Purple Rain
Ich bin heute morgen sehr traurig. Und auch der Himmel weint mit uns. 24 israelische Soldaten sind im Kampf in Gaza in der Nacht gestorben – der größte Verlust seit dem 7. Oktober. Das ist tragisch.
Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas erklären muß: Israelis melden sich nicht freiwillig zur Armee. Aber weil Israel seit seiner Entstehung unter ständigen Attacken leidet, herrscht hier seit 1949 wie während des Zweiten Weltkriegs in Europa oder während des Vietnam-Kriegs in USA Wehrpflicht für Männer und Frauen. Und so sind diese Männer auch gestorben, weil sie als Israelis keine
andere Wahl hatten. Denn wer soll uns in diesen Zeiten schützen? Das Land ist so klein wie ein Embryo in der Gebärmutter in der ersten Woche der Schwangerschaft.
Nach der kürzlichen Explosion war insbesondere der Sonntag eine Achterbahnfahrt. Mittags riefen bereits Freunde an und teilten mit, dass sie mit den Kindern wegfliegen wollen, sie möchten das Land für eine Weile verlassen. Gleichzeitig bekomme ich dutzende Nachrichten durch alle möglichen Mediennetzwerke von Freunden, Kollegen und Familienangehörigen aus Europa,
hauptsächlich aus Deutschland und Österreich, aber auch aus England, den USA und Schweden. Alle machen sich Sorgen um mich und meine Familie, aber auch um dieses Land. Hilfsbereit bieten sie uns an, zu ihnen ins Ausland zu fliehen, bei ihnen zu bleiben – mindestens so lange, bis sich die Situation verbessert.
Theoretisch denke ich mit einem halben Augenzwinkern ja, ich müsste fliehen, und jetzt wäre etwa Thailand als Ziel attraktiver als das dunkle Europa im Herbst. Aber in Wirklichkeit ist das gerade keine Möglichkeit für uns. Ich bleibe hier. Wie kann ich das für Außenstehende in zwei Sätzen zusammenfassen? Wenn es keinen Ort gibt, an den man zurückkehren kann, wird es auch keinen Ort geben, an den man in Frieden leben kann.
Abends ruft mich eine gute Freundin an. Sie fragt, wie es mir geht, aber sie ist durch die Nachrichten besorgt und jetzt möchte sie eine beruhigende Erklärung von mir hören. Israelische Medien und der NBC berichteten, dass Schiffe und Militärflugzeuge der US-Marine auf dem Weg nach Israel seien. Darüber hinaus wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, einen in Israel gelagerten Vorrat an amerikanischer Munition für Notfälle freizugeben. Sie stellt mir die Frage, ob das bedeutet, dass es im Nahen Osten zu einem umfassenden Krieg kommen wird. Und ich erkläre in akademischem Ton, dass dies meiner Meinung nach eher ein
psychologisches als ein praktisches Motiv sei, dass man die Interessen Russlands und Irans im Hinterkopf behalten müsse … und ich rede und rede und beruhige sie, während dessen ich beginne, mich dabei langsam unwohl zu fühlen.
Aus heutiger Sicht ist die Hälfte des Territoriums des Staates Israel Angriffen von islamistischen Tschihad-Terroristen und Iranische Proxys – Hisbollah, Hamas und Huthi, zu denen gehören schon Millionen Mitglieder – ausgesetzt. Diese Terroristen sind keine Handvoll wahnhafter Menschen, sondern sie verfügen über
die Fähigkeiten einer kleinen Staatsarmee. Hamas verfügt über zehntausend Raketen unterschiedlicher Reichweite, Hisbollah über mehr als hunderttausend. Die Huthi greifen Israel vom Meer aus an und parallel gibt es ständige Versuche, aus dem Westjordanland Anschläge zu verüben. Es scheint mir, dass der 7. Oktober der Beginn einer neuen Ära war: Ein globaler Versuch, Israel zu
zerstören und gleichzeitig die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten – und damit unmittelbar verbunden – auf der ganzen Welt zu ändern.
Die Klagemauer im Jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt ist eine religiöse Stätte des Judentums, Foto: privat
Derzeit sind wir Flüchtlinge in unserem Land. Wir versuchen das anhaltende Inferno täglich zu überleben, und wir sollen während dessen objektiv und rational die Geschehnisse für den Westen erklären. Schwer verletzt und fast kaputt weigern sie sich uns in die Augen schauen und Empathie zu empfinden.
In Europa blüht indessen extremer Islamismus gerade in der jungen Generation. Auch diejenigen, die mit der Idee von Daesh die Welt zu beherrschen geplant haben, haben ihren Plan nicht aufgegeben, sondern die Strategie geändert und auf die richtige Zeit verschoben. Aber in Europa herrscht ein langer Winter. Die
Europäer schlafen, sie sind mit positiven warmen Gedanken an sich selbst beschäftigt.
Ich kann aber nicht schlafen. Morgen gehe ich einkaufen und dann, am späten Nachmittag, wollen wir zurückkehren – und ich bin vor der Autofahrt nach Norden schon jetzt nervös.