Jom Kippur (Teil 2)
Die erste Explosion war überraschend, aber es war noch unklar, ob „es das war“, denn die Sirenen waren still geblieben. Es hatte sich einfach nach einer entfernten Explosion angehört. Mein Sohn stand ein paar Meter von mir entfernt, und ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich ihm den Spaß verderben und ihn in diesem Moment nach Hause bringen sollte.
Ihr müsst verstehen, dass wir in jeder Woche mehrfach Explosionen hören, auch wenn es zuvor keinen Alarm gibt, so daß es für uns seit dem 7. Oktober nicht ungewöhnlich war. Dennoch, inmitten so vieler Menschen zu sein und die Sorge, dass jetzt alle sofort loslaufen würden, sobald der Alarm losgeht … Ich stand also auf, nahm das Fahrrad und ging in seine Richtung.
Bevor ich etwas sagen konnte, ertönte die zweite Explosion. Ich gab ihm das Fahrrad, wir verabschiedeten uns von dem Freund und seinen Eltern (ich wollte nicht hysterisch reagieren) und sagte ihm: „Jetzt fährst Du mit dem Rad nach Hause.“ Die dritte Explosion ereignete sich in dem Moment, als er sich auf sein Fahrrad setzte. Jetzt zerstreuten sich alle schnell, auch wir beeilten uns. Es waren nur wenige Minuten zwischen den Explosionen, und es ist sehr schwierig, zu erkennen, woher sie kamen. Aus dem Norden oder dem Süden?
Raketenexplosionen über dem Meer kann man sehen, aber die Explosionen der ballistischen Raketen erfolgen in großer Höhe und sind normalerweise weniger sichtbar.
Insgesamt wurden am Freitag und Samstag von Jom Kipur 440 Raketen aus Libanon nach Israel abgefeuert. Das schöne Galiläa im Norden des Landes wurde von morgens bis abends bombardiert, auch Haifa, die Gegend, wo unsere Verwandten wohnen, wo wir im August Annabel zum Geburtstag besucht hatten. Aus Gaza wurden ebenfalls am Jom Kippur Raketen abgefeuert, die Ashkelon treffen sollten. Und Drohnen, die sehr schwer abzufangen sind, schaffen es, in Häuser, Militärbasen usw. einzudringen und dort zu explodieren. Eine Million Menschen, ob sie fasten oder nicht, fanden sich am Jom Kippur im Schutzraum wieder.
Ich schalte am Jom Kippur nie das Telefon an. Für 25 Stunden bin ich von allen elektrischen Geräten separiert. Manchmal passiert es am Jom Kippur doch, dass ich das Licht aus Gewohnheit ein- oder ausschalte. Ich lasse das Licht an ein paar Stellen an, damit es nicht zu dunkel in der Wohnung wird, und stehe dann vor dem Dilemma, ob ich es wieder gänzlich einschalte oder einfach ausgeschaltet lassen soll.
Diesmal konnte ich dem Stress und der Sorge nicht widerstehen. Zuhause angekommen, tippte ich auf den Bildschirm des iPhones, um zu sehen, was passiert war und wie es sein konnte, dass es solche Explosionen gab und zuvor keinen Alarm. Dann sah ich, dass die Raketen aus dem Libanon ein Altenheim in Herzliya und die Stromversorgung der Stadt getroffen hatten. Herzliya ist etwa 10 bis 15 km von hier entfernt, daher gab es keinen Alarm, aber die Raketen flogen über unseren Köpfen, auch die, die abgefangen wurden.
Am Jom Kippur können wir wenigstens ohne Ablenkungen über alles reden. Hauptsache, wir sind zusammen. Und falls ich mein Kind schnell aufheben und mit ihm ins Treppenhaus oder nach unten laufen müsste, finde ich es eine gute Idee, dass es in meinem Bett schläft.
Der nächste Tag ist immer viel schwieriger. Ich bereite meinem Sohn Frühstück und gehe zurück ins Bett. Nichts wartet auf mich außer der Zeitung von gestern. Zeitschriften, die ich für Jom Kippur gekauft habe, die voller Rezepte für das bevorstehende Sukkot-Fest sind und mich das Hungergefühl viel mehr spüren lassen. Noch bevor ich etwas sagte, sah ich ihn schon mit dem iPad, wie er seine Lieblingssendungen schaute. Ich sagte ihm, dass es Jom Kippur ist, man dürfe am Jom Kippur nicht fernsehen oder sich mit dem iPad beschäftigen etc.
Jedoch, etwas in meiner schwachen und müden Stimme überzeugte ihn nicht, er schaute weiter sein iPad an und ich kehrte mit den Zeitschriften ins Bett zurück. Irgendwann schlief ich ein und als ich aufwachte, war es kurz vor 12.00 Uhr. Ich wusste, daß er noch bei dem iPad war. Ich stand auf mit einem riesigen Kopfschmerz: „Nachmittags gehen wir zur Synagoge. Hörst Du mir zu? Fahr mit dem Fahrrad zur Synagoge. Wir gehen, um das Ne’ilah-Gebet und den Schofar-Hornstoß zu hören. Gibt mir das iPad, bitte, und komm in die Küche, ich mach Dir was zu essen.“
Irgendwie verging die Zeit ziemlich schnell. Nach dem Mittagessen und den Nachmittagssnacks gingen wir, es war etwa 17.00 Uhr , zur Synagoge. Ich fühlte mich ziemlich gut, verspürte keine Schwäche, auch nicht nach einem halbstündigen Spaziergang. Ich versuchte, möglichst schnell zu gehen, denn ich befürchtete, dass wir auf dem Weg von Alarmsirenen überrascht werden könnten, aber jetzt verstärkte jeder Schritt meinen Kopfschmerz. In der Synagoge betete ich, daß alles gut wird, daß ein Wunder geschieht, daß das Licht kommt, für uns und die ganze Welt. Denn das Leid ist eine Kugel, die immer weiter rollt und mit der Zeit allen Richtungen wächst.
Der Schofar heult am Ende des Ne’ilah-Gebets, und der Himmel schloß sich. Noch bevor wir nach Hause zurückkehrten, war die Straße bereits voller Autos, als wäre nichts geschehen. Nach dem Kaffee hatte ich keine Lust mehr zu essen, außer ein paar Keksen, und so saß ich bis ein Uhr nachts am Computer und arbeitete.