] Wozu fotografieren sie Häuser? Für das Album ‘Städte in Israel‘? […]

    Wir bereiten uns nicht vor. Nicht auf der Ebene der Stadt, nicht der Nachbarschaft, nicht des Hauses.“ So schreibt Avri Gilad Ende Oktober auf seinem Facebook-Seite.

    Wenn wir also zunächst die Nachrichten und Gerüchte ignorieren konnten, und vermuteten, es handele sich dabei um die Fantasie einiger Exzentriker, dann wurde dieses Gefühl durch eine sehr große Sorge, dass etwas Schlimmeres passieren könnte, ersetzt. Und als die Befürchtung von einer weiteren inneren Front bei Israelisch-Arabern wenige Tage nach dem Krieg ausgeschlossen war, dann ist sie nun wieder da.

    Dann setzte ich mich vor den Computer, holte tief Luft und sagte mir: „Du bist gerade allein, du hast ein kleines Kind und selbst musst du auf euch aufpassen. Es ist noch nicht vorbei und es gibt niemanden, der dich beschützt. Auch keine Stahltür, kann die Monster halten, da sie noch mit Bohrmaschinen kommen können. Also besorg dir einen Waffenschein, und zwar jetzt.“

    Versteht mich nicht falsch, ich bin nicht dafür, dass Menschen so einfach Waffen erhalten, wie es in den USA ist. Aber ich möchte auch nicht aus dem Akt des politischen oder religiösen Widerstands vergewaltigt werden oder mit der Ausrede, ich sei Soldat gewesen, ermordet werden. Denn was würdet ihr tun? Ich frage wirklich, obwohl ich weiß, dass ihr mir das nicht beantworten könnt. Ich bin ehrlich gespannt, was die meisten von euch zum Thema denken. Denn für mich ist das gerade ein Extremfall, der extremes Handeln erfordert. Also, ich setzte mich an den Laptop, um einen Antrag einzureichen. Die Fragen waren einfach, aber nach und nach wurde mir klar, dass die Chancen geringer wurden, obwohl ich in der Armee diente, war ich kein Kämpfer, einen Grund habe ich schon verloren. Ich lebe nicht in einem Settlement an irgendeiner Grenze, noch einen Grund habe ich verloren und es geht weiter. Fazit: Während eines Krieges in Israel zu leben, wird nicht als gefährlich genug angenommen, um vom Staat einen Waffenschein zu erhalten… “Scheiße, es geht nicht.“ Besorgt schloss ich den Laptop und dachte mir, dass ich irgendwie etwas tun musste. Für einen Moment könnte ich mich von außen anblicken, genau wie du mich jetzt ansehen kannst und wahrnehmen, dass diese ganze Situation einfach Wahnsinn ist. Im normalen Leben hätte ich mir jetzt Online gerne Stiefel für den Herbst für mich und meinen Sohn oder einen Mantel für den Winter gekauft. Also verdammt seien die, die uns in diese Situation bringen.

    Ein paar Tage später kam eine offizielle Nachricht von der Polizei, dass eine ganze Reihe von Profilen auf Social-Medien über diese verdächtigen Personen berichteten, und über Araber, die Hauseingänge fotografierten. Nach Polizeilicher Untersuchung seien die Profile in der Regel anonym und die Bilder,
    die aus den Überwachungskameras stammten waren ziemlich ähnlich in verschiedenen Städten im ganzen Land verteilt.

    Wie wurde es beendet und wie kann das alles mit dem Iran zusammenhängen?

    Erzähle ich euch dann in der nächsten Woche.

    Foto: Ein Mann macht ein Foto (dokumentiert den Hauseingang) von Hauseingang. Kredit: Ein Foto aus einem Video, das auf Social Media gepostet wurde.
  • Zeevs Gedanken

    Der Baum

    Einmal fragte ich einen Baum – 

    “Baum, wie ist es, ein Baum zu sein?”

    “Du scherzt wohl” – sagte der Baum.

    “Nein, nein”, sagte ich – “ganz im Ernst,

    ist es gut oder schlecht?”

    “Schlecht?” wunderte sich der Baum. “Warum?”

    “Stört es dich nicht, dass du die ganze Woche über feststeckst?”

    “Ich stecke nicht fest, ich bin doch verwurzelt.”

    “Und hast du nicht manchmal Lust, Freunde zu besuchen

    oder zu sehen, was anderswo los ist?”

    “Ich habe kein Bedürfnis zu wandern und umherzuziehen.

    Vögel singen mir ständig Lieder,

    Schmetterlinge küssen mich, der Wind streichelt mich, und vor meinen Augen erstreckt sich der weite Horizont.”

    “Und in der Nacht, wenn alle schlafen – was dann?”

    “In der Nacht lausche ich der Stille

    und höre, wie die Erde atmet, wie Früchte reifen,

    wie der Tau niederfällt,

    und in meinen Ästen schlafen die Nestlinge, und ich wache über ihren Schlaf.”“Ich liebe dich, Baum” – sagte ich

    und ging in meinen Garten, wo ich einen Baum vor meinem Fenster pflanzte.

    Zeev Mizrab Dibo

    Wir wünschen Dir einen gesegneten 80. Geburtstag lieber Zeev und danken Dir für Deine Mitarbeit an unserem Projekt „Post-aus Haifa“! 

    Die junge mallorquinische Sängerin Lorena Bonnin und Ihr Vater, der Pianist und Komponist Carlos Bonnin interpretieren ein Musikstück aus dem Film „Schindlers Liste“ gegen Antisemitismus. 
  • Yulis Tagebuch, Haifa (22)

    Ein Unglück kommt selten allein

    Bald sind wir im November 2023. Abends wird es langsam kühler und seit wir auf Winterzeit umgestellt haben, sind die Tage unerträglich kurz und die Dunkelheit lang geworden. Aber draußen ist es noch trocken, wie mein Mund beim Fasten in Yom Kippur.

    An jedem vergangenen Tag versuchen wir mit aller möglichen Kraft weitere Informationen zu verdauen. Die Gefangenen sind immer noch nicht zurück. Kinder und Babys ohne Eltern in Gefangenschaft. Wahnsinn. Der Rest ist zu Hause auf Klonopin und immer mehr Jungen und Mädchen, Enkel und Enkelinnen stehen morgens auf, drücken Mama und Papa ganz doll, bevor sie – ohne Wahl – in die Hölle eintreten. Ja, in die Hölle, weil sie sich nicht sicher sind, ob sie jemals aus Gaza herauskommen werden. Das ist ein Ort, in dem die Chancen der dort lebenden Menschen, vor allem unter der Herrschaft der Hamas, jemals ein normales kultiviertes Leben zu führen, gering sind. Und aus Gaza kann man nur fliehen, es zu verlassen ist unmöglich.

    Im Zentrum sind wir immer noch nicht zum gewohnten Arbeits- und Schulalltag zurückgekehrt, aber wenigstens haben die Medien endlich begonnen, darüber zu reden. Im Laufe der Zeit scheint sich allerdings die Distanz zum 7. Oktober zu verkürzen. Zumal jeder Tag, der vergeht, als „ein Tag seit dem 7. Oktober“ bezeichnet wird. Es sieht so aus, als ob ein neues Tagebuch in der jüdischen Geschichte, dem Land Israel, aufgeschlagen worden sei.

    Der 10. Kriegstag, der 11. Kriegstag, der 12. Tag usw. Der 7. Oktober ist gerade aus meiner Sicht wie ein erstes Blatt in einem neuen Tora-Buch. Und zwar nicht so eines, das mit der

    Erschaffung der Welt beginnt, sondern umgekehrt, mit einer Reihe von Katastrophen und eine Erlösung ist nicht in Sicht. So ist es, denn täglich tragen sich noch zu junge Neuankömmlinge in die Liste der Toten ein.

    Ich weiß es nicht genau, wie es begann, aber es erreichte schnell durch die Social-Medien jedes Haus. Wer nicht in Social-Medien unterwegs ist, kann sich durch Nachrichtensendungen informieren. Alles verstärkt die Vielfalt der Angst, die wir alle ohnehin schon haben. Ob es sich lediglich um ein Gerücht handelte, das sich verbreitete, oder nicht, blieb unklar: Sowohl die Nachrichten auf WhatsApp als auch die Beiträge auf Facebook zum Thema berichteten pausenlos: Araber, die in Israel arbeiten oder leben, gehen durch die Straßen und nehmen Fotos der Häuser auf.

    Foto: Ein Mann macht ein Foto (dokumentiert den Hauseingang).
    Kredit: Ein Foto aus einem Video, das auf Social Media gepostet wurde.

    Genauer gesagt fotografieren sie die Eingangstüren der Gebäude und die Umgebung des Gebäudes. Es geht das Gerücht, dass es im ganzen Land stattfindet, vor allem aber in den zentralen Städten, in Tel Aviv, Petah-Tikva, Rishon-Letzion, Ramat-Gan, Givata‘im und sogar in Haifa und Beit Shemesh in der Nähe von Jerusalem.

    Das Zentrum des Landes ist derzeit Zufluchtsort für Bewohner aus dem Süden und Norden und ist das bevölkerungsreichste Gebiet Israels. Der Gedanke, dass das, was im Süden passiert ist, auch im Zentrum passieren könnte, versetzt die Öffentlichkeit derzeit in große Angst. Das Netz ist überschwemmt mit Fragen wie „Was planen sie für uns?“ ‚Sie‘ in dem Moment bedeutet Araber allgemein, einschließlich israelischer Araber. „Wo ist die Polizei?“, lautet eine vielgestellte Frage. Mindestens 200 Anzeigen gingen über mehrere Tage bei der Polizei ein. Die in Social-Medien veröffentlichten Fotos der Verdächtigen gingen viral.

    Das ist eine stressige Situation, denn in einem so kleinen Land ist es unmöglich, an allen Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Die meisten Männer bis zum Alter von 45 Jahren sind rekrutiert und gerade an der nördlichen oder südlichen Grenze im Süden des Landes stationiert. Die Krankenhäuser sind mit Tausenden von Verwundeten überflutet, und das Zentrum des Landes ist eigentlich voll mit Kindern und Frauen, und Evakuierten, die meisten von ihnen sind traumatisiert und brauchen sofort psychologische Hilfe. Diejenigen, die im Zentrum wohnen oder hierher kommen, wie ich und meine Familie, sind weitgehend auf die Hilfe der israelischen Polizei angewiesen, sonst können wir uns mit Blechdosen schützen … versuchen irgendwie unser Glück.

  • Yulis Tagebuch, Haifa (20)

    Dieser Text erschien am 16. April 2024  zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Who’s Calling?

    Heute ist der 7. April 2024, ein Sonntag. Aber für mich ist es gerade EIN TAG, AN DEM ICH WARTE. Ich warte. Im Moment sitze ich und warte ab. Ich weiß nicht genau worauf, aber ich kann nichts anderes tun als zunächst auf das Zeichen warten.

    Letzte Nacht fuhr ein Motorrad auf der Straße vorbei und ich dachte, ich hätte die Sirenen kommen hören, aber nach drei Sekunden fuhr das Motorrad weiter und die Stille kehrte in die Dunkelheit zurück. Dann bin ich ins Bett gegangen, aber in meinem Kopf war ich immer noch beim Warten. Ihr versteht immer noch nicht, worauf ich warte? Ich dachte, dass ihr in dieser Phase des Kennenlernens bereits so viel über mich wisst … Ernsthaft, was meint ihr, ich warte, dass ER mit einem Blumenstrauß kommt? Oder auf die Pizzalieferung? Oder vielleicht warte ich darauf,  im Lotto zu gewinnen? 

    Nein, nein und nein. Ich warte auf den Gegenschlag Irans. Ich weiß nicht wie, wann und wo die Reaktion ausfallen wird, aber im Gegensatz zu anderen Dingen in meinem Leben weiß ich, er wird kommen. 

    Allerdings möchte ich, wenn wir in den Sicherheitsraum nach unten gehen sollen, in der Alltagskleidung und nicht im Schlafanzug gekleidet sein. Warum ist mir das wichtig? Weil man in verrückten Situationen die verrücktesten Gedanken hat. Was mich unter anderem gerade beschäftigt … aus der Albträumeliste dieser Woche zwei Beispiele, die können es vielleicht besser erklären. 

    Heute Nacht habe ich von Nazi-Deutschland geträumt. Letzte Nacht habe ich von Romi Gonen geträumt – Romi, die inzwischen über ein halbes Jahr in der Gefangenschaft bei einer muslimischen Terror-Organisation leben muß. Deshalb, wenn es in der Mitte der Nacht passieren würde, will ich nicht stundenlang im Schlafanzug mit den Nachbarn meiner Eltern im Sicherheitsraum festsitzen. Und das ist zumindest ein Bild, dass ich etwas tun kann und mir gelingt, diese Angst aus meinen Gedanken streichen.

    Diese Zeiten erinnern mich ein wenig an den Golfkrieg. Auch damals warteten wir. Wir gingen mit Gasmasken zur Schule. Um es erträglich zu machen, haben wir die Maskenboxen in rosa, grün, hellblau und anderen schönen Farben angestrichen und darauf sowas wie Regenbogen oder Teddybären gemalt. So konnten wir uns vorstellen, dass sich in der Box magische und gute Dinge befinden. Meine Eltern gingen dann nicht einmal in den Sicherheitsraum. Sie gehören zur Generation der damaligen Kriege, wie Der 6 Tage Krieg, Yom Kipur usw., in denen Israel seine Grenzen gegen die Nachbarländer verteidigte. 

    Deshalb machten sie sich keine großen Gedanken um einen Krieg mit einem Land, mit dem Israel keine Grenze hat. Sie waren nicht so ganz überzeugt von einer Bedrohung durch die Skad-Raketen aus dem Irak. Zum Zeitpunkt des Alarms ging meine Mutter nonchalant auf den Balkon, um Wäsche aufzuhängen, nachdem sie mit ihrem Bruder lange am Telefon diskutiert hat, der zuvor die Raketen von seinem Hausfenster aus genau gesehen hatte und die Einschläge unweit von seinem Haus beobachten konnte. 

    Damals gab es noch kein Internet, alle Informationen, die wir damals hatten, wurden vom Fernsehen oder Radio übermittelt. Ganz genau kannten wir zwei wichtige Männer: Die USA hatten General Schwarzkopf und wir hatten Nachman Shai. Sie vermittelten uns die Informationen, die wir nach dem Willen der Regierungen wissen sollten. Und wir warteten jeden Tag darauf, dass wir erfuhren, was um uns herum geschah und was mit uns passieren würde.

    Für mich kommt mir das wie gestern vor. Denn, obwohl wir uns in einer Ära endloser Informationen aus allen Richtungen und unzählige Medien befinden, brauche ich jetzt einen professionelleren Filter, der für mich herausfiltert, was gerade wichtig ist und mir dabei verrät, was mit uns passieren wird. Ja, so wie damals …

    War stories („Sipurey Milchamot“) – Eli Huli

  • Yulis Tagebuch, Haifa (19)

     Dieser Text erschien am 11. April 2024  zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Für das rothaarige Baby und das Kind in Gefangenschaft

    2019 nahm ich an einer Konferenz der European Association forIsrael Studies (EAIS) in London teil und hielt einen Vortrag über Terrorismus und Trauma nach der zweiten Intifada. Am Ende des Vortrags wurde ich gefragt, wie ich Terrorismus definiere. Das Publikum argumentierte, dass ich die Angriffe der zweiten Intifada nicht als Terrorismus bestimmen könne, weil es sich um eine legitime Opposition handelt. Schon damals verstand ich, dass die Ermordung von Israelis durch Explodieren eines Sprengsatzes in einem Bus von den Londoner Wissenschaftlern als berechtigte Opposition angesehen wurde. Und generell, so meine Wahrnehmung, befasste sich ein Großteil der Konferenz unter dem Titel „Israel Studies“ an der University of London mit Israelkritik.

    Die Unterstützungen sowohl der Akademiker als auch der demonstrierenden Massen in Europa kommen also nicht aus dem Nichts. Dieser Ansatz wird seit Jahrzehnten in den Räumen der renommiertesten Universitäten und wird über die Medien gepflegt. Es hat angefangen mit linken Bewegungen in der sechziger Jahren, und ist mittlerweile stark und ständig von islamischen Kräften (ökonomische und politische) unterstützt und finanziert. 

    Heute ist dennoch einmal ein „Happy Tag“. Denn heute wurden zwei amerikanische Geiseln freigelassen. Ohne Deal oder Erklärung. Es war ein glücklicher, aber auch ein seltsamer Moment. Es ist, als würde die Mannschaft der Raumfähre Columbia, nachdem sie sich beim Flug durch die Atmosphäre aufgelöst hatte, plötzlich zu Fuß aus der Dunkelheit auftauchen. Es ist, als würde man zusehen, wie Menschen im Pyjama aus der Hölle zurückkehren; eine Mutter und ihre Tochter. 

    Den Veröffentlichungen zufolge waren die USA an ihrer Freilassung „stark beteiligt“. So heißt es in den Zeitungen. Doch die Zahlen zeigen derzeit, dass es in Gaza noch 210 weitere Entführte gibt. Darunter sind viele Kinder. Es ist eine Schande, dass Biden nicht stark an der Freilassung weiterer 210 Zivilisten beteiligt war. Was ist mit dem kleinen, neun Monate alten Baby in der Gefangenschaft. Wie isst es? Lassen sie es ein wenig spielen? Lächelt es manchmal? Ist es ihm nachts warm genug? Ich kann den Schmerz um das Leiden um diese Kinder nicht unterdrücken. Er erstickt mich vor Traurigkeit. Alle sind die Kinder von irgendjemand, die gerade erst Sukkot gefeiert haben, oder auf einer Party waren, oder im Bett am Samstag um 6 Uhr morgen aus ihrem Traum in einem Albtraum aufgewacht sind.

    Die Freilassung von Judith and Natalie Raanan am 20. Oktober 2023 (ohne Kredit)

    Von Zeit zu Zeit hören wir hier eine Explosion, mal entfernt, mal näher. Selbst daran stellt sich langsam Gewöhnung ein. Was jedoch immer schwieriger wird, ist die Zeit zu Hause. Die Ende Juli begonnenen Sommerferien dauern bereits bis Ende Oktober. Die Kindergärten, Schulen, die Nachmittags-Aktivitäten, alles ist noch geschlossen. Den Kindern wird langsam langweilig, und es scheint, als stünden sie jeden Moment kurz vor dem Ausbruch. 

    Bisher kann ich nicht arbeiten. Das Schreiben kommt nicht aus mir heraus. Ich schaffe es nicht, einen einzigen klaren Satz zu formulieren, und im Moment erzeugt selbst das Lesen einer Zeitung eine mentale Belastung in mir. Ich habe im Moment genug damit, mich mit den Bildern, den Sichten, den Geräuschen, den Gerüchen um mich herum auseinanderzusetzen und zu versuchen, damit zu leben. Heute besuchen wir aber endlich eine Familie und gehen dann vielleicht zusammen in den Park. Ja, ich habe mich an die Explosionen über meinem Kopf gewöhnt, aber an die in meinem Kopf mich zu gewöhnen, ist viel schwieriger für mich.

  • Yulis Tagebuch, Haifa (18)

    Dieser Text erschien am 6. April 2024  zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Der Herr der Fliegen

    Auch Wochen nach Beginn des Krieges werden morgens, mittags und abends aus dem Gazastreifen weiterhin Raketen abgefeuert. Sie treffen nicht allein den Süden, ihre Einschläge reichen bis zum Norden des Landes. Dieses kleine Land wird ständig bombardiert und selbst das Meer sieht stürmisch aus. 

    Die Demonstrationen gegen Israel gehen dabei mit voller Kraft weiter. In  New York, London, auf Zypern oder auch in Sydney, Australien, wo eine pro-palästinensische Demonstration mit etwa 15.000 Menschen stattfand. Demonstranten schwenkten palästinensische Flaggen und riefen: „Palästina wird niemals sterben.“

    Tatsächlich stimme ich ihnen zu. Der Krieg der Palästinenser gegen Israel, die Idee eines palästinensischen Staates „from the river to the sea“ ist verknüpft mit der Schuld an der Besatzung und allem, was damit einhergeht. Aber ich befürchte, er wird ewig  andauern. Denn das Ziel der Palästinenser ist nicht Frieden mit Israel und ein eigener Staat,  sie lehnten die Gesprächsgelegenheiten dafür mehrmals ab. Ihr Ziel ist auch nicht Teil der Nationalstaaten zu sein und ihre Kultur weiterzuentwickeln – sonst hätten sie schon aus den Hunderten Millionen Euros, die sie aus Europa bekommen haben, auch einmal ein Theater oder eine Promenade mit Cafés entlang der Küste gebaut. Nichts davon ist geschehen. Den Kampf gegen den zionistischen Feind bis zum Ende fortzusetzen scheint ihnen stets wichtiger zu sein. 

    Unwillkürlich denke ich dabei an die Juden in den dreißiger und vierziger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts, die sich selbst in Ghettos und Konzentrationslagern eine Kultur aus dem Nichts erschufen, um sich noch menschlich fühlen zu können. Sie malten mit Staub, sangen mit ihren Herzen und spielten mit ihren Lippen Musik. Kultur hält uns menschlich, es füttert die Seele, es öffnet den Geist. Verzeiht mir, wenn ich zwischen Gaza, den Hamas und allen anderen Palästinensern gerade nicht unterscheide, denn gerade ist bei mir alles in Schwarz und Weiß gefärbt worden, und für mich gibt es im Augenblick nur uns und sie.

    Foto-Kredit: Ap Foto/Petros Karad Pro-Palästinensische Demo in Nikosia, Zypern am 20. Oktober 2023

    Und wenn ich weiter überlege – niemand auf der Welt scheint eine Trennung zwischen unserer Regierung und den Menschen herzustellen. Zwischen den orthodoxen und den säkularen Juden. Für sie sind wir alle gleich. Ein Stück. Parallel nimmt der Antisemitismus in der Welt zu, als ob die Juden, die nicht in Israel leben, irgendwie auch daran schuld wären, einfach, weil sie Juden sind. Diese Juden …  gefährliche Wesen, eines Tages werden sie die Welt erobern. Aber erst einmal müssen sie sich in ihrem Land zu verteidigen lernen. 

    Viel weniger als sonst verfolge ich die Veröffentlichungen und Berichte der Medien im Ausland. Ich habe das Gefühl, dass ich ausländische Stimmen nicht mehr hören kann; vor allem diejenigen, die die Situation nicht verstehen und trotzdem vor allem Kritik üben. Die einzige resonante Stimme, ist die Stimme Deutschlands. Deutschland bringt seine Unterstützung für Israel zum Ausdruck, wie ich sie nie zuvor gespürt habe. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die seit dem 7. Oktober bereits zweimal in Israel war, erklärte, dass die Unmenschlichkeit der Hamas ein Wendepunkt war und bleibt. Und nach ihren Treffen in Tel Aviv stelle sie fest, dass die Israelis auf keinen Fall ihre Menschlichkeit in Gaza aufgeben werden. Das ist es, was demokratische Länder wie Israel von Terroristen wie der Hamas unterscheidet, erinnert sie noch mal ihr Publikum. 

    Trotzdem haben Demonstranten in Europa und anderswo offenbar kein Problem damit, die Hamas und ihre Gräueltaten zu unterstützen. Das beunruhigt mich zutiefst – man stelle sich vor, dass in den USA Menschen für die chinesische Diktatur, oder in Großbritannien für Russland, oder in den Niederlanden für Iran und in Irland für Nordkorea demonstrieren werden. Ist dieser Tag vielleicht nicht mehr allzuweit? Der Tag, an dem das Wort Terror zu einem Grußwort wird? Klingt das weit hergeholt oder verrückt? Habt ihr recht, wenn ihr das für übertrieben haltet?Vielleicht – aber erinnert euch, dass Romane wie Herr der Fliegen oder 1984 auch nur dystopische Allegorien  waren. Und letztendlich hat es sich doch viel schlimmer als in diesen Romanen  verwirklicht. 

    Foto-Kredit: Ap Foto/Rick Rycroft Pro-Palästinensische Demo in Sydney Australia 21. Oktober 2023

    Heute ist vielleicht der Anfang einer neuen Ära, in der Demonstranten weltweit in der Öffentlichkeit terroristische Akte, Vergewaltigung von Frauen, die Ermordung von Kindern im Namen des extremen Islamismus und dem Glauben an die Scharia-Gesetze unterstützen. Demokratische Regierungen lassen diese Demonstranten gewähren. Was ich nicht kapiere, ist der gesetzliche Aspekt. Denn nach geltenden Gesetzen stellt die Unterstützung einer solchen Organisation einen Verstoß gegen dieses Gesetz dar, oder? 

    Warum lässt man das also zu? Was wollen die Regierungen damit  erreichen und wieweit wollen sie in den USA, Australien und Europa diese „Kultur“ weiter nähren? Seht ihr nicht, was nicht fern von Euch, ja, in Eurer Nachbarschaft passiert?

  • Yulis Tagebuch, Haifa (15)

    Dieser Text erschien am 13. März 2024  zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Internationaler Frauentag

    Seit zwei Nächten träume ich von einer mir unbekannten Frau, die fest entschlossen ist, Selbstmord zu begehen. Ich möchte ihr helfen, aber sie war von der Idee nicht abzubringen. Irgendwie gelingt es ihr trotzdem nicht. Wäre es ein Zeichen des Glückes, weiß ich nicht. Allerdings gibt sie nicht auf und versucht es noch einmal und noch einmal… Voller Wut und Frustration bleibt sie noch am Leben.

    Eine schreckliche innere Traurigkeit begleitet mich beim Aufwachen. Dieses Gefühl macht das Aufstehen ungeheuer schwer und wie während der Grippe rolle ich mich aus dem Bett um das Frühstück vorzubereiten. Wenn ich meine Verantwortungen als Mutter erfülle, fühle ich mich wie nach einem vollen Marathon.
    Mein alltägliches Lächeln entsteht heutzutage hauptsächlich durch das Zusammenpressen meiner Kiefer. Sekundenlang jeden Tag und langsam tut es aber auch weh. Ich versuche ja trotz allem im Hier und Jetzt zu sein, ohne verrückt zu werden und an jeden Tag, an dem ich keinen Ausbruch gehabt habe, fühle ich mich wie Wonder-Woman.
    Wie viele Tage noch kann man den Fernseher oder das Internet einschalten und so viele schöne Gesichter von toten Kindern, Mädchen, Frauen und Männern sehen? Wie lange kann man über den Tod nachdenken und so leben, als gäbe es ein Morgen?

    Ein Bild von der Online Zeitung „The Times of Israel“, ein Artikel von: Ellen Ginsberg Simon


    Ich kann immer noch nicht direkt und ausführlich über die Vergewaltigung von Mädchen, Jungen und Kindern schreiben. Aber mehr als einhundertfünfzig Tage sind vergangen, und die schöne Naama ist immer noch nicht zu Hause. Sie und so viele andere Mädchen und Frauen sind bei Terroristen der schlimmsten Sorte Sexsklaven geworden. Erinnern Sie sich an die jesidischen Frauen, die von Isis-Kämpfern stundenlang vergewaltigt wurden, weil sie sich weigerten, zum Islam zu konvertieren?

    Wahrscheinlich einige von ihnen sind schon schwanger geworden. Und vergiss nicht die sexuell übertragbaren Krankheiten in solchen Fällen. Nicht zuletzt auch die körperlichen und seelischen Verletzungen und Demütigungen. Dies sind nur wenige Gedanken des Schreckens die junge Mädchen und Frauen seit mehr als 150 Tagen durchmachen. Die Frauenorganisationen weltweit haben aber dazu nichts gesagt.

    Und zwar, letzte Woche war es der Internationale Frauentag. Für die Frauenorganisation sei es wichtig, dass sowohl die Putzfrauen mitfeiern als auch diejenigen, deren Ehemänner sie täglich schlagen… So oder so, alle Frauen sollen mitfeiern. Im allgemeinen bezweifle ich, dass dieser Tag oder die Frauenorganisationen die Zustände schwacher und mittelloser Frauen verbessern können.

    Seit dem 18. März 1911, als in Ländern wie Dänemark, Österreich, der Schweiz und Deutschland der Frauentag gefeiert wurde, gibt es immer noch keine Gleichheit zwischen den Geschlechtern: Lohnunterschiede, Chancen usw.
    Von daher gibt es keinen wirklichen Grund, diesen Tag zu feiern.

    Wenn es Gleichberechtigung gäbe, gäbe es keine Notwendigkeit, den Frauentag zu feiern, oder? Gegebenenfalls kann man den 8. März markieren als einen Tag, an dem die Frauen aufwachen sollten, anstatt in eine Art Selbstgefälligkeit und Euphorie zu verfallen. Nur weil die Männer uns endlich einen Gefallen getan haben, nachdem wir jahrelang mit schmerzenden Füßen neben ihnen gestanden haben und uns auf der Bank Platz gemacht haben, bedeutet nicht, dass wir das feiern sollten.

    Die beste Erklärung (wohl für mich), warum Frauenorganisationen unnötig sind, steckt in ihrem Schweigen angesichts der Vergewaltigung junger Frauen durch Terroristen.

    Auf dem Foto – Naama Levy (19) seit 7. Oktober bei Hamas.

    Sie sahen, wie ich, wie Naama Levy (19), mit der Hose voller Blut von einem Monster zu einem Transporter gezerrt wurde und haben nichts gesagt. War das für sie vielleicht ein Akt des politischen Widerstands? Oder vielleicht haben sie an der Glaubwürdigkeit des Videos gezweifelt ? Also, ich ziehe daraus auch paar Schlussfolgerungen:

    1. Dass diese Organisationen die Vergewaltigung jüdischer Frauen unterstützen.

    2. Sie glauben, Vergewaltigung könnte in bestimmten Fällen ein Ausdruck politischen Widerstands sein.

    3. Sie unterstützen Frauen, wenn es für sie politisch von Wert ist.

    4. Diese Frauen ziehen nicht an, was sie in ihrem eigenen Geschäft verkaufen (das ist eine Metapher, Sie werden die Bedeutung selbst herausfinden).

    5. Im Rahmen der Sichtbarkeit und Fans auf Social-Media, betrachten Frauenorganisationen die Anerkennung des Ereignisses als eine Schande zu ihrem Account.

    6. Alles sind nur leere Phrasen, und die Frauenorganisationen und Frauentage sind ein Pflaster für den blutigen Zustand der Frauen in der Welt.

    Sie sollen sich schämen. Schaut ihr Naama einen Moment lang in die Augen.
    Sei stark, Unser Mädchen. Mein Herz ist 155 Tage lang bei Dir und allen anderen.

  • Auschwitz und seine Vorgänger

    Die triumphierende Verbrennung

    Am Dienstag  dem 27. Januar 2025 wird der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (Polen) vor 80 Jahren feierlich gedacht. 

    Ich kann in diesem Zusammenhang  nicht vermeiden,  mich zu erinnern, was vor vielen Jahren auf meiner so sympathischen Heimatinsel Mallorca geschehen ist. Es sind traurige Dinge, die da geschehen sind. Es betrifft Angriffe auf die Gemeinde von „Neuchristen“ (Konversos) seit der Massenkonversion vom Jahre 1435 n.C. Offiziell gibt es seitdem keine Juden auf Mallorca.

    Das Inquisitionsgericht wirkte  im Jahre 1488 n.C. aber nicht offiziell bis auf das Jahr 1675 (XVII. Jahrhundert). In diesem Jahr begann die Inquisition mit grossem Zorn gegen die konvertierten Juden vorzugehen. 

    Auf der Promenade El Borne wurden vom Inquisitionsgericht 23 Angeklagte verurteilt. Sechs wurden in Abwesenheit (als Verstorbene, Geflüchtete oder Nicht-Aufgefundene) verurteilt. Ein Jude aus Madrid wurde lebendig verbrannt.

    Im April 1679 n.C. gab es ein Autodafe und obwohl es dann nicht ausgeführt wurde, gab es doch Gefängnisstrafen und Vermögensbeschlagnahmungen. Alle seien damit „zufrieden“ gewesen.

    Die Verbrennung aus dem Jahre 1679 n.C. beschreibt ein  Augenzeuge, der Jesuit Francisco Garau im Buch „Die triumphierende Verbrennung“, es wurde im selben Jahr veröffentlicht. 

    Strassenschild in Altstadt Palma
    Strassenschild in der Altstadt von Palma de Mallorca (Foto: Privat)

    Das erste Autodafe vom 7. März 1679 n.C. fand im Kloster Santo Domingo statt. Dorthin wurden 24 Personen aus  der  Strafanstalt gebracht. Ihnen wurde vorher ihr gesamter Besitz genommen. Am 1. Mai 1679 n.C. wurde das zweite Autodafe auf der moderneren Plaza Gomila in der Nähe des Castillo de Bellver und weit  von der Stadt Palma wegen der „Rauchbelästigung“ abgehalten. Die Verbrennung wurde in einem großen Katafalk durchgeführt, das erreichte einen größeren Eindruck bei den 30.000 anwesenden Zuschauern.

    21 Menschen starben auf diese Weise.

    Am 6. Mai 1691 n.C. hat es stattgefunden, das dritte und noch blutigere Autodafe mit 21 Verurteilten. Von denen wurden elf  zusammen verbrannt. Sieben Menschen wurden einzeln und drei lebendig verbrannt. Das waren Rafael Vals (Rabiner) und die Geschwister Katalina und Benito Tarongi.

    Im Juli des gleichen Jahres gab es ein viertes Autodafe, wo zwei Menschen verurteilt wurden. Ein Verurteilter in Abwesenheit. 15 Verurteilte wurden „versöhnt“. Es gab hohe Geldstrafen. Nach diesem  gab es wahrscheinlich auf Mallorca keine Autodafes mehr. Aber die Heilige Inquisition hielt ihre Traditionen in Ehren…

    Als Chuetes werden die Nachkommen von Sephardischen Juden auf Mallorca bezeichnet seit der Zwangs-Konversion zum Christentum der mallorquinischen Juden (1391-1435 n.C.) Barral Editores, 1971, Barcelona

    Manuel Quadreny Cortes, Palma

  • Yulis Tagebuch, Haifa, (10)

    Dieser Text erschien am 15.02.2024 zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Freunde

    Die Stille auf der Straße hat uns dazu gebracht, die 50 Meter zwischen den Häusern schnell zu laufen. Die Kinder freuten sich darüber, sich wiederzusehen und das Geräusch des fröhlichen Lachens erwärmte und entspannte meinen ganzen Körper. In dem Augenblick war es uns egal, was die Kinder machten, alles war ihnen erlaubt. Sie sind laut – es stört uns nicht. Sie wollen Süßigkeiten? – kein Problem. Als wir klein waren, haben wir auch viel Mist gegessen und uns ist nichts passiert. Xbox spielen – Spiele zählen nicht als Bildschirmzeit, da sie die Kreativität stark fördern. Auch der Hund feierte mit und leckte noch die leeren Packungen auf dem Tisch aus. Ich weiß nicht, ob man das Gefühl richtig beschreiben kann, aber es war die Vergebung, des Verlangens auf mehr von den kleinen Dingen im Leben.

    Der Fernseher war nicht aus, aber er war im Stumm-Modus. Es war genauso der Zustand der Wachsamkeit neben dem Bedürfnis zu entspannen.

    Natalie ist in der Küche und ich sitze auf dem Balkon. Ich habe keine Lust mich über die Geschehnisse zu unterhalten. Ich wollte für einen Moment abschalten. Trotzdem hob ich von Zeit zu Zeit meinen Kopf, um die Schlagzeilen im Fernsehen zu lesen, und dann scrollte ich weiter auf Instagram. Natalie kam mit einem Tablett voller Leckereien raus, ich stand auf, um die Kaffeetassen zu holen und ihr bei dem Rest zu helfen. Heutzutage ist es unvermeidlich, die ganze Zeit zu essen. 

    Stellt Euch vor, wir sind zu Hause verschlossen, schlecht gelaunt, nervös, und meist hilflos. Dementsprechend gibt es in jedem Haus viel „Aktivität“ rund um den Kühlschrank. Süß, salzig und generell Kohlenhydrate sind der Depression bester Freund, ihr wisst es auch.

    „Wann fährst du nach Haifa zurück?“ – „Heute noch. Ich wollte euch erst treffen und die Kinder ein bisschen spielen lassen. Ich habe noch ein paar Sachen einzupacken und dann fahren wir zurück.“ „Sag mal, wie läuft es mit dem Mann?“ Für einen Moment habe ich mich verschluckt. „Ich weiß nicht, murmelte ich. Er schreibt manchmal, aber es geht nirgendwo.“ Plötzlich wurde es mir klar, wie tief die Wunde war. Aber ich konnte mich mit meinen eigenen Emotionen nicht konfrontieren, weil ich immer noch von den Ereignissen traumatisiert bin. In meinem Leben fühlt es sich gerade an, wie mit einem Mund voller Wasser, Luft zu schnappen.

    Ich bin die ganze Zeit mit meinem Sohn beschäftigt. Er hat Albträume in der Nacht, und er weint wieder so oft. Er hat Angst, aber er weigert sich offen mit mir darüber zu reden. Deshalb versuche ich soweit wie möglich eine Atmosphäre der Normalität zu schaffen, währenddessen mein Inneres aber chaotisch bleibt. „Ich habe weder die Lust noch die Zeit über ihn nachzudenken“, so kurz wie möglich habe ich das Thema zusammengefasst.

    Die gemeinsame Zeit verging so schnell. Immerhin haben wir es geschafft, ein wenig zu lachen. Die Kinder hatten viel Spaß und wie zuvor, waren sie glücklich wieder zusammen zu spielen. Plötzlich verspürte ich den Drang, nach Haifa zu gehen, ich fühlte mich gut. Bevor wir uns verabschieden, schaute ich noch einmal auf dem Fernseher. Um 14 Uhr, als im Norden Sirenen gemeldet wurden, hat mich das nicht abgeschreckt, denn im Norden wie im Süden sind die Menschen daran gewöhnt. Aber um 17 Uhr wurden die Bewohner des Nordens aufgefordert, sich in ihren Häusern einzuschließen. Natalie schaut mich an. „Du wirst jetzt nicht nach Haifa gehen, oder? Es handelte sich nicht allein um einen Raketenangriff, sondern zusätzlich um eine terroristische Infiltration 29 Kilometer von Haifa entfernt. Sie bitten die Bewohner zu Hause zu bleiben.“ „Ich weiß, Natalie. Ich kann die Schlagzeilen lesen. Bitte stresst mich nicht damit, denn ich bin bereit nach Hause zu fahren.“ – „Vielleicht sollst du es noch einmal erwägen.“

    Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich beschließe, die Entscheidung bei meinen Eltern zu treffen. Verdammt, warum bin ich nicht in der Schweiz geboren? Warum müssen wir und unsere Kinder in Israel lebenslang Krieg haben? Verdammt!

    Yasmin Muallem: Yom Kipur

  • Yulis Tagebuch, Haifa (7)

    Dieser Text erschien am 04.02.2024 zuerst in der deutschen Version und wird jetzt mit Hilfe von Google und spanischem Lektorat auf spanisch zur Verfügung stehen.

    Purple Rain

    Ich bin heute morgen sehr traurig. Und auch der Himmel weint mit uns. 24 israelische Soldaten sind im Kampf in Gaza in der Nacht gestorben – der größte Verlust seit dem 7. Oktober. Das ist tragisch.

    Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas erklären muß: Israelis melden sich nicht freiwillig zur Armee. Aber weil Israel seit seiner Entstehung unter ständigen Attacken leidet, herrscht hier seit 1949 wie während des Zweiten Weltkriegs in Europa oder während des Vietnam-Kriegs in USA Wehrpflicht für Männer und Frauen. Und so sind diese Männer auch gestorben, weil sie als Israelis keine
    andere Wahl hatten. Denn wer soll uns in diesen Zeiten schützen? Das Land ist so klein wie ein Embryo in der Gebärmutter in der ersten Woche der Schwangerschaft.

    Nach der kürzlichen Explosion war insbesondere der Sonntag eine Achterbahnfahrt. Mittags riefen bereits Freunde an und teilten mit, dass sie mit den Kindern wegfliegen wollen, sie möchten das Land für eine Weile verlassen. Gleichzeitig bekomme ich dutzende Nachrichten durch alle möglichen Mediennetzwerke von Freunden, Kollegen und Familienangehörigen aus Europa,
    hauptsächlich aus Deutschland und Österreich, aber auch aus England, den USA und Schweden. Alle machen sich Sorgen um mich und meine Familie, aber auch um dieses Land. Hilfsbereit bieten sie uns an, zu ihnen ins Ausland zu fliehen, bei ihnen zu bleiben – mindestens so lange, bis sich die Situation verbessert.

    Theoretisch denke ich mit einem halben Augenzwinkern ja, ich müsste fliehen, und jetzt wäre etwa Thailand als Ziel attraktiver als das dunkle Europa im Herbst. Aber in Wirklichkeit ist das gerade keine Möglichkeit für uns. Ich bleibe hier. Wie kann ich das für Außenstehende in zwei Sätzen zusammenfassen? Wenn es keinen Ort gibt, an den man zurückkehren kann, wird es auch keinen Ort geben, an den man in Frieden leben kann.


    Abends ruft mich eine gute Freundin an. Sie fragt, wie es mir geht, aber sie ist durch die Nachrichten besorgt und jetzt möchte sie eine beruhigende Erklärung von mir hören. Israelische Medien und der NBC berichteten, dass Schiffe und Militärflugzeuge der US-Marine auf dem Weg nach Israel seien. Darüber hinaus wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, einen in Israel gelagerten Vorrat an amerikanischer Munition für Notfälle freizugeben. Sie stellt mir die Frage, ob das bedeutet, dass es im Nahen Osten zu einem umfassenden Krieg kommen wird. Und ich erkläre in akademischem Ton, dass dies meiner Meinung nach eher ein
    psychologisches als ein praktisches Motiv sei, dass man die Interessen Russlands und Irans im Hinterkopf behalten müsse … und ich rede und rede und beruhige sie, während dessen ich beginne, mich dabei langsam unwohl zu fühlen.

    Aus heutiger Sicht ist die Hälfte des Territoriums des Staates Israel Angriffen von islamistischen Tschihad-Terroristen und Iranische Proxys – Hisbollah, Hamas und Huthi, zu denen gehören schon Millionen Mitglieder – ausgesetzt. Diese Terroristen sind keine Handvoll wahnhafter Menschen, sondern sie verfügen über
    die Fähigkeiten einer kleinen Staatsarmee. Hamas verfügt über zehntausend Raketen unterschiedlicher Reichweite, Hisbollah über mehr als hunderttausend. Die Huthi greifen Israel vom Meer aus an und parallel gibt es ständige Versuche, aus dem Westjordanland Anschläge zu verüben. Es scheint mir, dass der 7. Oktober der Beginn einer neuen Ära war: Ein globaler Versuch, Israel zu
    zerstören und gleichzeitig die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten – und damit unmittelbar verbunden – auf der ganzen Welt zu ändern.

    Derzeit sind wir Flüchtlinge in unserem Land. Wir versuchen das anhaltende Inferno täglich zu überleben, und wir sollen während dessen objektiv und rational die Geschehnisse für den Westen erklären. Schwer verletzt und fast kaputt weigern sie sich uns in die Augen schauen und Empathie zu empfinden.
    In Europa blüht indessen extremer Islamismus gerade in der jungen Generation. Auch diejenigen, die mit der Idee von Daesh die Welt zu beherrschen geplant haben, haben ihren Plan nicht aufgegeben, sondern die Strategie geändert und auf die richtige Zeit verschoben. Aber in Europa herrscht ein langer Winter. Die
    Europäer schlafen, sie sind mit positiven warmen Gedanken an sich selbst beschäftigt.

    Ich kann aber nicht schlafen. Morgen gehe ich einkaufen und dann, am späten Nachmittag, wollen wir zurückkehren – und ich bin vor der Autofahrt nach Norden schon jetzt nervös.

    Johann Wolfgang von Goethe, Egmont, Erster Aufzug, Jetter, ein Bürger von Brüssel,
    Sprecher Patrick Becker