Yulis Tagebuch, Folge 3


Erste Nacht und tausende Gedanken

Mein Sohn ist schon längst eingeschlafen, aber ich kann es nicht. Der Gedanke, daß sich vielleicht israelische Araber, die unter uns leben, dazu entschließen werden, sich dem Massaker anzuschließen, stresst mich sehr und ich verfolge die Nachrichten am Handy. Solche Gedanken sind keine Phantasie, aber eine sehr traurige realistische Möglichkeit in Israel. Das ist schon passiert während der zweiten Intifada (2000-2005), und viel schlimmer im Jahr 2021 im Monat des Ramadans: Es kam an hunderten Orten im ganzen Land zu einer Reihe gewalttätiger Aktionen von israelischen Arabern. Hunderte wurden verletzt, Juden und Araber getötet. All das parallel neben massivem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, danach kam es zu einer weiteren Operation „Wächter der Mauern“, um militärisches Arsenal der Hamas zu zerstören. In den gemischten Städten, wie in Jaffa, Haifa, Akko, Lod, in denen die Menschen unterschiedlicher Religionen in unmittelbarer Nachbarschaft leben, warfen arabische Einwohner Molotowcocktails auf Juden, wurden die Straßen blockiert und Juden gelyncht. Meine Freundin, die in Jaffa lebt, hatte Angst, das Haus zu verlassen. Ihr Kind besuchte in Jaffa damals eine zweisprachige Schule, Arabisch-Hebräisch. Solche Schulen streben danach, Menschen, Meinungen, Kulturen und Religionen zu verbinden, um damit Verständnis und Frieden zu bringen. Zur Schule ging das Kind aber nicht, da der Weg dorthin zu gefährlich wurde.

Ich schaue auf mein Kind, das neben mir schläft, und denke mir, wie viel Güte, Kraft und Vernunft die Kinder in die entfremdete und böse Welt der Erwachsenen mitbringen.

Ich entschuldige mich für das Abschweifen vom Thema, aber ich frage mich, wie die Europäer reagieren würden, wenn die Einwanderer, die nach Deutschland kommen, so gegen sie rebellieren würden. Wenn ihre arabischen Nachbarn ihnen Schaden zufügen wollten. Ich erinnere mich an die übertriebene und unverhältnismäßige Reaktion der Polizei in Berlin auf die Ereignisse vom 1. Mai gegen junge Linke. Ich war dort und es tat weh. Offenbar kann das Land sich noch nicht vorstellen, was in viel extremeren Situationen passiert, denn dann hätten sie vielleicht die Mittel zur Auflösung von Demonstrationen der Linken gemildert

Nun stellen Sie sich das Gefühl einfach auf menschlicher Ebene vor;
stellen Sie sich vor, daß Ihr Nachbar, dem Sie Zucker oder ein Glas Milch gebracht haben, Sie hinrichtet. Die Gedanken wandern zum Holocaust. Und trotzdem, weg über den Holocaust. Über diesen möchte ich gerade in diesem Kontext nicht reden, finde ich doch die gegenwärtigen Geschehnisse in einer Art und Weise etwas anders. Den Menschen in den Kibbuzim wurden im voraus die Chance genommen, den Feind mit gutem Herzen zu einem Freund zu machen. Sie haben die bösen Stimmen ignoriert. Die Politik, die Schwierigkeiten, und das Risiko es in nur 7 Sekunden zum Sicherheitsraum zu schaffen. Sie haben ihre Häuser in der Nähe der Grenze gebaut, weil sie an Frieden geglaubt haben. Somit öffneten sie Türen für die Menschen aus dem Gazastreifen. Und zwar am 7. Oktober war es für sie anders geplant. Die Terroristen kamen mit Karten und Namen, sie wussten schon wer wohnt wo, und wie viele Kindern sie haben. Denn einige von ihnen arbeiteten 30 Jahre lang in den Kibbuzim. Jahrelang aßen sie in den Häusern, in denen sie nun ihre Bewohner geschlachtet haben.

Vielleicht werden noch mehr arabische Länder Israel angreifen. Im Moment laufen so viele schlechte Optionen in meinem Kopf. Und wir haben keinen Ausweg. Wir müssen mit allem klar kommen, was passiert. Bei Raketenbeschuss gehen wir einfach in den Bunker. Ich hoffe, wir schaffen es in anderthalb Minuten fünf Stockwerke hinunter. Ich denke mir schon. Verdammt, Ich muss es irgendwie schaffen!

Ich muss wahrscheinlich eingeschlafen sein, denn es war schon Morgen, als die Angst wieder spürbar war. Vielleicht war es alles nur ein schlechter Traum? Ich habe den Fernseher eingeschaltet. Sie haben bereits von tausenden Verletzten, über 1000 Ermordeten, hunderten Entführten in den Gazastreifen und vielen Vermissten gesprochen. Obwohl die Armee die Siedlungen übernommen hat, wird das Bild allmählich klarer. Das schwarze, schreckliche Bild dessen, was passiert ist und immer noch weiter passiert.