Yulis Tagebuch, Folge 4


Krieg um die Heimat, Kampf um das Zuhause

Heute ist Sonntag, der 8. Oktober. Der erste Tag nach den Feiertagen, und noch ist alles geschlossen. Auch die Schulen. Routine ist das einzige, was ich mir eigentlich zum Geburtstag gewünscht hatte, statt dessen ist die Gegenwart über Nacht zum Albtraum geworden.

Die Straßen sind leer, draußen ist es vollkommen ruhig. Man hört kein einziges Auto, nicht mal die Müllwagen. Man könnte es für einen ganz normalen Sonntag halten, wäre da nicht jene bedrückende Stille. Es ist keine Ruhe eines Feiertages, es ist die Stille des Krieges. Denn in mir ist alles sehr sehr laut und chaotisch, mir geht es nicht gut. Jetzt kann man, noch weit entfernt, Geräusche von Kriegsflugzeugen hören.

Mitten in der Nacht, als ich und die meisten Menschen in der Welt in ihren Betten schliefen, müssen Menschen in den Kibbuzim darum bangen, dass ihnen gelingt, die Tür des Sicherheitsraumes geschlossen zu halten. Es sind dort mehr als 24 Stunden entsetzlich langsam vergangen, der Rauch, die Schüsse und Explosionen sind hinter den Türen noch zu hören und zu riechen. Die Stärksten in den Familien hielten die Tür fest verschlossen, hoffend, dass ihnen so Schutz gewährt bleibt. In Einigen Räumen nahm der Sauerstoff ab, so dass sogar die Kerzen nicht mehr brennen konnten.

Manche Familien haben weniger Glück. Die Terroristen haben ihre Häuser mit den Menschen darin niedergebrannt. Versuchten sie zu entkommen, wurde geschossen; nicht wenige Schwerverletzte versuchten, sich in Sicherheitsräume zu retten. Dort verbluteten viele von ihnen, obwohl die Familie oder Freunde noch zu helfen versuchten. Aber oft gab es in den Räumen nicht genug Verbandsstoff und nach ein paar Stunden oder am nächsten Tag starben diese Verwundeten neben den geliebten Menschen.

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Die Dunkelheit im Raum und der Durst wurden zudem immer unerträglicher, besonders für Kinder und alte kranke Menschen. 40 Babys sind allein an einem Tag ermordet worden, und so viele andere Menschen fanden auf ganz verschiedene Art und Weise schließlich den Tod.

Die Briefkästen von Nir-Oz – hier eine Aufnahme vom 10. November – können wahrscheinlich besser als alle Beschreibungen die Tragödie in einem Kibbuz allein illustrieren. Die schwarzen Zettel stehen für entführte Menschen, die roten Zetteln weisen auf getötete Menschen hin.

(Nir-Oz Briefkasten) Kredit: Erez Cohen, Fotograf in Kan-TV 

Am Morgen des 8. Oktober lautete die Schlagzeile in den Zeitungen und überall im Internet „Krieg um das Zuhause“, diese vier Worte dominieren die Titelseite. Tatsächlich erleben wir jetzt nicht schlechthin einen Krieg um die Heimat, sondern den Kampf um unser Zuhause, um unsere persönliche und private Sphäre, in die die Terroristen brutal eingedrungen sind. Mit der Schilderung der kaum zu ertragenden Erfahrungen, die ich sammele und verarbeiten muss – und ihr müsst mir dazu noch ein wenig Zeit geben – sollte man den Kampf um die Heimat von jenem um das Zuhause unterscheiden können.

Die durch Hamas-Terroristen ausgelösten Explosionen von Bussen, wie wir sie während der zweiten Intifada erlebten, sind meiner Meinung nach nicht vergleichbar mit dem gegenwärtigen Terror. Die damaligen Terroristen aus Gaza waren keine echten Krieger. Oft waren sie nur hasserfüllte Handlanger, die von der Hamas für politische Ziele ausgenutzt wurden. Sie haben sich für 72 Jungfrauen im Himmel und für Geld für ihre Familien zu Selbstmordanschlägen oder andere Morde animieren lassen. Diese Art von Terror war anders als jener der gegenwärtigen Terroristen. Und obgleich beide der blanke Horror sind, finde ich die jetzigen Terroristen aus Gaza mehr der Abteilung der professionell-psychopathischen Mörder zugehörig.

Sie drangen in den privaten Bereich ein und haben ganze Familien ermordet, auch Kinder. Kleine Kinder und Babys neben ihren Eltern. Sie verstümmelten die Körper der Kinder im Namen … im Namen des Hasses. Im Namen der Sinnlosigkeit, im Namen des Wahnsinns, im Namen des Nichts! 

Sie waren trainiert und bewaffnet wie Soldaten, aber haben sich verhalten wie die niedrigsten Barbaren. Darüber hinaus hat die Hamas seit 2006 politisches, soziales und ökonomisches Gewicht gewonnen. Ein jährliches Budget von zwei Milliarden Dollar, über 10.000 Raketen verschiedener Reichweite, 3000 Kommandeure und über 20.000 Soldaten sprechen eine deutliche Sprache. Am 7. Oktober zeigte die Hamas die Fähigkeiten dieser kleinen Armee, die viel mehr als eine Terrororganisation ist. Dabei gehört auch eine Einheit, die dank ihrer Qualifikation im Umgang mit den modernen Medien im Bereich Bewusstseinskrieg die ganze Zeit überaus aktiv war.

In diesem asymmetrischen Krieg begreifen es die Führung und die Mitstreiter der Hamas sehr wohl, dass die Vergeltungsmaßnahmen der IDF (Israel Defense Forces) verheerende Folgen für sie haben werden. Und trotzdem sind sie bereit, alles zu opfern, was die Organisation erreicht hat – ihre Zivilisten, Katars Geldkoffer, das Geld aus Europa. Sie sind dazu bereit, nicht weil sie etwa nicht korrupt wären, sondern weil ihr Fanatismus größer ist, als man verstehen kann.

(Tägliche Zeitung: Yedioth Ahronoth, 8.10.2023)