Yulis Tagebuch, Folge 2


7. Oktober 2023

Die Tochter meiner Schwester macht ihren Militärdienst an der Grenze zu Ägypten. Sie schreibt an die Familien WhatsApp-Gruppe: „Ich bin o.k., wir haben schon Westen bekommen.“

 „Westen?“ worüber redet sie? Es ist zu viel, um es so früh an einem Samstagmorgen aufzunehmen. Ich rief sie an, um die Nachrichten zu klären, aber sie ging nicht ans Handy…

Als mein Sohn aufwachte, gab ich ihm das iPad – was nie passiert – und bat ihn, nicht im Wohnzimmer zu sitzen. Ich wollte nicht, dass er fernsieht.

Mit jeder Minute sah das Bild noch katastrophaler aus. Die Zahl der Opfer ist über 100 gestiegen. Menschen aus den Kibbuzim riefen die Nachrichtenstudio an und baten um Hilfe. Eine schwangere Frau versteckte sich mit ihrer Tochter und bat den Reporter, jemanden zu schicken, der ihr hilft. Sie erzählte ihm, daß sie sich im Sicherheitszimmer versteckt und daß sie Schüsse hört und Rauch riecht. Sie hatte Angst.

In der Zwischenzeit wurden ununterbrochen Raketen auf Israel abgefeuert. An einem Tag 300 Raketen auf unser Land.

Ich stand auf, um die Tür abzuschließen, und ging mich anziehen. Das Tür- abschließen half aber den Familien in Süd-Israel nicht, die Terroristen haben die Türschlösser mit Bohrmaschinen zerstört und alle geschlachtet. Auch Babys. 

Gleichzeitig kamen Meldungen von dem Nova Musik Festival in Re‘im. Ein paar Jungen, denen es gelang, den automatischen Waffen der Terroristen zu entkommen und sich auf den Feldern zu verstecken, kontaktierten das Studio. Sie schilderten kurz die chaotische Situation, forderten sie auf, ihnen zu helfen, dass es Dutzende Terroristen mit Maschinenpistolen gäbe, die jeden ermordeten und vergewaltigen. Und der Reporter hörte zu und saß hilflos im Studio. 

Ich spürte, wie meine Muskeln, mein Kopf schmerzten und meine Atmung wurde schneller. Mein Vater kam von der Synagoge und saß vorm Fernseher. Keiner von uns hatte Appetit zum Frühstücken, und ein koscheres Shabbat wäre es auch nicht. Heute ist Krieg und der lehnt das Shabbat ab. 

Ich hatte mir etwas Wein eingeschenkt. Es ist erst 11 Uhr morgens. Ich konnte nicht erfassen, was nur anderthalb Stunden von meinem Eltern entfernt passiert. Gestern bin ich auch ausgegangen, um Musik zu genießen.

Nova Festival

Ein paar Minuten später trafen Terroristen auf der Party ein und schlachteten, vergewaltigten und verbrannten Menschen bei lebendigem Leibe, junge Menschen, die gerade noch bunt und fröhlich tanzten und das Leben feierten. Auf Social-Media sowie über die Kibbuzim und Moschawim WhatsApp-Gruppe gingen auch ständig Meldungen und Rufe um Hilfe von Menschen ein. Viele von denen aber antworteten nicht mehr an die Gruppen zurück. Es wurde noch bekannt gegeben, dass die Terroristen Körperkameras trugen und die Gräueltaten aufzeichneten. Wer bei Telegram eintrat, konnte auch live miterleben, wie die Familien und Jugendlichen brutal ermordet wurden. Die Monster trennten mit Messern und Beilen Körperteile von Kindern und Eltern ab und während diese vor Schmerzen schrieen und bluteten, saßen sie nebenbei zum frühstücken. Wenn das Essen alle war verbrannten sie das Haus mit den Menschen oder sie erschossen die ganze Familie. Und noch ein Haus, und noch eins… usw. Ich wagte es doch nicht, in eines der Netzwerke einzudringen. Ich wusste, dass ich zumindest für meinen Sohn vernünftig bleiben musste. Also habe ich nur auf der großen Leinwand geschaut.

Zur Mittagszeit fiel mir ein, dass ich meinen Sohn noch nichts zu essen gegeben hatte. Er war in das iPad vertieft und es störte ihn überhaupt nicht. Ich gab ihm zu essen und schaute gebannt wieder in den Fernseher. Das Ausmaß der Katastrophe wurde immer deutlicher, die Zahl der Ermordeten erreicht 400 und es besteht die Befürchtung, dass die Terroristen mit ihren Motorrädern zur Straße 4 aufbrechen, der gleichen Straße, über die sie nach Kfar Saba gelangen. Ich fange an zu überlegen, ob ich zu Hause irgendetwas habe, um uns zu schützen, und ich erinnere mich, dass ich nicht einmal Tränengas zur Selbstverteidigung gekauft habe. Die Terroristen eroberten Beeri und plünderten alles, was sie konnten. Sie erreichten aber mittlerweile u.a. die Städte Sderot, Ofakim und schossen auf Menschen auf den Straßen und in Häusern. Tausende Menschen sind verletzt. Tausende. „Wo ist die Armee? Wo ist die Polizei?“, fragen alle. Gleichfalls die Familien, die sich im Sicherheit Raum noch verstecken. Jeder für sich.

Mittlerweile haben die Terroristen das Polizeistation in Sderot übernommen. Viele Polizisten sind dort getötet worden. 

Ich denke mir, dass diese Lawine des Gemetzels nie ein Ende findet, ich selbst habe keinen Schutz. Jederzeit könnte auch mir etwas Schlimmes passieren. Langsam hatte ich das Gefühl, ich bekomme eine Panik Attacke.

Nova Festival ist zum Massaker Festival geworden. Die Musik spielt nicht mehr dort und nirgendwo mehr. Die Verbrennung der Ermordeten, wie die Gruppen brutal vergewaltigter Mädchen, die Vergewaltigungen haben sie fortgesetzt, auch nachdem sie die Mädchen erschossen haben, können, vielleicht, erklären, was dieses ungeheuerliche monströse Übel bedeutet.

Gerade kann ich wenig darüberschreiben. Aber es kommt noch langsam. 

Als der TV-Moderator Mittag bei mehr Leuten zurück anrief, gingen sie auch nicht mehr ans Telefon. Weitere Berichte über getötete Soldaten in Kämpfen gegen die Terroristen, über entführte Kinder und Babys, über die toten Jungen im Festival. Die Informationen fließen.

Um zwölf Uhr überbrachte Ministerpräsident Binyamin Netanjahu eine zuvor aufgezeichnete Botschaft, die ebenfalls bedeutungslos war, wie seine Besondere Ankündigung am Abend. 

Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und der Akku des iPads hatte Zeit, leer zu werden und sich wieder aufzuladen. Ich musste mein Kind zum Schlafen bringen und vielleicht etwas essen. Er sollte diese Nacht besser in meinem Bett schlafen. Ich überprüfe noch einmal, ob die Tür verschlossen ist. Ich habe Angst Auto zu fahren. Die Straßen sind leer von Autos oder Menschen. Ich entscheide, bei meinen Eltern zu bleiben. Mein Kopf schmerzt.