Yulia Tagebuch, Folge 47


Im Nin’alu

Während ich auf die angekündigte Reaktion neuerlicher Angriffe an allen Fronten – oder vielleicht doch alternativ die Freilassung der Entführten? – warte, sehe ich im Fernsehen Filme von den zurückliegenden Gefangenen-Austauschen im November und Dezember des Vorjahres. Sie lösen die zwiespältigsten Gefühle aus – wir sind so macht- und hilflos,  abhängig von all dem, was in Doha entschieden wird … 

Unter den damals Zurückgekehrten waren Maya und Itay Regev. Besonders an Maya wird man sich erinnern, die, auf Krücken gestützt, die ganze Hilflosigkeit verkörperte. Ihre Geschichte wurde erst Monate nach der
Heimkehr, in der Rehabilitation erzählt. Maya und Itay Regev waren erst
am 6. Oktober von einem Familienurlaub in Mexiko kommend in Israel
angekommen. Die Geschwister fuhren direkt von Flughafen zum Musikfestival und trafen nur Stunden vor dem Überfall dort ein. Beiden
wurde in die Beine geschossen, so daß ein Entkommen unmöglich war. Zusammen mit ihrem Freund Omer wurden sie in ein Auto gezwungen, das
sie nach Gaza brachte. Dort brach Maya vor Schmerzen zusammen, bekam ein Medikament, was nicht half  und verlor immer mehr Blut. Schließlich ohnmächtig, wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Beim Aufwachen spürte sie, dass ihr Knöchel merkwürdig verbunden war – aber, sie lebte … 
Heute, nach Monaten der Rehabilitation in Israel, kann Maya noch immer
nicht auf ihren Füßen stehen. Dennoch ungeachtet dessen, kämpft sie mit aller Kraft für diejenigen, die noch immer in der Hand der Terroristen
sind und tut, was in ihren Kräften steht, um die Entscheidungsfinder zu beeinflussen. Am 2. April sprach Maya in der Knesseth, um dort den Schrei all jener Mädchen und Jungen, die in der Gefangenschaft gequält werden, hörbar zu machen. 

Im Film erzählt Maya von den Methoden der Terroristen, ihr Schmerzen
zuzufügen: „Manchmal nahmen sie Chlor, Alkohol oder Apfelessig und pressten diese Flüssigkeiten in die Schußwunden“. Um sie ruhigzustellen, gab man ihr intravenös Ketamin oder Pethidin. Schon bald bildete sich im Bein Osteomyelitis. Die Rehabilitation hier ist anstrengend, hart und schon manchmal hat Maya Amputationen erwogen, weil sie die Behandlungen ungeheuer anstrengen und erschöpfen. Vielleicht, so der Gedanke, geht es mit einer Prothese leichter …
In einer späteren Aktion wurde Mayas achtzehnjähriger Bruder Itai
endlich freigelassen, gemeinsam mit fünf Kindern und sieben Frauen. Und für zwei Entführte russischer Herkunft, wohl eine Konzession an Wladimir Putin, ging die Zeit als Geiseln zu Ende. In jenem Moment kehrten auch
Menschen zurück, die in der Gefangenschaft von ihren Angehörigen getrennt worden waren. Etwa Raya Rotem (54), die lange zusammen mit
ihrer Tochter festgehalten wurde. Zwei Tage vor der Freilassung ihrer Tochter Hila verlor sie die Verbindung zu ihr. Nun kehrte auch die Mutter nachhause zurück.

Raz Ben-Ami (47) war nachts, im Pyjama, gemeinsam mit ihrem Mann entführt worden. Sie leidet an Krebs, befindet sich in einem schwierigen
geistigen und körperlichen Zustand. Ihre Rettung aus den Händen der Terroristen ist umso wichtiger, da sie in dieser Zeit weder die notwendige medizinische Behandlungen noch Linderung aller damit verbundenen Schmerzen erfahren hat. Yarden Roman-Gat aus Be’eri (36) war gemeinsam mit ihrem Mann und dem
Baby entführt worden. Kurz vor Gaza gelang dem Vater mit dem Kind auf dem Arm die Flucht. Jetzt kehrte auch Yarden zurück. Liat Beinin- Atzili
(49), eine gebürtige Amerikanerin und heute Leiterin in Yad Vashem, lebt im Kibbutz Nir-Oz. Ihr Mann ist am 7. Oktober ermordet worden. 

Ariel Bibas verbrachte seinen 5. Geburtstag in den Händen der Hamas (Quelle: Comunideades Plus)

Von einem ähnlichen Schicksal wie jenem von Maya und Itay Regev ist hier
zu berichten: Auch Moran Stella Yanai (40) befand sich noch am 6. Oktober 2023 im Urlaub in Thailand. Sie fuhr am 7. Oktober zum Festival und wurde verschleppt, genau wie Liam Or (18), der im Kibbuz Re’im lebt. 

Er ist der Cousin von Alma und Noam Or, die gleichfalls entführt waren
und inzwischen zurückgekehrt sind. Der 17 Jahre alte Ofir Engel, dessen Heimat der Kibbuz Ramat Rachel ist, wurde aus Be’eri verschleppt, wo er
gemeinsam mit seiner Freundin Yuval die Feiertage verbrachte. Auch Yuvals Vater befindet sich noch heute in den Händen der Terroristen, ebenso wie Amit Shani (16) und Gali Tarshansky (13) aus Be’eri. Gali hatte sich zu Hause mit ihrem Bruder im Sicherheitsraum versteckt. 

Während Terroristen versuchten, dessen Tür aufzubrechen, flüchteten
beide durch das Fenster und trennten sich auf der Flucht. Lior wurde ermordet, Gali nach Gaza entführt. 

Besonders erwähnenswert in diesen Tagen ist: Erneut sind zwei Frauen,
die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, in die Freiheit entlassen worden: Irina Tetti (73) und ihre Tochter Yelena Trufanova (50). Die gesamte Familie war im Kibbuz Nir-Oz zu Hause. Irenas Mann Vitali war
noch am 7. Oktober ermordet worden, der Sohn Sasha ist unverändert in den Händen der Terroristen. 

Nicht alle, die die schreckliche Zeit in Gaza überlebt haben und zurückkehren durften, möchten über das Erlebte sprechen, manche von ihnen sind auch gebrochen und nicht mehr wirklich auskunftsfähig. Es
bestätigt sich erneut, das manchen Menschen das Erzählen über die zurückliegenden Geschehnisse deren Bewältigung erleichtert oder auch nur
zu ermöglichen beginnt, aber andere dies nicht vermögen, insbesondere jene, deren Verwandte oder Freunde getötet wurden, sich in Gefangenschaft befinden, die ihr niedergebranntes Haus sehen müssen oder den verwüsteten Kibbuz.

Solch Trauma nach einer Zeit in der Gewalt von Terroristen bringt ihre
gesamte Welt zum Einsturz und sie bedürfen dringend der Hilfe. Aber viele Familien in Israel klagen, daß diese Hilfe und Unterstützung
unzureichend ist und dringend der Intensivierung bedarf. In solcher Situation geht das israelische Parlament für drei Monate – drei Monate –
in die Ferien. Das macht mich sprachlos. 

Am 28. November 2023, kurz vor dem sechsten Mal der Rückkehr von einigen
Geiseln, veröffentlichte der israelische DJ Skazi einen emotional aufwühlenden Film auf seinem Facebook-Konto. Er war nach Re’im gefahren, jenem Ort, an dem das Nova-Festival stattgefunden hatte. Auf dem Feld um ihn herum waren viele Bilder von Ermordeten des Terrors gruppiert, und er ging still zum Pult und legte für sie auf.
Der Gesang von Ofra Haza  Im Nin’alu  geht zu Herzen, es heißt hier: 

Wenn es keine Gnade mehr auf der Welt gibt, die Türen des Himmels werden niemals verschlossen sein. Der Schöpfer herrscht über alles und ist höher als die Engel, alle werden in seinem Geist auferstehen!“ 

Glaubt mir, Ihr müsst dieses Video sehen!