Vogue
Der November ist nun bald zu Ende, Chanukka steht vor der Tür. Aber das Lichterfest schien noch nie so weit entfernt wie jetzt und wir werden wahrscheinlich noch lange im Dunkeln tappen.
Ich schalte das Licht im Bad an und schaue mich im Spiegel ganz intensiv an. Die Haut ist in meinem Alter nicht mehr so straff und flexibel wie früher. Manchmal will ich Hyaluronsäure ins ganze Gesicht spritzen und eine hochwertige und luxuriöse Gesichtsbehandlung machen, ganz, wie es die Promis tun. Allerdings habe ich nicht das Geld dafür und, um ehrlich zu sein, ich habe noch nicht einmal den Mut, damit anzufangen. Vielleicht werde ich es eines Tages machen, wenn ich es doch wichtig und nötig finde.
Graues Haar, das ziemlich früh aufgetreten ist, hat sich längst überall ausgebreitet. Hmm … es wurde mir gerade klar, dass ich etwas tun muss, denn ich sehe irgendwie etwas vernachlässigt aus.
Um viertel nach Fünf kamen wir vom Krav Maga nach Hause zurück und um halb Fünf traf auch meine Mutter ein, so dass ich die Gelegenheit hatte, alleine rauszugehen. Auf dem Weg zum Auto rief ich meine Freundin Natalie an, die mir den Namen eines guten Friseurs in der Gegend nannte, also fuhr ich los. Die Autofahrt mit guter Musik hat mich schon in bessere Momente zurückversetzt. Aber bei dem Gedanken an etwas Pflege fühlte ich mich nun noch besser. Ich kam recht schnell an, aber die Parkplatzsuche entmutigte mich. Da die Menschen jetzt mehr Zeit zu Hause verbringen, sind die Parkplätze meist voll. Passend zu meinem allgemeinen Gefühl, habe ich mich nach 15 Minuten Suche mit meinem schwarzen und staubigen Auto zwischen zwei sehr saubere und neue Autos schieben können, irgendwie gelang es mir auch noch, auszusteigen.
Die Friseurin stand mit einer Vogue-Zigarette zwischen den Lippen da als ich eintrat und sprach mit einer Kundin. Da ich schon lange niemanden mehr in einem geschlossenen Raum rauchen sah, schon gar nicht in einem Friseursalon, bin ich für einen Augenblick in die Neunziger gereist. Ich wollte plötzlich weg, aber dann drehte sie sich zu mir um und fragte: „Was brauchst Du?“ worauf ich erwiderte „Ich möchte den Ansatz färben lassen“. „Heute geht es nicht mehr, sorry. Seit dem Krieg schließe ich nicht mehr so spät wie zuvor, meine Mitarbeiterinnen gingen schon um 16.00 Uhr nach Hause. Komm morgen früh halb Neun.“ Bevor ich überhaupt etwas überlegen konnte, sagte ich ihr: „Okay, danke!“ und ging wieder.
Ihre Antwort brachte mich von meiner kurzen Beschäftigung mit meinem Aussehen zurück in die schmerzhafte Realität. Es wurde mir deutlich, dass Angst jeden und alle Teile der Realität durchdringt und dass Unruhe überhand nimmt, selbst dann, wenn man versucht, ihr zu entkommen. Na ja, das ist nicht schlimm. Mich sieht sowieso niemand.
Zumindest bin ich ein bisschen mit dem Auto herumgefahren und habe ohne Unterbrechungen Musik gehört. Im Radio wird ständig über die Entführten gesprochen. Jede Stunde und jeden Tag spielt das Radio Lieder, die jeder von ihnen mag; Rocksongs, Klassiker, je nach Alter, Stil, je nachdem, woher er oder sie kommt. Jeder und ihre oder seine Geschichte. Denn es handelt sich ja um Menschen, nicht um „Entführte“. Und das muss erinnert und betont werden. Auf jeden Fall hervorragende Musik, die ich lange nicht mehr gehört habe und wie schrecklich halt die Umstände sind.
Die Freilassung von Geiseln ist in Israel zu einem „Media-Event“ geworden, ähnlich wie die Beerdigung von Prinzessin Diana oder die Friedensabkommen in der Vergangenheit. Wir bereiten uns gerade auf die Übertragung dieses Ereignisses vor. Das ist für niemanden von solchem Interesse wie für uns Israelis. In der überwiegenden Mehrheit der Länder wird darüber überhaupt nicht berichtet und wenn ja, dann nur ganz kurz.
Ja, das ist unsere Geschichte, und diese ist von unendlicher Sensibilität und Bedeutung geprägt. Das Geschehen bringt uns als Volk zurück in die Zeit, als wir nichts anderes als Glaube und Hoffnung
hatten und das Weiterleben von der Gnade anderer abhängig war. Heute Abend ist die fünfte Runde und der Waffenstillstand wurde um zwei Tage verlängert. Es ist noch nicht bekannt, wer freigelassen wird. Ich werde zuerst das Abendessen vorbereiten und erst dann, wenn mein Sohn ins Bett geht, schalte ich den Fernseher ein.