Yulis Tagebuch, Folge 50


Der Schrei

In Israel werden die Tage seit Kriegsbeginn öffentlich gezählt, heute ist Tag 338. Jedes TV-Magazin, alle TV-Nachrichtenprogramme, jedwede Pressemitteilung, an jedem Morgen, an jedem Abend zählen wir. Unser gesamtes Leben ist um den 7. Oktober 2023 zentriert. Tatsächlich sind elf Monate seither vergangen, aber nichts hat sich wirklich geändert oder gar verbessert. 

Die Zerstörung geht weiter, endlose Todesfälle, Verwundete an Leib und Seele, die Luftverschmutzung. Familien, die auseinanderbrechen, denn der Verlust hat sie getrennt, der wirtschaftliche Zustand oder ein anderes Trauma stehen im Raum. Und es gibt diejenigen, die gebrochen am Rand stehen, es nicht schaffen, die Umstände zu ändern, die Realität zu verbessern. Und ich gehöre zu ihnen.

Selbst unser alltägliches Leben ist schwer geworden. Alles wird teurer, selbst der Preis von israelischen Tomaten steigt und steigt. Immer mehr Israelis verlassen das Land mit ihren Kindern, weil ihnen entweder die mentale Stärke oder die finanziellen Mittel fehlen, um hier zu leben, oder weil ihnen insgesamt das Gefühl der Freude fehlt.

Andererseits ist die Hamas immer noch aktiv und bewaffnet. Der Antisemitismus nimmt rasant zu, der Hass gegen Israel ist in allen Bereichen zu spüren. Wenn uns dieser ganze Krieg nicht an einen besseren Ort bringt, können wir ehrlich sagen, daß die Situation in Israel viel schlimmer ist als vor dem 7. Oktober. Auf den israelischen Straße haben wir noch nie so viele junge Amputierte gesehen, sie sind hier bereits Teil der Landschaft geworden. Und die Kinder sind neugierig und fragen: Warum hat er keine Beine? Warum hat er keine Hände?

Und es fällt schwer, vor der Wahrheit weglaufen zu wollen und so erklären wir … Was?!

Außerdem ist es das Mindeste, was wir diesen jungen Menschen schuldig sind, sie als Helden darzustellen. Sie wurden dorthin geschickt, um uns zu beschützen. Und wieder wurden heute Nacht 50 Raketen auf den Norden abgefeuert, auch auf Siedlungen, die nicht evakuiert wurden. Und die ständige Besorgnis, die Drohungen aus dem Iran, von der Hisbollah, aus dem Westjordanland … 

In der Zwischenzeit handelt die Hamas nach Plan, ganz, wie sie es in einem Dokument festlegt, das vor ein paar Tagen in der BILD-Zeitung veröffentlicht wurde. 

Die Hamas will „weiterhin psychologischen Druck auf die Familien der Gefangenen ausüben, sowohl jetzt als auch in der ersten Phase, damit der öffentliche Druck auf die Regierung des Feindes zunimmt.“

Zweifellos löste die Hinrichtung von sechs Entführten durch Kopfschüsse einen gewaltigen Ruf nach einem Abkommen und die Freilassung der Entführten aus – die Lebenden und die Toten. Ein Ruf, der im ganzen Land widerhallte. Millionen gehen auf die Straße, um zu protestieren, und jetzt mehr Menschen als je zuvor. Diejenigen, wie Adina Moshe, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, sind immer noch traumatisiert und leiden am Gefühl der Verlassenheit mehr als jeder andere. Nur sie können verstehen, was dort wirklich vor sich geht. Adina Moshe steigt bei Demonstrationen auf die Bühne und fordert mit schwacher Stimme auf, „sie rauszuholen, denn die bringen alle um“.

Deborah Leshem, Romi Gonens Großmutter, sitzt heute Morgen im Fernsehstudio und sagt: „Romi sollte im Mai zurückkehren, aber plötzlich wurde die Philadelphi-Passage zum Streitpunkt. Wie ist es passiert? Warum finden sie immer etwas, was das Abkommen verzögert? Bringt die Entführten sofort zurück. Opfern Sie nicht noch mehr Soldaten, um nach ihnen zu suchen, denn die Hamas wird die Soldaten und Entführten töten, sobald die IDF in ihrer Nähe ist. Nur durch ein Abkommen werden wir sie lebendig zurückholen. Sie können keine Leben mehr opfern, das können wir nicht.“ 

Jedoch, und es fällt mir schwer das zu sagen, glaube ich nicht, daß ihnen, Deborah oder Adina, jemand da oben Gehör schenken wird. Leider. Hochrangige Beamte in Geheimdienstkorps reagierten gestern Abend auf die Veröffentlichung des Dokuments der Hamas in der BILD-Zeitung und sagten: „Wir haben versucht, darauf hinzuweisen, dass das Dokument, wie viele andere Dokumente auch, nicht die Bedeutung erhält, die es verdient.

Das Dokument wurde vom Geheimdienstpersonal nicht bearbeitet und verbleibt im Rohzustand, vergraben in den Tiefen der Festplatten der betreffenden Einheit. Es gelangte weder an die Spitze der Kette noch zu Nitzan Alons Team, das die Verhandlungen leitet, und daher wird es im Kabinett nicht in den Foren diskutiert, die sich mit dem Abkommen befassen.“

Ja, so ist es leider hier wieder passiert. Genauso wie die Warnungen vor einem 7. Oktober, jene wurde sogar in einem Dokument ein Jahr zuvor bei der Gaza-Division detailliert veröffentlicht. Dann hörten die Beamten nicht auf diejenigen, die warnten. Und jetzt noch einmal. Der Schrei fand nicht zu diesen Menschen, er verhallte ungehört.

Der Schrei nach Edvard Munch, ART-BART