Kategorie: Deutsch

  • Yulis Tagebuch, Folge 1

    Yulis Tagebuch, Folge 1

    Trauma

    Ich bin traumatisiert. Um meine eigene unprofessionelle Diagnose zu verifizieren habe ich noch einmal an der Webseite des „American Psychological Association“ nachgeschaut und dementsprechend darf ich bestimmen, ich bin traumatisiert. 

    Ich bin physisch nicht verletzt. Einfach und viel schlimmer psychisch erschüttert von einem Ereignis, dass im Grunde nach 70 Tagen noch nicht vorbei ist. Selbstverständlich kann ich mich an alle Geschehen und Gefühle auf einmal nicht erinnern, und deshalb ist es unmöglich eine Art vollständige, und mit literarischen Worten, eine Story zu illustrieren. Jedenfalls ist das keine Story für Café-Gespräche.

    Vielmehr wünsche ich mit einfachen Worten den Schmerz zu reflektieren und vielleicht irgendwann… (klingt mir schon unrealistisch) kann ich irgendwie es angemessen wahrnehmen. 

    „Krieg“ heißt es in einem Wort. Hingegen gibt es nicht genug Worte, um ihre Implikationen zu beschreiben. Leid, Horror ist ein Bestandteil davon.

    Gerade macht es mir Angst, die Augen zu schließen. Vor allem nachdem die Bilder und die Gedanken durch den Kopf abschweifen. All das passiert immer nur wenige Sekunden bevor ich einschlafe. Dann wird die Nacht zum Morgen, und der Morgen beginnt mit einem ermüdenden Gefühl des Abends, und es wiederholt holt sich wieder und wieder. Die Angst, die Kontrolle über das Leben zu verlieren, macht es schwer zu arbeiten, zu freuen, und einfach so, zu atmen. 

    Meine Geschichte ist also unvollständig. Es wird rückblickend über ein Ereignis geschrieben, das in vielerlei Hinsicht nicht vorbei ist. Von Zeit zu Zeit fallen mir beim Schreiben weitere Details ein. Ich schreibe vielleicht nicht in der bestimmten Ordnung der Sachen, aber das ist das Trauma. Es drückt sich in einer fragmentierten Erinnerung an ein Ereignis aus, das schwer einzudämmen ist, und von Zeit zu Zeit greift das Unterbewusstsein an und bringt Details zum Vorschein, die ich unterdrückt habe. 

    Der 7. Oktober ist mein Geburtstag. Er erscheint normalerweise während der jüdischen Feiertage. Manchmal in Kippur. In diesem Jahr fiel der 7. Oktober auf Samstag, Schabbat und Simchat Tora, und zwar einen Tag vor dem Ende ihrer (ungefähr) dreiwöchigen Feiertage. 

    6. Oktober

    Am Freitag in der Frühe fuhr ich zu meinen Eltern, die in Netanya wohnen. Von dort ging ich mit meinem 5jährigen Sohn ins Konzert von Mergui im Barbie Club in Tel Aviv. Er wartete schon lange darauf, zu diesem Konzert zu gehen, und es hat mir genauso gut gefallen. Nach dem Konzert fuhren wir nach Kfar Saba, wo meine Schwester lebt. Zufällig ist der Geburtstag meiner Schwester am 9. November. Ich lachte mal darüber mit meinen deutschen Freunden, dass die Daten unserer Geburtstage die Geschichte der DDR formen.

    Von Kfar Saba aus gingen wir gemeinsam mit ihrem Sohn in ein japanisches Restaurant. Wir haben einen Toast ausgebracht, über den üblichen Unsinn geredet und auch ein bisschen über Politik. Wir wählen beide das Mitte-Links-Lager und für uns ist die soziale und wirtschaftliche Lage im Land schlimmer als

    je zuvor. Meine Schwester fragte mich: „Was ich mir zum Geburtstag wünsche?“ Ich antwortete ihr ehrlich: „Nichts.“ „Das beste Geschenk, das ich morgen bekommen werde, ist die Rückkehr zur Routine.“ Was mir aber fehlt ist der Mann den ich liebe. Aus vielen vernünftigen Gründen sind wir nicht zusammen, aber traurig bin ich trotzdem, und ich habe keine Lust darüber zu reden. 

    Um 21 Uhr kehrten wir mit zwei satten und müden Kindern nach Hause zurück. Wir übernachteten bei meinen Eltern. Es war doch Feiertag.

    Geburtstag

    Am Samstag, dem 7. Oktober wachte ich um 8 Uhr auf. Es ist war mein Geburtstag. „Glückwunsch Yuli! Ein Jahr älter. Hoffentlich bedeutet es für dich auch ein bisschen mehr Lebensweisheit.“

    Von hier an aber wird unser Leben nie wieder dasselbe sein. Es wird ein bewusstseinsverändernder Tag auf persönlicher, nationaler und Sicherheitsebene sein. Der Feiertag ist vorbei. 

    Etwas geblendet vom Licht des Telefondisplays las ich eine Push-Nachricht der Zeitung Haaretz, dass die israelische Regierung die Attacke als Kriegerklärung aufnimmt. Ich habe noch nicht ganz verstanden, worum es geht. Mein Vater ist wahrscheinlich in der Synagoge, wie an jeden Samstagmorgen.

    Draußen war alles so still. Keine Geräusche von (Krieg)-Flugzeugen. Es hat mich doch beruhigt. Ich stand auf und stellte den Fernseher an.

    In den Nachrichten 20 Ermordete in den Gaza-Envelope (Kibbuzim und Moschawim an der Grenze), aber die Geschehnisse waren mir noch nicht ganz klar. Für den Moderator anscheinend aber auch nicht. Trotzdem hatte ich schon das schlechte Gefühl, dass etwas ganz Schlimmes passiert. 

  • „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“

    (Mit diesem Satz beginnt Thomas Mann seine Joseph-Tetralogie.)

    Palästina ist das „Gelobte Land“, in das Moses die Kinder Israels auf Geheiß seines Gottes aus der Ägyptischen Gefangenschaft führte. Die Judenheit siedelte hier, bis der römische Kaiser Titus Vespasianus Jerusalem eroberte und den Tempel zerstörte; danach begann der Exodus. Nachdem ein jüdischer Aufstand unter Bar Kochba (132-135 n.Chr.) gegen die römische Kolonialmacht gescheitert war, durften Juden Jerusalem nicht mehr betreten.

    Zu Beginn des 7. Jhs. n. Chr. gründete Mohammed († 632) seine Religion; in relativ kurzer Zeit entstand ein islamisches Weltreich, das von Südspanien bis nach Indien reichte. Die einzelnen Teilreiche waren verhältnismäßig selbständig, aber die Einheit der arabischen Kultur wurde durch die gemeinsame Religion (den Islam) und Sprache (Arabisch – denn der Koran durfte nicht übersetzt werden) garantiert. In den 630er Jahren wurde Palästina von den Arabern besetzt (638 wurde Jerusalem erobert) und gehörte seitdem zum Arabischen Großreich.

    In dieser frühen Zeit waren die Araber gegenüber Andersgläubigen viel toleranter als die Christen: Sie wurden in ihrer Religionsausübung nicht behindert, mußten nur eine Sondersteuer zahlen. Zwischen Arabern und Juden entwickelte sich z. B. in Südspanien, wo es große jüdische Gemeinden gab, ein fruchtbarer kultureller Austausch: Die älteste spanische Lyrik, die Harğas, verdankt arabischen Einflüssen mehr als den Gedichten der okzitanischen Trobadors. Fast alle arabischen Herscher und Funktionäre hatten jüdische Ärzte, weil die besser ausgebildet waren als die arabischen.

    Vom Ende des 11. (Erster Kreuzzug 1096-1099) bis zum Ende des 13. (sechs weitere Kreuzzüge bis 1270) Jahrhunderts führten die europäischen Staaten, angeführt von Frankreich und Deutschland, eine Reihe von Eroberungskriegen gegen die Araber in Palästina unter dem Vorwand, die Sicherheit christlicher Pilger, die zum Heiligen Grab nach Jerusalem reisten, wäre nicht gewährleistet – daß es ein Vorwand war, zeigt sich schon daran, daß sich die Teilnehmer am vierten Kreuzzug (1202-1204) in der Adresse geirrt und statt Jerusalem das christliche, wenn auch griechisch-orthodoxe Konstantinopel erobert und geplündert haben. Am erfolgreichsten war der erste Kreuzzug, der zur Einnahme von Jerusalem und der Errichtung des „Lateinischen Königtums“ (Gottfried von Bouillon) führte, das mit der Rückeroberung der Stadt durch Sultan Saladin 1187 endete. 1291 verloren die „Lateiner“ ihren letzten Stützpunkt in Palästina und diese Episode in der Geschichte des Landes war beendet.

    In den Teilstaaten des islamischen Großreichs wechselten die Dynastien häufig, vom Prinzip der Toleranz gegenüber Andersgläubigen wurde aber nicht abgewichen. Jüdische Gemeinden in den europäischen Staaten hatten wechselvolle Schicksale: In Spanien herrschte seit dem 15. Jahrhundert katholischer Fanatismus, der 1492 zur Vertreibung der Juden führte (wenig später auch aus Portugal; viele gingen nach Konstantinopel). In vielen Ländern und Städten gab es Repressionen, Einschränkungen der Freizügigkeit, Berufsverbote, öffentliche Demütigungen, etc.etc. Erst seit Ende des aufgeklärten 18. Jahrhunderts setzte sich in den meisten Staaten langsam die Idee der „Emanzipation“ (Gleichberechtigung) der Juden durch. Die rechtliche Gleichstellung wurde in den fortschrittlichen Staaten im Laufe des 18. Jahrhunderts erreicht; in Rußland dagegen gab es häufig Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden. Als Reaktion darauf kam im 19. Jahrhundert die Idee der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina auf, die in der Judenheit durchaus kontrovers diskutiert wurde. Dafür konnte sprechen, daß die Juden niemals aufgehört haben, Palästina als ihre Heimat zu betrachten: Der traditionelle Gruß am Sedarabend und Versöhnungstag lautet: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“

    Das wichtige Buch von Theodor Herzl (Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1896) entstand unter dem Eindruck des Antisemitismus, der sich in Frankreich während der Affaire Dreyfus ausbreitete: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war aufgrund fadenscheiniger Beweise des Verrats militärischer Geheimnisse (gar so geheim waren sie übrigens gar nicht!) an Preußen für schuldig befunden, öffentlich degradiert und auf die IÎle du Diable, die „Teufelsinsel“ deportiert wurden. Als erste Zweifel an der Schuld des Verurteilten geäußert wurden, wertete die reaktionäre Rechte das als Angriff auf die Ehre der französischen Armee, die nach dem Debakel von 1870/71 wirklich keine weiteren Beschädigungen vertragen konnte.

    Antisemitische Pamphlete wie das verquaste 1210-Seiten-Werk (!) La France Juive von Édouard Drumont, das schon 1886 erschienen war, erhielten durch den Prozeß 1894 ungeahnte Aktualität. Die Diskussion wurde von den Verteidigern der Armee mit Schaum vor dem Mund geführt; Marcel Proust schildert (in Die Suche nach der verlorenen Zeit), wie der Streit über Schuld oder Unschuld von Dreyfus Familien entzweite und jahrzehntealte Freundschaften in die Brüche gehen ließ. Der Haß, der sich hier äußert, ist erschreckend; die Reaktion, mit diesen Zeitgenossen nicht länger Tür an Tür wohnen zu wollen, durchaus folgerichtig.

    Palästina war seit dem frühen 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Im Ersten Weltkrieg war die Türkei mit dem Deutschen Reich verbündet; nach Kriegsende wurde das Reich zerschlagen. Palästina wurde von britischen Truppen besetzt, 1920 erhielt Großbritannien ein Völkerbundsmandat für das Land.

    Die Voraussetzungen für die Gründung eines jüdischen Staates wären günstig gewesen, so scheint es: Am Ende des 19. Jahrhunderts war Palästina verhältnismäßig dünn besiedelt (von muslimischen Arabern, aber es gab jüdische und christliche Minderheiten), man sollte meinen, für eine jüdische Gemeinschaft hätte Platz sein müssen. Bereits 1917 hatte Großbritannien in der Balfour-Deklaration „die Gründung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ versprochen. Andererseits hat man versucht, die jüdische Einwanderung mit brachialer Gewalt so weit wie möglich einzuschränken, um die guten Beziehungen zur arabischen Welt nicht zu gefährden – hat sich niemand überlegt, daß man das dem ramponierten Nervenkostüm traumatisierter KZ-Insassen nicht zumuten kann? Und man dem arabischen Bevölkerungsteil Zusagen hinsichtlich seiner Unabhängigkeit gemacht, sie dann aber nicht eingehalten, womit auch auf der anderen Seite Ängste geschürt wurden. Es scheint, die Schlafwandler, die die Welt 1914 in die Katastrophe des Weltkriegs geführt hatten, waren immer noch nicht aufgewacht – und sie schlafen, wie Barbarossa im Kyffhäuser, noch immer!

    A.G.

  • 7. Oktober 2023

    Das grausame Massaker der HAMAS am 7. Oktober 2023 wird künftighin als ein singuläres Ereignis in das kollektive Gedächtnis eingehen. Die im Moment ihres ersten Erscheinens unfassbar erscheinenden Bilder und Berichte über die Greueltaten dieses Tages machten jeden Betrachter fassungslos – und das Entsetzen steigerte sich noch, als sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass das kein spontaner eruptiver Gewaltausbruch war, sondern jener einem eiskalt geplanten Kalkül entsprang: Durch unsere Zeugenschaft zusätzlich befeuert sollte der denkbar heftigste Flächenbrand entstehen, der eine ganze Region in den Abgrund zu reißen in der Lage sein würde.

    Gewiss – jeder aufmerksame Beobachter der jüngeren Geschichte und der derzeitigen Situation in dieser Region war sich darüber im klaren, dass hier ein Konfliktpotential schlummerte, dass jederzeit zu eskalieren in der Lage sein würde. Wohl nie hatten in Schwarz und Weiß unterscheidende Argumentationen hier eine wirkliche Überzeugungskraft besessen, verfehlten einfache Freund-Feind-Schemata die Wirklichkeit. Gerade deshalb war der Gedanke, durch Appelle und Diplomatie die vielgestaltigen Konfliktlinien unterhalb der Ebene eines Krieges immer wieder austarieren zu können, eine lange gehegte und – wie sich nun zeigte – trügerische Hoffnung.

    Nun, zwei Monate nach dem Gewaltexzess an der Grenze, die den Gaza-Streifen und Israel trennt, bestürzen uns die seither zu beobachtenden opferreichen Kampfhandlungen selbst mindestens ebenso, wie das Phänomen des Auflebens eines mörderischen Antisemitismus auch dort, wo man es noch vor kurzem für unmöglich gehalten hat. Dass seither, durchaus von verschiedenen Seiten, auch zum “Genozid” aufgerufen wird, ist ein im 21. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehaltener Rückfall in Denkmuster, die man allenfalls mit den Kreuzzügen verbindet und für die die mit dieser Vokabel belegten katastrophalen Verbrechen im 20. Jahrhundert eine beständige Warnung sein sollten.

    Die irritierend vielschichtigen Berichte aus der inzwischen faktisch weltweit geführten intellektuellen Diskussion über das “richtige” Urteilen und Verhalten in dieser Auseinandersetzung wühlen auf, während die täglichen Meldungen der Nachrichtenagenturen längst begonnen haben, dieses dramatische Geschehen mit der Umschreibung “Krieg” faktisch herunterzustufen –wiewohl das in Wirklichkeit eben kein Krieg ist, wie ihn die Geschichte schon viel zu oft gesehen hat.

    Im Wissen um die unstrittige Tatsache, dass es in diesem Konflikt schon längst keine unbescholtene Seite mehr gab oder jetzt gibt und ebensowenig eine auf der Hand liegende Lösung für die lange herangereiften und jetzt brennenden Probleme existiert, aber ebenso überzeugt davon, dass man jedes Unrecht auch Unrecht nennen können muss und dass man Partei ergreifen soll für das als richtig Erkannte, möchten wir mit unserer Initiative dazu ermutigen.

    Gewiss – es liegt nicht in unserer Macht, auf die aktuellen Entwicklungen direkt Einfluss zu nehmen. Das soll aber nicht dazu verleiten, zu schweigen und zu akzeptieren, dass, wie zunehmend beklagt wird, jedwede moralische Empörung letztendlich doch nur hilflos sei. Wir möchten mit unserer hier angekündigten Initiative unsere Stimme dafür einsetzen, dass eben nicht einfach vergessen wird, dass sich gewöhnt wird, dass weggeschaut wird. Deshalb bitten wir Menschen und Institutionen, sich nicht damit abfinden wollen, dass das Geschehen seit dem 7. Oktober zunehmend schweigend hingenommen wird, sondern dass das Leid, das es über unschuldige Menschen bringt, nicht vergessen wird, uns zu unterstützen und sich zu beteiligen an einem Format, das in elektronischer und analoger Form einer faktischen Collage, die aus Tagebucheinträgen Betroffener, Streiflichtern aus Politik, Geschichte und Literatur, auch aus Bildern besteht, die unseren Willen zum Ausdruck bringt, aktiv zu demonstrieren, dass ungeachtet der im Augenblick nicht erkennbaren Lösungswege eine Forderung unverrückbar im Raum steht, die allein die Grundlage einer letztendlich zu schaffenden Friedensordnung auch im Nahen Osten sein muss: Die Würde des Menschen, und zwar jene aller Menschen, ist unantastbar.

    G.D.