Yulis Tagebuch, Folge 62


Anne Frank mit Kufiya

Am späten Samstagmorgen ruft mich meine Schwester an und ihre Stimme klingt dramatisch: „Hast Du gehört?“, „Was meinst Du? Also, wahrscheinlich nicht. Was ist passiert?“, „Prima. Euch ist mein Leben einfach unwichtig.“ Ich war inmitten einer Ausarbeitung, musste jetzt meine Gedanken neu ordnen.

„Komm schon, erzähl, was passiert ist.“, „Hast Du nicht gehört, daß eine Rakete ein Wohnhaus in Tira getroffen hat und 19 Menschen verletzt wurden?“, „Nein! Wirklich?! Ich habe davon nichts gehört. Wo genau ist Tira?“, „Was meinst Du, wo ist es? Von hier aus sind es nur fünf Minuten! Es liegt in der Nähe von Kfar Saba!“

Tatsächlich ist Tira eine muslimisch-sunnitisch-arabische Stadt im Zentrum des Landes, aber ich wusste nicht genau, wo es liegt. „Das ganze Haus wurde mitten der Nacht von der Explosion erschüttert!“, „Oh, nein, davon haben wir nichts gehört, Gott sei Dank, daß Euch nichts passiert ist. Ich werde die Push- Nachrichten einschalten. Ich habe diese Nachricht wahrscheinlich verpasst.“

An diesem Wochenende traf ein Schwarm UAVs in Richtung Israel ein, 40 Minuten nördlich von uns gab es fast eine Stunde lang Sirenen, Tote, Verletzte und Explosionen, ab sechs Uhr morgens ununterbrochen. Also, die Explosion in Tira geschah in der Nacht und wurde wahrscheinlich aufgrund der Ereignisse einige Stunden später schon aus den Nachrichten verdrängt. Es kommen derlei Informationen ständig aus allen Richtungen und es ist schwierig, jede Nachricht zu verfolgen.

Meine Schwester ist Pianistin und Musiktherapeutin. Sie ist normalerweise ziemlich ruhig, aber das letzte Jahr hat es auch geschafft, sie aufzurütteln. Sie hat im Moment extrem viel Arbeit mit traumatisierten Kindern, brauchte eigentlich selbst eine Therapie. Die Lage ist nahezu unerträglich: Ein souveränes Land, das von Terroristen mit Langstreckenraketen bombardiert wird, Terror-Organisationen mit einem Waffenarsenal, das größer ist als das mehrerer europäischer Länder, seit fast 400 Tagen 101 Entführte in Gaza und deren Familien, die seither an jedem Tag für die Rückkehr ihrer Kinder protestierend auf die Straße gehen. Gleichzeitig befinden wir uns als Israelis ständig in einer Art Verteidigungsposition gegenüber dem Westen, der systematisch einseitig ist und sich fast ausschließlich damit beschäftigt, „wie schrecklich es ist, was den Zivilisten in Gaza und im Libanon widerfährt

Also, wir möchten nur noch einmal erklären, daß wir diesen Krieg nicht begonnen haben. Tatsächlich schliefen wir am 7. Oktober um 6 Uhr morgens noch, als die Monster aus Gaza und aus dem Libanon mit der Unterstützung des Iran beschlossen, uns das Leben zur Hölle zu machen, uns finanziell zu zerstören und in einen verheerenden Abnutzungskrieg zu verwickeln. Und was sind die Konsequenzen?

Anstieg des Antisemitismus in westlichen Ländern, der an Deutschland in den 1930er Jahren erinnert. Schauen Sie sich an, was in Irland passiert, wo die Regierung Güter von Juden oder Israelis aus Judäa und Samaria boykottiert und denen, die Waren von dort kaufen, mit fünf Jahren Gefängnis droht. Oder Norwegen, wo sich die Medien am 7. Oktober mit der Lage in Gaza beschäftigten was dagegen in Israel passiert, nur am Rand der Nachrichten erwähnt wurde.

Akademiker und Wissenschaftler in allen Bereichen erhalten immer weniger Kooperationsangebote. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie links sind oder nicht – die bloße Tatsache, daß sie Israelis sind, reicht aus, um sie nicht einzuladen oder gar auszuladen.
Der Bruder meines Freundes zum Beispiel ist Professor für Politikwissenschaft und Experte für Terrorismus an einem College in der Nähe von New York. Mein Freund erzählt mir: „Sie wollen ihn dort loswerden, wissen einfach nicht wie, also tun sie alles, um ihn aus eigenem Antrieb zum Kündigen zu bringen.“

Seit dem 7. Oktober erhalten Israelis, wenn sie bei Amazon oder Ali Express bestellen, beschädigte, zerrissene Produkte oder Zettel in den Paketen mit „Free Palestine“. Es ist mir passiert, dass ich bei Amazon bestellt habe und nach ein paar Tagen eine Nachricht über die Stornierung einer Transaktion erhalten habe, eine Bestellung, die ich nicht storniert habe. Letztendlich musste ich das gleiche Produkt dreimal bestellen, bis ich es erhielt.

Und wo ist das Baby seit mehr als einem Jahr? Wo ist seine Mutter? Wo ist der süße Junge mit den orangefarbenen Haaren, der in Gefangenschaft seinen fünften Geburtstag „gefeiert“ hat? Inzwischen sind die Geiseln immer noch in Gaza gefangen, der Iran plant den dritten Angriff (der dritte oder doch schon der vierte? – ich zähle nicht mehr) und droht nun mit einem noch tödlicheren Angriff.

Ich warte und hoffe nur, dass es bald passiert, denn ich warte nicht gern.

„Ein Wandgemälde von Anne Frank mit einem Kufiya in Bergen, Norwegen, gemalt vom anonymen Künstler Töddel, Juli 2024 (Fotokredit: Mit freundlicher Genehmigung von Töddel)“
Es wurde auf „The Times of Israel“ veröffentlicht am 26.7.24. https://www.timesofisrael.com/graffiti-in-norway-of-anne-frank-wearing-a-keffiyeh-sparks-outrage/