Freunde
Die Stille auf der Straße hat uns dazu gebracht, die 50 Meter zwischen den Häusern schnell zu laufen. Die Kinder freuten sich darüber, sich wiederzusehen und das Geräusch des fröhlichen Lachens erwärmte und entspannte meinen ganzen Körper. In dem Augenblick war es uns egal, was die Kinder machten, alles war ihnen erlaubt. Sie sind laut – es stört uns nicht. Sie wollen Süßigkeiten? – kein Problem. Als wir klein waren, haben wir auch viel Mist gegessen und uns ist nichts passiert. Xbox spielen – Spiele zählen nicht als Bildschirmzeit, da sie die Kreativität stark fördern. Auch der Hund feierte mit und leckte noch die leeren Packungen auf dem Tisch aus. Ich weiß nicht, ob man das Gefühl richtig beschreiben kann, aber es war die Vergebung, des Verlangens auf mehr von den kleinen Dingen im Leben.
Der Fernseher war nicht aus, aber er war im Stumm-Modus. Es war genauso der Zustand der Wachsamkeit neben dem Bedürfnis zu entspannen.
Natalie ist in der Küche und ich sitze auf dem Balkon. Ich habe keine Lust mich über die Geschehnisse zu unterhalten. Ich wollte für einen Moment abschalten. Trotzdem hob ich von Zeit zu Zeit meinen Kopf, um die Schlagzeilen im Fernsehen zu lesen, und dann scrollte ich weiter auf Instagram. Natalie kam mit einem Tablett voller Leckereien raus, ich stand auf, um die Kaffeetassen zu holen und ihr bei dem Rest zu helfen. Heutzutage ist es unvermeidlich, die ganze Zeit zu essen.
Stellt Euch vor, wir sind zu Hause verschlossen, schlecht gelaunt, nervös, und meist hilflos. Dementsprechend gibt es in jedem Haus viel „Aktivität“ rund um den Kühlschrank. Süß, salzig und generell Kohlenhydrate sind der Depression bester Freund, ihr wisst es auch.
„Wann fährst du nach Haifa zurück?“ – „Heute noch. Ich wollte euch erst treffen und die Kinder ein bisschen spielen lassen. Ich habe noch ein paar Sachen einzupacken und dann fahren wir zurück.“ „Sag mal, wie läuft es mit dem Mann?“ Für einen Moment habe ich mich verschluckt. „Ich weiß nicht, murmelte ich. Er schreibt manchmal, aber es geht nirgendwo.“ Plötzlich wurde es mir klar, wie tief die Wunde war. Aber ich konnte mich mit meinen eigenen Emotionen nicht konfrontieren, weil ich immer noch von den Ereignissen traumatisiert bin. In meinem Leben fühlt es sich gerade an, wie mit einem Mund voller Wasser, Luft zu schnappen.
Ich bin die ganze Zeit mit meinem Sohn beschäftigt. Er hat Albträume in der Nacht, und er weint wieder so oft. Er hat Angst, aber er weigert sich offen mit mir darüber zu reden. Deshalb versuche ich soweit wie möglich eine Atmosphäre der Normalität zu schaffen, währenddessen mein Inneres aber chaotisch bleibt. „Ich habe weder die Lust noch die Zeit über ihn nachzudenken“, so kurz wie möglich habe ich das Thema zusammengefasst.
Die gemeinsame Zeit verging so schnell. Immerhin haben wir es geschafft, ein wenig zu lachen. Die Kinder hatten viel Spaß und wie zuvor, waren sie glücklich wieder zusammen zu spielen. Plötzlich verspürte ich den Drang, nach Haifa zu gehen, ich fühlte mich gut. Bevor wir uns verabschieden, schaute ich noch einmal auf dem Fernseher. Um 14 Uhr, als im Norden Sirenen gemeldet wurden, hat mich das nicht abgeschreckt, denn im Norden wie im Süden sind die Menschen daran gewöhnt. Aber um 17 Uhr wurden die Bewohner des Nordens aufgefordert, sich in ihren Häusern einzuschließen. Natalie schaut mich an. „Du wirst jetzt nicht nach Haifa gehen, oder? Es handelte sich nicht allein um einen Raketenangriff, sondern zusätzlich um eine terroristische Infiltration 29 Kilometer von Haifa entfernt. Sie bitten die Bewohner zu Hause zu bleiben.“ „Ich weiß, Natalie. Ich kann die Schlagzeilen lesen. Bitte stresst mich nicht damit, denn ich bin bereit nach Hause zu fahren.“ – „Vielleicht sollst du es noch einmal erwägen.“
Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich beschließe, die Entscheidung bei meinen Eltern zu treffen. Verdammt, warum bin ich nicht in der Schweiz geboren? Warum müssen wir und unsere Kinder in Israel lebenslang Krieg haben? Verdammt!
Yasmin Muallem: Yom Kipur