Kategorie: Deutsch

  • Yulis Tagebuch, Folge 4

    Krieg um die Heimat, Kampf um das Zuhause

    Heute ist Sonntag, der 8. Oktober. Der erste Tag nach den Feiertagen, und noch ist alles geschlossen. Auch die Schulen. Routine ist das einzige, was ich mir eigentlich zum Geburtstag gewünscht hatte, statt dessen ist die Gegenwart über Nacht zum Albtraum geworden.

    Die Straßen sind leer, draußen ist es vollkommen ruhig. Man hört kein einziges Auto, nicht mal die Müllwagen. Man könnte es für einen ganz normalen Sonntag halten, wäre da nicht jene bedrückende Stille. Es ist keine Ruhe eines Feiertages, es ist die Stille des Krieges. Denn in mir ist alles sehr sehr laut und chaotisch, mir geht es nicht gut. Jetzt kann man, noch weit entfernt, Geräusche von Kriegsflugzeugen hören.

    Mitten in der Nacht, als ich und die meisten Menschen in der Welt in ihren Betten schliefen, müssen Menschen in den Kibbuzim darum bangen, dass ihnen gelingt, die Tür des Sicherheitsraumes geschlossen zu halten. Es sind dort mehr als 24 Stunden entsetzlich langsam vergangen, der Rauch, die Schüsse und Explosionen sind hinter den Türen noch zu hören und zu riechen. Die Stärksten in den Familien hielten die Tür fest verschlossen, hoffend, dass ihnen so Schutz gewährt bleibt. In Einigen Räumen nahm der Sauerstoff ab, so dass sogar die Kerzen nicht mehr brennen konnten.

    Manche Familien haben weniger Glück. Die Terroristen haben ihre Häuser mit den Menschen darin niedergebrannt. Versuchten sie zu entkommen, wurde geschossen; nicht wenige Schwerverletzte versuchten, sich in Sicherheitsräume zu retten. Dort verbluteten viele von ihnen, obwohl die Familie oder Freunde noch zu helfen versuchten. Aber oft gab es in den Räumen nicht genug Verbandsstoff und nach ein paar Stunden oder am nächsten Tag starben diese Verwundeten neben den geliebten Menschen.

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    Die Dunkelheit im Raum und der Durst wurden zudem immer unerträglicher, besonders für Kinder und alte kranke Menschen. 40 Babys sind allein an einem Tag ermordet worden, und so viele andere Menschen fanden auf ganz verschiedene Art und Weise schließlich den Tod.

    Die Briefkästen von Nir-Oz – hier eine Aufnahme vom 10. November – können wahrscheinlich besser als alle Beschreibungen die Tragödie in einem Kibbuz allein illustrieren. Die schwarzen Zettel stehen für entführte Menschen, die roten Zetteln weisen auf getötete Menschen hin.

    (Nir-Oz Briefkasten) Kredit: Erez Cohen, Fotograf in Kan-TV 

    Am Morgen des 8. Oktober lautete die Schlagzeile in den Zeitungen und überall im Internet „Krieg um das Zuhause“, diese vier Worte dominieren die Titelseite. Tatsächlich erleben wir jetzt nicht schlechthin einen Krieg um die Heimat, sondern den Kampf um unser Zuhause, um unsere persönliche und private Sphäre, in die die Terroristen brutal eingedrungen sind. Mit der Schilderung der kaum zu ertragenden Erfahrungen, die ich sammele und verarbeiten muss – und ihr müsst mir dazu noch ein wenig Zeit geben – sollte man den Kampf um die Heimat von jenem um das Zuhause unterscheiden können.

    Die durch Hamas-Terroristen ausgelösten Explosionen von Bussen, wie wir sie während der zweiten Intifada erlebten, sind meiner Meinung nach nicht vergleichbar mit dem gegenwärtigen Terror. Die damaligen Terroristen aus Gaza waren keine echten Krieger. Oft waren sie nur hasserfüllte Handlanger, die von der Hamas für politische Ziele ausgenutzt wurden. Sie haben sich für 72 Jungfrauen im Himmel und für Geld für ihre Familien zu Selbstmordanschlägen oder andere Morde animieren lassen. Diese Art von Terror war anders als jener der gegenwärtigen Terroristen. Und obgleich beide der blanke Horror sind, finde ich die jetzigen Terroristen aus Gaza mehr der Abteilung der professionell-psychopathischen Mörder zugehörig.

    Sie drangen in den privaten Bereich ein und haben ganze Familien ermordet, auch Kinder. Kleine Kinder und Babys neben ihren Eltern. Sie verstümmelten die Körper der Kinder im Namen … im Namen des Hasses. Im Namen der Sinnlosigkeit, im Namen des Wahnsinns, im Namen des Nichts! 

    Sie waren trainiert und bewaffnet wie Soldaten, aber haben sich verhalten wie die niedrigsten Barbaren. Darüber hinaus hat die Hamas seit 2006 politisches, soziales und ökonomisches Gewicht gewonnen. Ein jährliches Budget von zwei Milliarden Dollar, über 10.000 Raketen verschiedener Reichweite, 3000 Kommandeure und über 20.000 Soldaten sprechen eine deutliche Sprache. Am 7. Oktober zeigte die Hamas die Fähigkeiten dieser kleinen Armee, die viel mehr als eine Terrororganisation ist. Dabei gehört auch eine Einheit, die dank ihrer Qualifikation im Umgang mit den modernen Medien im Bereich Bewusstseinskrieg die ganze Zeit überaus aktiv war.

    In diesem asymmetrischen Krieg begreifen es die Führung und die Mitstreiter der Hamas sehr wohl, dass die Vergeltungsmaßnahmen der IDF (Israel Defense Forces) verheerende Folgen für sie haben werden. Und trotzdem sind sie bereit, alles zu opfern, was die Organisation erreicht hat – ihre Zivilisten, Katars Geldkoffer, das Geld aus Europa. Sie sind dazu bereit, nicht weil sie etwa nicht korrupt wären, sondern weil ihr Fanatismus größer ist, als man verstehen kann.

    (Tägliche Zeitung: Yedioth Ahronoth, 8.10.2023)

  • „S’Brent“

    Text und Melodie von Mordechai Gebirtig – ermordet 1942 im Krakauer Ghetto von deutschen Nationalsozialisten

  • Spenden

    Nadavs Familie

    Am Morgen des 7. Oktobers wurde der Kibbuz Kfar Azza von Terroristen der Hamas angegriffen. Das Haus, in dem Jessica und Nadav mit ihren Kindern Roni und Dean lebten, wurde durchsucht und zerstört. Nadav, der zur Notfalleinheit des Kibbuz gehörte, wurde ermordet. Jessica und ihre Kinder haben nichts mehr. Jede Spende kommt direkt ihnen und ihrer Zukunft zu Gute.

    Returno 360 Ranch

    Returno 360 Ranch widmet sich der psychotherapeutischen Betreuung von Traumaopfern und Kriegsüberlebenden jeden Alters, auch Kindern. Dabei spielen Pferde eine wichtige Rolle in der Traumatherapie. 

    „Nach dem schrecklichen Massaker der Hamas am 7. Oktober waren wir gezwungen, unsere Aktivitäten einzustellen, weil wir keinen sicheren Schutzraum vor Angriffen haben. So bekommen Patienten, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, nicht mehr die Unterstützung, die sie so dringend brauchen. Wir bekommen keine Unterstützung vom israelischen Staat, deshalb bitten wir Sie um Hilfe, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können.“

  • Yulis Tagebuch, Folge 3

    Erste Nacht und tausende Gedanken

    Mein Sohn ist schon längst eingeschlafen, aber ich kann es nicht. Der Gedanke, daß sich vielleicht israelische Araber, die unter uns leben, dazu entschließen werden, sich dem Massaker anzuschließen, stresst mich sehr und ich verfolge die Nachrichten am Handy. Solche Gedanken sind keine Phantasie, aber eine sehr traurige realistische Möglichkeit in Israel. Das ist schon passiert während der zweiten Intifada (2000-2005), und viel schlimmer im Jahr 2021 im Monat des Ramadans: Es kam an hunderten Orten im ganzen Land zu einer Reihe gewalttätiger Aktionen von israelischen Arabern. Hunderte wurden verletzt, Juden und Araber getötet. All das parallel neben massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, danach kam es zu einer weiteren Operation „Wächter der Mauern“, um militärisches Arsenal der Hamas zu zerstören. In den gemischten Städten, wie in Jaffa, Haifa, Akko, Lod, in denen die Menschen unterschiedlicher Religionen in unmittelbarer Nachbarschaft leben, warfen arabische Einwohner Molotowcocktails auf Juden, wurden die Straßen blockiert und Juden gelyncht. Meine Freundin, die in Jaffa lebt, hatte Angst, das Haus zu verlassen. Ihr Kind besuchte in Jaffa damals eine zweisprachige Schule, Arabisch-Hebräisch. Solche Schulen streben danach, Menschen, Meinungen, Kulturen und Religionen zu verbinden, um damit Verständnis und Frieden zu bringen. Zur Schule ging das Kind aber nicht, da der Weg dorthin zu gefährlich wurde.

    Ich schaue auf mein Kind, das neben mir schläft, und denke mir, wie viel Güte, Kraft und Vernunft die Kinder in die entfremdete und böse Welt der Erwachsenen mitbringen.

    Ich entschuldige mich für das Abschweifen vom Thema, aber ich frage mich, wie die Europäer reagieren würden, wenn die Einwanderer, die nach Deutschland kommen, so gegen sie rebellieren würden. Wenn ihre arabischen Nachbarn ihnen Schaden zufügen wollten. Ich erinnere mich an die übertriebene und unverhältnismäßige Reaktion der Polizei in Berlin auf die Ereignisse vom 1. Mai gegen junge Linke. Ich war dort und es tat weh. Offenbar kann das Land sich noch nicht vorstellen, was in viel extremeren Situationen passiert, denn dann hätten sie vielleicht die Mittel zur Auflösung von Demonstrationen der Linken gemildert

    Nun stellen Sie sich das Gefühl einfach auf menschlicher Ebene vor;
    stellen Sie sich vor, daß Ihr Nachbar, dem Sie Zucker oder ein Glas Milch gebracht haben, Sie hinrichtet. Die Gedanken wandern zum Holocaust. Und trotzdem, weg über den Holocaust. Über diesen möchte ich gerade in diesem Kontext nicht reden, finde ich doch die gegenwärtigen Geschehnisse in einer Art und Weise etwas anders. Den Menschen in den Kibbuzim wurden im voraus die Chance genommen, den Feind mit gutem Herzen zu einem Freund zu machen. Sie haben die bösen Stimmen ignoriert. Die Politik, die Schwierigkeiten, und das Risiko es in nur 7 Sekunden zum Sicherheitsraum zu schaffen. Sie haben ihre Häuser in der Nähe der Grenze gebaut, weil sie an Frieden geglaubt haben. Somit öffneten sie Türen für die Menschen aus dem Gazastreifen. Und zwar am 7. Oktober war es für sie anders geplant. Die Terroristen kamen mit Karten und Namen, sie wussten schon wer wohnt wo, und wie viele Kindern sie haben. Denn einige von ihnen arbeiteten 30 Jahre lang in den Kibbuzim. Jahrelang aßen sie in den Häusern, in denen sie nun ihre Bewohner geschlachtet haben.

    Vielleicht werden noch mehr arabische Länder Israel angreifen. Im Moment laufen so viele schlechte Optionen in meinem Kopf. Und wir haben keinen Ausweg. Wir müssen mit allem klar kommen, was passiert. Bei Raketenbeschuss gehen wir einfach in den Bunker. Ich hoffe, wir schaffen es in anderthalb Minuten fünf Stockwerke hinunter. Ich denke mir schon. Verdammt, Ich muss es irgendwie schaffen!

    Ich muss wahrscheinlich eingeschlafen sein, denn es war schon Morgen, als die Angst wieder spürbar war. Vielleicht war es alles nur ein schlechter Traum? Ich habe den Fernseher eingeschaltet. Sie haben bereits von tausenden Verletzten, über 1000 Ermordeten, hunderten Entführten in den Gazastreifen und vielen Vermissten gesprochen. Obwohl die Armee die Siedlungen übernommen hat, wird das Bild allmählich klarer. Das schwarze, schreckliche Bild dessen, was passiert ist und immer noch weiter passiert.

  • Yulis Tagebuch, Folge 2

    7. Oktober 2023

    Die Tochter meiner Schwester macht ihren Militärdienst an der Grenze zu Ägypten. Sie schreibt an die Familien WhatsApp-Gruppe: „Ich bin o.k., wir haben schon Westen bekommen.“

     „Westen?“ worüber redet sie? Es ist zu viel, um es so früh an einem Samstagmorgen aufzunehmen. Ich rief sie an, um die Nachrichten zu klären, aber sie ging nicht ans Handy…

    Als mein Sohn aufwachte, gab ich ihm das iPad – was nie passiert – und bat ihn, nicht im Wohnzimmer zu sitzen. Ich wollte nicht, dass er fernsieht.

    Mit jeder Minute sah das Bild noch katastrophaler aus. Die Zahl der Opfer ist über 100 gestiegen. Menschen aus den Kibbuzim riefen die Nachrichtenstudio an und baten um Hilfe. Eine schwangere Frau versteckte sich mit ihrer Tochter und bat den Reporter, jemanden zu schicken, der ihr hilft. Sie erzählte ihm, daß sie sich im Sicherheitszimmer versteckt und daß sie Schüsse hört und Rauch riecht. Sie hatte Angst.

    In der Zwischenzeit wurden ununterbrochen Raketen auf Israel abgefeuert. An einem Tag 300 Raketen auf unser Land.

    Ich stand auf, um die Tür abzuschließen, und ging mich anziehen. Das Tür- abschließen half aber den Familien in Süd-Israel nicht, die Terroristen haben die Türschlösser mit Bohrmaschinen zerstört und alle geschlachtet. Auch Babys. 

    Gleichzeitig kamen Meldungen von dem Nova Musik Festival in Re‘im. Ein paar Jungen, denen es gelang, den automatischen Waffen der Terroristen zu entkommen und sich auf den Feldern zu verstecken, kontaktierten das Studio. Sie schilderten kurz die chaotische Situation, forderten sie auf, ihnen zu helfen, dass es Dutzende Terroristen mit Maschinenpistolen gäbe, die jeden ermordeten und vergewaltigen. Und der Reporter hörte zu und saß hilflos im Studio. 

    Ich spürte, wie meine Muskeln, mein Kopf schmerzten und meine Atmung wurde schneller. Mein Vater kam von der Synagoge und saß vorm Fernseher. Keiner von uns hatte Appetit zum Frühstücken, und ein koscheres Shabbat wäre es auch nicht. Heute ist Krieg und der lehnt das Shabbat ab. 

    Ich hatte mir etwas Wein eingeschenkt. Es ist erst 11 Uhr morgens. Ich konnte nicht erfassen, was nur anderthalb Stunden von meinem Eltern entfernt passiert. Gestern bin ich auch ausgegangen, um Musik zu genießen.

    Nova Festival

    Ein paar Minuten später trafen Terroristen auf der Party ein und schlachteten, vergewaltigten und verbrannten Menschen bei lebendigem Leibe, junge Menschen, die gerade noch bunt und fröhlich tanzten und das Leben feierten. Auf Social-Media sowie über die Kibbuzim und Moschawim WhatsApp-Gruppe gingen auch ständig Meldungen und Rufe um Hilfe von Menschen ein. Viele von denen aber antworteten nicht mehr an die Gruppen zurück. Es wurde noch bekannt gegeben, dass die Terroristen Körperkameras trugen und die Gräueltaten aufzeichneten. Wer bei Telegram eintrat, konnte auch live miterleben, wie die Familien und Jugendlichen brutal ermordet wurden. Die Monster trennten mit Messern und Beilen Körperteile von Kindern und Eltern ab und während diese vor Schmerzen schrieen und bluteten, saßen sie nebenbei zum frühstücken. Wenn das Essen alle war verbrannten sie das Haus mit den Menschen oder sie erschossen die ganze Familie. Und noch ein Haus, und noch eins… usw. Ich wagte es doch nicht, in eines der Netzwerke einzudringen. Ich wusste, dass ich zumindest für meinen Sohn vernünftig bleiben musste. Also habe ich nur auf der großen Leinwand geschaut.

    Zur Mittagszeit fiel mir ein, dass ich meinen Sohn noch nichts zu essen gegeben hatte. Er war in das iPad vertieft und es störte ihn überhaupt nicht. Ich gab ihm zu essen und schaute gebannt wieder in den Fernseher. Das Ausmaß der Katastrophe wurde immer deutlicher, die Zahl der Ermordeten erreicht 400 und es besteht die Befürchtung, dass die Terroristen mit ihren Motorrädern zur Straße 4 aufbrechen, der gleichen Straße, über die sie nach Kfar Saba gelangen. Ich fange an zu überlegen, ob ich zu Hause irgendetwas habe, um uns zu schützen, und ich erinnere mich, dass ich nicht einmal Tränengas zur Selbstverteidigung gekauft habe. Die Terroristen eroberten Beeri und plünderten alles, was sie konnten. Sie erreichten aber mittlerweile u.a. die Städte Sderot, Ofakim und schossen auf Menschen auf den Straßen und in Häusern. Tausende Menschen sind verletzt. Tausende. „Wo ist die Armee? Wo ist die Polizei?“, fragen alle. Gleichfalls die Familien, die sich im Sicherheit Raum noch verstecken. Jeder für sich.

    Mittlerweile haben die Terroristen das Polizeistation in Sderot übernommen. Viele Polizisten sind dort getötet worden. 

    Ich denke mir, dass diese Lawine des Gemetzels nie ein Ende findet, ich selbst habe keinen Schutz. Jederzeit könnte auch mir etwas Schlimmes passieren. Langsam hatte ich das Gefühl, ich bekomme eine Panik Attacke.

    Nova Festival ist zum Massaker Festival geworden. Die Musik spielt nicht mehr dort und nirgendwo mehr. Die Verbrennung der Ermordeten, wie die Gruppen brutal vergewaltigter Mädchen, die Vergewaltigungen haben sie fortgesetzt, auch nachdem sie die Mädchen erschossen haben, können, vielleicht, erklären, was dieses ungeheuerliche monströse Übel bedeutet.

    Gerade kann ich wenig darüberschreiben. Aber es kommt noch langsam. 

    Als der TV-Moderator Mittag bei mehr Leuten zurück anrief, gingen sie auch nicht mehr ans Telefon. Weitere Berichte über getötete Soldaten in Kämpfen gegen die Terroristen, über entführte Kinder und Babys, über die toten Jungen im Festival. Die Informationen fließen.

    Um zwölf Uhr überbrachte Ministerpräsident Binyamin Netanjahu eine zuvor aufgezeichnete Botschaft, die ebenfalls bedeutungslos war, wie seine Besondere Ankündigung am Abend. 

    Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und der Akku des iPads hatte Zeit, leer zu werden und sich wieder aufzuladen. Ich musste mein Kind zum Schlafen bringen und vielleicht etwas essen. Er sollte diese Nacht besser in meinem Bett schlafen. Ich überprüfe noch einmal, ob die Tür verschlossen ist. Ich habe Angst Auto zu fahren. Die Straßen sind leer von Autos oder Menschen. Ich entscheide, bei meinen Eltern zu bleiben. Mein Kopf schmerzt.

  • HIOB von Joseph Roth (1930)

    „Mit dieser ‚chassidischen Parabel‘ (E. Steinmann) vollzieht sich Joseph Roths Wandlung vom gesellschaftspolitisch engagierten Reportagenautor der Neuen Sachlichkeit zum poesievoll konservativen Mythendichter. Roth greift für seine ‚wesensergründende Darstellung ostjüdischer Existenz‘ (S. Rosenfeld) auf die Elemente traditionellen Erzählens zurück […]
    Roth versucht, die Frage nach dem Sinn des Leidens im Geist der Bibel zu beantworten; doch ist es die Antwort eines Skeptikers, dessen Leben Heimsuchung war, der die erlösende Gnade inbrünstig herbeisehnte, aber nicht an sie glauben konnte.“

    (Aus Kindlers Neues Literaturlexikon)

    „…wie Victor A. Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hat: Man sagt trotzdem JA zum Leben.

    So wie es der große biblische Dulder HIOB tut, ein eigentlicher Versöhnungskünstler. Hiob erleidet immer noch einen Schicksalsschlag, ohne daß er das Vertrauen in Gott verliert. Zur Belohnung schenkt Gott ihm ein langes, glückliches Leben. In Joseph Roths gleichnamigen Roman heißt der moderne Hiob Mendel Singer. Der jüdische Bibellehrer aus Ostgalizien verliert seine ganze Familie, einzig der behinderte Sohn Menuchim bleibt ihm. Mendel hadert, doch dann trifft ein, was ein Wunderrabbi bei der Geburt des “schwachsinnigen“ Menuchim vorausgesagt hat: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.“

    Die wundersame Resilienz seines Sohnes, der ein brillanter Komponist und Dirigent geworden ist, versöhnt Mendel mit seinem Schicksal…“

    Aus: Neue Zürcher Zeitung, 23.12.2023, Zumutung der Versöhnung, von Birgit Schmid

  • Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?

    gegen die Gleichgültigkeit…


    In den Tagen und Wochen nach dem 7. Oktober 2023 haben meine Freunde und ich versucht Kontakt zu Gruppen und Organisationen aufzunehmen, um mit unseren Stimmen gegen die Gräuel in Israel protestieren zu können. Es gelang uns nicht Verbindungen herzustellen. Unser einziger persönlicher Kontakt nach Israel ist Yuli, wir waren seit dem 7. Oktober in sorgendem Kontakt mit ihr. Wir haben sie gebeten, uns sooft sie es schafft in Briefen oder Tagebuchberichten an ihrem jetzigen Leben teilhaben zu lassen. Sie ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, spricht gut deutsch und lebt allein mit ihrem 5jährigen Sohn. Sie werden sie und ihr jetziges Leben hier kennenlernen.

    Vom Fluss zum Meer wird in Deutschland auf den Straßen und in Hochschulen skandiert und das deutsche NIE WIEDER hört sich nur noch kläglich an und man muß es mit der Leselupe suchen.

    Unsere, meine Kultur ist christlich-jüdisch. Alles was wir seit dem Mittelalter und besonders seit der Aufklärung an deutscher Kultur haben, ist wie eine Doppelhelix aus diesen beiden Strängen Judentum und Christentum gewachsen, hat sich befruchtet und in der Konkurrenz immer schöner entfaltet. Können Sie sich ein Leben ohne Heinrich Heines Lyrik vorstellen? Sein „Denk ich an Deutschland in der Nacht“, ist wieder hochaktuell und wird von links und rechts benutzt. Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, die Familie Thomas Mann, Franz Werfel, Gustav Mahler, Felix Mendelssohn Bartholdy – er spielte Goethe als Kind auf dem Klavier in Weimar vor.

    Wir, unsere Vorfahren, Großeltern, Eltern haben mit jüdischen Menschen zusammen gelebt und haben dann geduldet, dass man sie ohne Schutz mit Gewalt und ohne unsere Hilfe und Verteidigung aus ihren Wohnungen holte und irgendwohin schickte… es war das Gas! Es war Auschwitz! Es gab Schiffe, mit denen sie fliehen wollten, kein Staat der Erde hat sie an Land gehen lassen.

    Jetzt nach diesem grauenvollen Anschlag der HAMAS sitzen wir eingeschüchtert da und meinen, „ja, man muss aber auch, und wir müssen auch die andere Seite verstehen…“! Wir kommen für Widerstand, Unterstützung und öffentliche Sympathiebekundungen nicht ins Konzentrationslager oder fallen Karriereleitern herab, können uns aber im Spiegel ohne Scham ansehen.

    Wir müssen nichts verstehen! Wir müssen verstehen, daß bestialischer Mord, Krieg das Furchtbarste ist, was wir uns als Menschen antun. Krieg ist das schrecklichste was es gibt, es wirkt durch Generationen und verroht die Menschen, verstümmelt die Körper und die Seele für immer.

    Und hier ist es ein Vernichtungskrieg ein Genozid. Wohin sollen denn die Juden vertrieben werden? Im Mittelmeer ersaufen?
    Hoffentlich sind dann Seenotretter zur Stelle und bringen sie in ein neues blühendes Theresienstadt.

    Wie soll die Welt denn damit besser, grüner, schöner werden? Kampf gegen CO2 ist doch lächerlich wenn nebenan dies geschieht!

    Wie kann man leben mit stündlicher Bedrohung und Angst…?
    Sie können es auf unserer Seite lesen. Bitte leiten Sie den Link weiter, wir wollen so wie es Victor Klemperer tat – Zeugnis ablegen – wobei wir inständig hoffen und wünschen, dass unsere „Zeugenaussagen“ sich nicht an der entsetzlichen Wahrheit der seinen messen lassen müssen.

    Auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schreibt auf ihrer Website „Kein Einer und kein Andrer mehr“ in absoluter Fassungslosigkeit entschieden zum Terror der Hamas.

    C.M.

    31.12.2023

    אנו מאחלים לכולם שנה טובה!

    Wir wünschen für alle Menschen ein gutes neues Jahr!

  • Yulis Tagebuch, Folge 1

    Yulis Tagebuch, Folge 1

    Trauma

    Ich bin traumatisiert. Um meine eigene unprofessionelle Diagnose zu verifizieren habe ich noch einmal an der Webseite des „American Psychological Association“ nachgeschaut und dementsprechend darf ich bestimmen, ich bin traumatisiert. 

    Ich bin physisch nicht verletzt. Einfach und viel schlimmer psychisch erschüttert von einem Ereignis, dass im Grunde nach 70 Tagen noch nicht vorbei ist. Selbstverständlich kann ich mich an alle Geschehen und Gefühle auf einmal nicht erinnern, und deshalb ist es unmöglich eine Art vollständige, und mit literarischen Worten, eine Story zu illustrieren. Jedenfalls ist das keine Story für Café-Gespräche.

    Vielmehr wünsche ich mit einfachen Worten den Schmerz zu reflektieren und vielleicht irgendwann… (klingt mir schon unrealistisch) kann ich irgendwie es angemessen wahrnehmen. 

    „Krieg“ heißt es in einem Wort. Hingegen gibt es nicht genug Worte, um ihre Implikationen zu beschreiben. Leid, Horror ist ein Bestandteil davon.

    Gerade macht es mir Angst, die Augen zu schließen. Vor allem nachdem die Bilder und die Gedanken durch den Kopf abschweifen. All das passiert immer nur wenige Sekunden bevor ich einschlafe. Dann wird die Nacht zum Morgen, und der Morgen beginnt mit einem ermüdenden Gefühl des Abends, und es wiederholt holt sich wieder und wieder. Die Angst, die Kontrolle über das Leben zu verlieren, macht es schwer zu arbeiten, zu freuen, und einfach so, zu atmen. 

    Meine Geschichte ist also unvollständig. Es wird rückblickend über ein Ereignis geschrieben, das in vielerlei Hinsicht nicht vorbei ist. Von Zeit zu Zeit fallen mir beim Schreiben weitere Details ein. Ich schreibe vielleicht nicht in der bestimmten Ordnung der Sachen, aber das ist das Trauma. Es drückt sich in einer fragmentierten Erinnerung an ein Ereignis aus, das schwer einzudämmen ist, und von Zeit zu Zeit greift das Unterbewusstsein an und bringt Details zum Vorschein, die ich unterdrückt habe. 

    Der 7. Oktober ist mein Geburtstag. Er erscheint normalerweise während der jüdischen Feiertage. Manchmal in Kippur. In diesem Jahr fiel der 7. Oktober auf Samstag, Schabbat und Simchat Tora, und zwar einen Tag vor dem Ende ihrer (ungefähr) dreiwöchigen Feiertage. 

    6. Oktober

    Am Freitag in der Frühe fuhr ich zu meinen Eltern, die in Netanya wohnen. Von dort ging ich mit meinem 5jährigen Sohn ins Konzert von Mergui im Barbie Club in Tel Aviv. Er wartete schon lange darauf, zu diesem Konzert zu gehen, und es hat mir genauso gut gefallen. Nach dem Konzert fuhren wir nach Kfar Saba, wo meine Schwester lebt. Zufällig ist der Geburtstag meiner Schwester am 9. November. Ich lachte mal darüber mit meinen deutschen Freunden, dass die Daten unserer Geburtstage die Geschichte der DDR formen.

    Von Kfar Saba aus gingen wir gemeinsam mit ihrem Sohn in ein japanisches Restaurant. Wir haben einen Toast ausgebracht, über den üblichen Unsinn geredet und auch ein bisschen über Politik. Wir wählen beide das Mitte-Links-Lager und für uns ist die soziale und wirtschaftliche Lage im Land schlimmer als

    je zuvor. Meine Schwester fragte mich: „Was ich mir zum Geburtstag wünsche?“ Ich antwortete ihr ehrlich: „Nichts.“ „Das beste Geschenk, das ich morgen bekommen werde, ist die Rückkehr zur Routine.“ Was mir aber fehlt ist der Mann den ich liebe. Aus vielen vernünftigen Gründen sind wir nicht zusammen, aber traurig bin ich trotzdem, und ich habe keine Lust darüber zu reden. 

    Um 21 Uhr kehrten wir mit zwei satten und müden Kindern nach Hause zurück. Wir übernachteten bei meinen Eltern. Es war doch Feiertag.

    Geburtstag

    Am Samstag, dem 7. Oktober wachte ich um 8 Uhr auf. Es ist war mein Geburtstag. „Glückwunsch Yuli! Ein Jahr älter. Hoffentlich bedeutet es für dich auch ein bisschen mehr Lebensweisheit.“

    Von hier an aber wird unser Leben nie wieder dasselbe sein. Es wird ein bewusstseinsverändernder Tag auf persönlicher, nationaler und Sicherheitsebene sein. Der Feiertag ist vorbei. 

    Etwas geblendet vom Licht des Telefondisplays las ich eine Push-Nachricht der Zeitung Haaretz, dass die israelische Regierung die Attacke als Kriegerklärung aufnimmt. Ich habe noch nicht ganz verstanden, worum es geht. Mein Vater ist wahrscheinlich in der Synagoge, wie an jeden Samstagmorgen.

    Draußen war alles so still. Keine Geräusche von (Krieg)-Flugzeugen. Es hat mich doch beruhigt. Ich stand auf und stellte den Fernseher an.

    In den Nachrichten 20 Ermordete in den Gaza-Envelope (Kibbuzim und Moschawim an der Grenze), aber die Geschehnisse waren mir noch nicht ganz klar. Für den Moderator anscheinend aber auch nicht. Trotzdem hatte ich schon das schlechte Gefühl, dass etwas ganz Schlimmes passiert. 

  • „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“

    (Mit diesem Satz beginnt Thomas Mann seine Joseph-Tetralogie.)

    Palästina ist das „Gelobte Land“, in das Moses die Kinder Israels auf Geheiß seines Gottes aus der Ägyptischen Gefangenschaft führte. Die Judenheit siedelte hier, bis der römische Kaiser Titus Vespasianus Jerusalem eroberte und den Tempel zerstörte; danach begann der Exodus. Nachdem ein jüdischer Aufstand unter Bar Kochba (132-135 n.Chr.) gegen die römische Kolonialmacht gescheitert war, durften Juden Jerusalem nicht mehr betreten.

    Zu Beginn des 7. Jhs. n. Chr. gründete Mohammed († 632) seine Religion; in relativ kurzer Zeit entstand ein islamisches Weltreich, das von Südspanien bis nach Indien reichte. Die einzelnen Teilreiche waren verhältnismäßig selbständig, aber die Einheit der arabischen Kultur wurde durch die gemeinsame Religion (den Islam) und Sprache (Arabisch – denn der Koran durfte nicht übersetzt werden) garantiert. In den 630er Jahren wurde Palästina von den Arabern besetzt (638 wurde Jerusalem erobert) und gehörte seitdem zum Arabischen Großreich.

    In dieser frühen Zeit waren die Araber gegenüber Andersgläubigen viel toleranter als die Christen: Sie wurden in ihrer Religionsausübung nicht behindert, mußten nur eine Sondersteuer zahlen. Zwischen Arabern und Juden entwickelte sich z. B. in Südspanien, wo es große jüdische Gemeinden gab, ein fruchtbarer kultureller Austausch: Die älteste spanische Lyrik, die Harğas, verdankt arabischen Einflüssen mehr als den Gedichten der okzitanischen Trobadors. Fast alle arabischen Herscher und Funktionäre hatten jüdische Ärzte, weil die besser ausgebildet waren als die arabischen.

    Vom Ende des 11. (Erster Kreuzzug 1096-1099) bis zum Ende des 13. (sechs weitere Kreuzzüge bis 1270) Jahrhunderts führten die europäischen Staaten, angeführt von Frankreich und Deutschland, eine Reihe von Eroberungskriegen gegen die Araber in Palästina unter dem Vorwand, die Sicherheit christlicher Pilger, die zum Heiligen Grab nach Jerusalem reisten, wäre nicht gewährleistet – daß es ein Vorwand war, zeigt sich schon daran, daß sich die Teilnehmer am vierten Kreuzzug (1202-1204) in der Adresse geirrt und statt Jerusalem das christliche, wenn auch griechisch-orthodoxe Konstantinopel erobert und geplündert haben. Am erfolgreichsten war der erste Kreuzzug, der zur Einnahme von Jerusalem und der Errichtung des „Lateinischen Königtums“ (Gottfried von Bouillon) führte, das mit der Rückeroberung der Stadt durch Sultan Saladin 1187 endete. 1291 verloren die „Lateiner“ ihren letzten Stützpunkt in Palästina und diese Episode in der Geschichte des Landes war beendet.

    In den Teilstaaten des islamischen Großreichs wechselten die Dynastien häufig, vom Prinzip der Toleranz gegenüber Andersgläubigen wurde aber nicht abgewichen. Jüdische Gemeinden in den europäischen Staaten hatten wechselvolle Schicksale: In Spanien herrschte seit dem 15. Jahrhundert katholischer Fanatismus, der 1492 zur Vertreibung der Juden führte (wenig später auch aus Portugal; viele gingen nach Konstantinopel). In vielen Ländern und Städten gab es Repressionen, Einschränkungen der Freizügigkeit, Berufsverbote, öffentliche Demütigungen, etc.etc. Erst seit Ende des aufgeklärten 18. Jahrhunderts setzte sich in den meisten Staaten langsam die Idee der „Emanzipation“ (Gleichberechtigung) der Juden durch. Die rechtliche Gleichstellung wurde in den fortschrittlichen Staaten im Laufe des 18. Jahrhunderts erreicht; in Rußland dagegen gab es häufig Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden. Als Reaktion darauf kam im 19. Jahrhundert die Idee der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina auf, die in der Judenheit durchaus kontrovers diskutiert wurde. Dafür konnte sprechen, daß die Juden niemals aufgehört haben, Palästina als ihre Heimat zu betrachten: Der traditionelle Gruß am Sedarabend und Versöhnungstag lautet: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“

    Das wichtige Buch von Theodor Herzl (Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1896) entstand unter dem Eindruck des Antisemitismus, der sich in Frankreich während der Affaire Dreyfus ausbreitete: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war aufgrund fadenscheiniger Beweise des Verrats militärischer Geheimnisse (gar so geheim waren sie übrigens gar nicht!) an Preußen für schuldig befunden, öffentlich degradiert und auf die IÎle du Diable, die „Teufelsinsel“ deportiert wurden. Als erste Zweifel an der Schuld des Verurteilten geäußert wurden, wertete die reaktionäre Rechte das als Angriff auf die Ehre der französischen Armee, die nach dem Debakel von 1870/71 wirklich keine weiteren Beschädigungen vertragen konnte.

    Antisemitische Pamphlete wie das verquaste 1210-Seiten-Werk (!) La France Juive von Édouard Drumont, das schon 1886 erschienen war, erhielten durch den Prozeß 1894 ungeahnte Aktualität. Die Diskussion wurde von den Verteidigern der Armee mit Schaum vor dem Mund geführt; Marcel Proust schildert (in Die Suche nach der verlorenen Zeit), wie der Streit über Schuld oder Unschuld von Dreyfus Familien entzweite und jahrzehntealte Freundschaften in die Brüche gehen ließ. Der Haß, der sich hier äußert, ist erschreckend; die Reaktion, mit diesen Zeitgenossen nicht länger Tür an Tür wohnen zu wollen, durchaus folgerichtig.

    Palästina war seit dem frühen 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Im Ersten Weltkrieg war die Türkei mit dem Deutschen Reich verbündet; nach Kriegsende wurde das Reich zerschlagen. Palästina wurde von britischen Truppen besetzt, 1920 erhielt Großbritannien ein Völkerbundsmandat für das Land.

    Die Voraussetzungen für die Gründung eines jüdischen Staates wären günstig gewesen, so scheint es: Am Ende des 19. Jahrhunderts war Palästina verhältnismäßig dünn besiedelt (von muslimischen Arabern, aber es gab jüdische und christliche Minderheiten), man sollte meinen, für eine jüdische Gemeinschaft hätte Platz sein müssen. Bereits 1917 hatte Großbritannien in der Balfour-Deklaration „die Gründung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ versprochen. Andererseits hat man versucht, die jüdische Einwanderung mit brachialer Gewalt so weit wie möglich einzuschränken, um die guten Beziehungen zur arabischen Welt nicht zu gefährden – hat sich niemand überlegt, daß man das dem ramponierten Nervenkostüm traumatisierter KZ-Insassen nicht zumuten kann? Und man dem arabischen Bevölkerungsteil Zusagen hinsichtlich seiner Unabhängigkeit gemacht, sie dann aber nicht eingehalten, womit auch auf der anderen Seite Ängste geschürt wurden. Es scheint, die Schlafwandler, die die Welt 1914 in die Katastrophe des Weltkriegs geführt hatten, waren immer noch nicht aufgewacht – und sie schlafen, wie Barbarossa im Kyffhäuser, noch immer!

    A.G.

  • 7. Oktober 2023

    Das grausame Massaker der HAMAS am 7. Oktober 2023 wird künftighin als ein singuläres Ereignis in das kollektive Gedächtnis eingehen. Die im Moment ihres ersten Erscheinens unfassbar erscheinenden Bilder und Berichte über die Greueltaten dieses Tages machten jeden Betrachter fassungslos – und das Entsetzen steigerte sich noch, als sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass das kein spontaner eruptiver Gewaltausbruch war, sondern jener einem eiskalt geplanten Kalkül entsprang: Durch unsere Zeugenschaft zusätzlich befeuert sollte der denkbar heftigste Flächenbrand entstehen, der eine ganze Region in den Abgrund zu reißen in der Lage sein würde.

    Gewiss – jeder aufmerksame Beobachter der jüngeren Geschichte und der derzeitigen Situation in dieser Region war sich darüber im klaren, dass hier ein Konfliktpotential schlummerte, dass jederzeit zu eskalieren in der Lage sein würde. Wohl nie hatten in Schwarz und Weiß unterscheidende Argumentationen hier eine wirkliche Überzeugungskraft besessen, verfehlten einfache Freund-Feind-Schemata die Wirklichkeit. Gerade deshalb war der Gedanke, durch Appelle und Diplomatie die vielgestaltigen Konfliktlinien unterhalb der Ebene eines Krieges immer wieder austarieren zu können, eine lange gehegte und – wie sich nun zeigte – trügerische Hoffnung.

    Nun, zwei Monate nach dem Gewaltexzess an der Grenze, die den Gaza-Streifen und Israel trennt, bestürzen uns die seither zu beobachtenden opferreichen Kampfhandlungen selbst mindestens ebenso, wie das Phänomen des Auflebens eines mörderischen Antisemitismus auch dort, wo man es noch vor kurzem für unmöglich gehalten hat. Dass seither, durchaus von verschiedenen Seiten, auch zum “Genozid” aufgerufen wird, ist ein im 21. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehaltener Rückfall in Denkmuster, die man allenfalls mit den Kreuzzügen verbindet und für die die mit dieser Vokabel belegten katastrophalen Verbrechen im 20. Jahrhundert eine beständige Warnung sein sollten.

    Die irritierend vielschichtigen Berichte aus der inzwischen faktisch weltweit geführten intellektuellen Diskussion über das “richtige” Urteilen und Verhalten in dieser Auseinandersetzung wühlen auf, während die täglichen Meldungen der Nachrichtenagenturen längst begonnen haben, dieses dramatische Geschehen mit der Umschreibung “Krieg” faktisch herunterzustufen –wiewohl das in Wirklichkeit eben kein Krieg ist, wie ihn die Geschichte schon viel zu oft gesehen hat.

    Im Wissen um die unstrittige Tatsache, dass es in diesem Konflikt schon längst keine unbescholtene Seite mehr gab oder jetzt gibt und ebensowenig eine auf der Hand liegende Lösung für die lange herangereiften und jetzt brennenden Probleme existiert, aber ebenso überzeugt davon, dass man jedes Unrecht auch Unrecht nennen können muss und dass man Partei ergreifen soll für das als richtig Erkannte, möchten wir mit unserer Initiative dazu ermutigen.

    Gewiss – es liegt nicht in unserer Macht, auf die aktuellen Entwicklungen direkt Einfluss zu nehmen. Das soll aber nicht dazu verleiten, zu schweigen und zu akzeptieren, dass, wie zunehmend beklagt wird, jedwede moralische Empörung letztendlich doch nur hilflos sei. Wir möchten mit unserer hier angekündigten Initiative unsere Stimme dafür einsetzen, dass eben nicht einfach vergessen wird, dass sich gewöhnt wird, dass weggeschaut wird. Deshalb bitten wir Menschen und Institutionen, sich nicht damit abfinden wollen, dass das Geschehen seit dem 7. Oktober zunehmend schweigend hingenommen wird, sondern dass das Leid, das es über unschuldige Menschen bringt, nicht vergessen wird, uns zu unterstützen und sich zu beteiligen an einem Format, das in elektronischer und analoger Form einer faktischen Collage, die aus Tagebucheinträgen Betroffener, Streiflichtern aus Politik, Geschichte und Literatur, auch aus Bildern besteht, die unseren Willen zum Ausdruck bringt, aktiv zu demonstrieren, dass ungeachtet der im Augenblick nicht erkennbaren Lösungswege eine Forderung unverrückbar im Raum steht, die allein die Grundlage einer letztendlich zu schaffenden Friedensordnung auch im Nahen Osten sein muss: Die Würde des Menschen, und zwar jene aller Menschen, ist unantastbar.

    G.D.